VG Dresden

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Zitieren als:
VG Dresden, Urteil vom 01.02.2005 - A 7 K 31131/03 - asyl.net: M6235
https://www.asyl.net/rsdb/M6235
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für Frau, die in Afghanistan außerehelich sexuell missbraucht wurde und deren Schwester mit einem Deutschen verheiratet ist; keine hinreichende Sicherheit vor erneuter geschlechtsspezifischer Verfolgung; keine inländische Fluchtalternative.

 

Schlagwörter: Afghanistan, Tadschiken, Flüchtlingsfrauen, Lehrer, Alleinstehende Frauen, Geschlechtsspezifische Verfolgung, Außerehelicher Geschlechtsverkehr, Sexueller Missbrauch, Glaubwürdigkeit, Posttraumatische Belastungsstörung, Psychische Erkrankung, Interne Fluchtalternative, Situation bei Rückkehr, Abschiebungshindernis, Suizidgefahr, westliche Orientierung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Flüchtlingsanerkennung für Frau, die in Afghanistan außerehelich sexuell missbraucht wurde und deren Schwester mit einem Deutschen verheiratet ist; keine hinreichende Sicherheit vor erneuter geschlechtsspezifischer Verfolgung; keine inländische Fluchtalternative.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Der Abschiebung der Klägerin steht ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG entgegen. Danach kann die Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe auch dann vorliegen, wenn die Bedrohung des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit oder der Freiheit allein an das Geschlecht anknüpft. Dass eine auf das Geschlecht bzw. auf die geschlechtliche Orientierung bezogene Bestrafung und Misshandlung im Einzelfall politische Verfolgung darstellen kann, ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts geklärt (vgl. BVerwG, Urt. v. 15.3.1988 - 9 C 278/86, BVerwGE 79, 143 - hier zur homosexuellen Prägung -; Urt. v. 6.3.1990 9 C 14/89, BVerwGE 85, 12 und Urt. v. 8.9.1992 - 9 C 8/91, BVerwGE 90, 364 - jeweils Zwangsentführungen und Zwangsverheiratungen christlicher Frauen durch Moslems in der Türkei betreffen; Urt. v. 6.8.1996 - 9 C172/95, BVerwGE 101, 328 - geschlechtsspezifische Verfolgung im Rahmen sog. ethnischer Säuberungen in Bosnien). Das VG Frankfurt (vgl. Urt. v. 25.2.2004 - 5 E 7021/03.A - InfAuslR 2004, S. 458) hat die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer geschlechtsspezifischen Verfolgung für Afghanistan im Falle einer unverheirateten Mutter zweier nichtehelicher Kinder bejaht.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschl. v. 10.7.1989, BVerfGE Bd. 80 S. 315, 353 ff.) bilden Verfolgungsmaßnahmen, die nicht mit einer Gefahr unmittelbar für Leib und Leben oder Beschränkungen der persönlichen Freiheit verbunden sind, nur dann einen asylreleyanten Verfolgungstatbestand, wenn sie nach Intensität und Schwere die Menschenwürde verletzen und über das hinausgehen, was die Bewohner des Verfolgerstaates auf Grund des dort herrschenden Systems allgemein hinzunehmen haben. Daraus folgt, dass die asylrechtliche Beurteilung einer fremden Rechtsordnung nicht (allein) am weltanschaulichen Toleranz- und Neutralitätsgebot des Grundgesetzes gemessen werden kann, denn das Asylrecht hat nicht die Aufgabe, die Grundrechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland in anderen Staaten durchzusetzen (BVerwG, Urt. v. 18.2.1986, BVerwGE Bd. 74 S. 31, 37). Dies ist insbesondere in islamischen Ländern, wie Afghanistan, zu beachten, deren Recht durch die Scharia mitgeprägt ist und in denen Frauen traditionell in vielen Bereichen benachteiligt werden.

Hieran gemessen lassen sich der Auskunftslage zwar derzeit keine ausreichenden Anhaltspunkte für eine generelle - landesweite - Verfolgung von Frauen in Afghanistan entnehmen, auch wenn die Situation der Frauen zum Teil noch sehr kritisch beurteilt wird. Doch ist von einer landesweiten Verfolgung von nicht verheirateten Frauen, die außerehelich sexuell missbraucht wurden, auszugehen. Verstärkt wird diese Verfolgungsgefahr im Falle der Klägerin dadurch, das sie illegal als Lehrerin gearbeitet hat und dass die Schwester der K!ägerin mit einem Deutschen verheiratet ist.

Das Auswärtige Amt weist in seinem Lagebericht vom 3. November 2004 (S. 25) darauf hin, dass die von den Taliban gegen Frauen erlassenen Verbote betreffend Freizügigkeit und Ausbildung sowie Arbeitsmöglichkeiten zwar formal nicht mehr in Kraft seien, sich gleichwohl aber bisher nur begrenzte Verbesserungen ergeben hätten. Dies liege u.a. an der weiterhin strengen Ausrichtung an Traditionen, fehlender Schulbildung sowie an den für viele unsicheren Zukunftsperspektiven. Die Menschenrechtslage afghanischer Frauen sei bereits vor dem Taliban-Regime durch häufig orthodoxe Scharia-Auslegungen und archaisch-patriarchalische Ehrenkodizes geprägt gewesen. Insbesondere die unbefriedigende Sicherheitslage erlaube es Frauen in weiten Landesteilen nicht, die mit Überwindung der Taliban und ihren Frauen verachtenden Vorschriften zu erwartenden Freiheiten wahrzunehmen. Staat und Zivilgesellschaft befänden sich in den Anfängen des (Wieder-)Aufbaus. Staatliche Akteure aller drei Gewalten seien häufig nicht in der Lage - oder aufgrund konservativer Wertvorstellungen nicht gewillt - Frauenrechte zu schützen.

Zur Situation allein stehender Frauen zeigt die aktuelle Auskunftslage im Übrigen folgendes Bild: Das Deutsche Orient-Institut kommt in seinem Gutachten vom 23.9.2004 an das Sächsische Oberverwaltungsgericht zum dortigen Az. A 1 B 4411/98 zu dem Ergebnis, dass alleinstehende Frauen, zumal junge Frauen, in Afghanistan nicht einfach ohne "männlichen Begleitschutz" leben könnten. Dies gelte auch für Kabul. Im Gutachten vom 24.7.2004 an das Sächsische Oberverwaltungsgericht zum dortigen Az. 1 B 4411/98 führt Dr. Mustafa Danesh hierzu aus, dass eine allein stehende Frau von der afghanischen Männergesellschaft als Bedrohung empfunden und nicht toleriert werde. Frauen hätten als eigenständige Wesen grundsätzlich keine Existenzberechtigung und müssten nach den Vorstellungen der Gesellschaft schnell in die traditionellen Strukturen integriert werden. Hinzu komme, dass Rückkehrerinnen aus westlichen Ländern unter besonderen Repressalien zu leiden hätten. Sie gälten als "Gottlose" und "Sünderinnen" und würden häufig vergewaltigt. Zudem sei die Gefahr groß, dass Rückkehrerinnen zur Prostitution gezwungen oder sie zwangsverheiratet würden. Aufgrund der sehr eingeschränkten Arbeitsmöglichkeiten seien Frauen kaum in der Lage, sich selbst zu versorgen. Wenn sie sich nicht auf verwandtschaftliche Beziehungen stützen können, sei ihre Versorgung in lebensbedrohlichem Maße ungesichert.

Danach ist davon auszugehen, dass die Klägerin ihr Heimatland i.S. v. § 63 Abs. 1 Satz 3 AufenthG vorverfolgt verlassen hat. Die Klägerin hat sich infolge des sexuellen Missbrauchs durch ihren Onkel in einer ausweglosen Situation befunden. Sie war von ihrem Onkel abhängig. Ihr Vater hatte unter dem ehemaligen kommunistischen Regime als Direktor im Landwirtschaftsministerium gearbeitet. Nachdem die Taliban die Herrschaft übernommen hatte, musste er nach Sheberghan fliehen und war fortan arbeitslos. Daher wohnte ihre Familie beim Onkel mütterlicherseits. Als alleinstehende Frau wäre es ihr unmöglich gewesen, sich von ihrer Familie zu lösen, alleine zu leben und sich somit dem sexuellen Missbrauch zu entziehen. Hätte sie ihren Eltern von dem sexuellen Missbrauch berichtet, hätte sie befürchten müssen, selber bestraft und eventuell gesteinigt zu werden, zumal da ihre Eltern ihr die Behauptung, sie sei missbraucht worden, vermutlich nicht abgenommen hätten, da sie wegen psychischen Schwierigkeiten medikamentös behandelt wurde. Im Übrigen wäre es für sie nach den vorliegenden Erkenntnismitteln auch aussichtslos gewesen, sich an die Justiz zu wenden. Dass sie sexuell missbraucht wurde, hat die Klägerin in der Anhörung im Anerkennungsverfahren zwar noch nicht vorgebracht. Gleichwohl handelt es sich nicht um ein sog. gesteigertes und infolge dessen unglaubwürdiges Vorbringen. Die Gründe für die späte Erwähnung ihrer Erlebnisse sind für das Gericht nachvollziehbar. Der Berichterstatter wurde durch die attestierende Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie des Sozialpsychiatrischen Dienstes der Landeshauptstadt Dresden West in einem Gespräch fernmündlich darauf hingewiesen, dass die Klägerin in der mündlichen Verhandlung möglicherweise weitere Gründe, die Ursache für die posttraumatischen Belastungsstörung und für ihre Flucht seien, benennen würde, wenn sichergestellt sei, dass ihr Vorbringen nicht von einem männlichen Dolmetscher aus ihrer Kultur übersetzt werde. Ihr seien weitere Gründe bekannt, die sie aber nicht äußern könne. Sie sei insoweit nicht von ihrer Schweigepflicht entbunden und könne dem Gericht nur empfehlen, ggf. die Schwester der Klägerin, die über gute Deutschkenntnisse verfüge, als Zeugin einzuvernehmen um den Sachverhalt auf diese Weise weiter aufzuklären. In der mündlichen Verhandlung erklärte die Klägerin, dass sie sich wegen der Tradition in ihrem Heimatland und wegen ihrer Erlebnisse niemals in Gegenwart eines Mannes aus Afghanistan öffnen und von ihrem Missbrauch berichten könne. Nach den angeführten Erkenntnismitteln ist die Klägerin im Falle ihrer Rückkehr als alleinstehende junge Frau sehr gefährdet, erneut missbraucht zu werden. Jedenfalls besteht diese Gefahr, wenn sie sich erneut in die Obhut ihrer Familie begibt. Als alleinstehende Frau hat sie in der Provinz Shebergan keine Möglichkeit, ihrer Familie fern zu bleiben und alleine zu leben. Was die Annahme einer Vorverfolgung der Klägerin anbelangt, kommt hinzu, dass sie zu Zeiten der Talibanherrschaft illegal Kinder unterrichtet hat. Sie hat aufgrund des damals bestehenden Arbeitsverbotes für Frauen damit rechnen müssen, vom talibanischen Regime bestraft zu werden. Als die Taliban erschienen und nach ihr gesucht haben, haben sie in der Wohnung ihres Onkels, bei dem ihre Familie gewohnt habe, ein Video und Fotografien über die Hochzeit der Schwester vorgefunden. Darauf hin haben sie den Vater der Klägerin verschleppt. Das Gericht hält dieses Vorbringen ungeachtet der zeitlichen Widersprüche und Ungenauigkeiten, die der Niederschrift der Anhörung im Anerkennungsverfahren insoweit enthalten sind, für glaubhaft. Die Ungenauigkeiten beruhen aller Wahrscheinlichkeit nach auf den attestierten posttraumatischen Belastungsstörungen infolge des glaubhaft geschilderten sexuellen Missbrauchs, denen die Klägerin zum Zeitpunkt der Anhörung ausgesetzt gewesen sein dürfte.

Der Klägerin steht in Afghanistan keine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung. Sie kann nicht auf Kabul und schon gar nicht auf andere Landesteile als innerstaatliche Fuchtalternative verwiesen werden.

Des Weiteren hat die Klägerin einen Anspruch auf die Feststellung, dass in ihrer Person ein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 AufenthG vorliegt. Nach § 60 Abs. 7 AufenthG soll von der soll von der Abschiebung in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Dies ist hier der Fall. Das Gericht ist schon wegen des von der Klägerin geschilderten sexuellen Missbrauchs, aber vor allem aufgrund des Attestes des Sozialpsychiatrischen Dienstes des Landeshauptstadt Dresden vom 7.1.2005 und seiner ergänzenden Stellungnahme vom 28.1.2005 zu der Überzeugung gelangt, dass die Klägerin an einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet und dass die Klägerin im Falle ihrer Rückführung in die immer noch Frauen verachtende Gesellschaft Afghanistans in hohem Maße suizidgefährdet wäre. Im Übrigen attestiert die ausstellende Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie der Klägerin bei einem Verbleib in der Bundesrepublik Deutschland und bei einer kontinuierlichen fachkundigen Behandlung Heilungschancen.