VG Regensburg

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Zitieren als:
VG Regensburg, Urteil vom 17.01.2005 - RN 3 K 04.30549 - asyl.net: M6175
https://www.asyl.net/rsdb/M6175
Leitsatz:
Schlagwörter: Irak, Araber, Mandäer, Christen, Flüchtlingsanerkennung, Widerruf, Gesetzesänderung, Verfolgungsbegriff, Mittelbare Verfolgung, Verfolgung durch Dritte, Entscheidungszeitpunkt, Gruppenverfolgung, Religiös motivierte Verfolgung, Verfolgungsdichte, Nordirak, Interne Fluchtalternative, Nichtstaatliche Verfolgung
Normen: AsylVfG § 73; AuslG § 51 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1 S. 4 Bst. c
Auszüge:

Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (jetzt: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) vom 12. Juli 2004 ist nach der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylVfG) rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten. Der streitgegenständliche Widerruf der mit Bescheid vom 21. Februar 2000 getroffenen Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 51 Abs. 1 AuslG und von Abschiebungshindernissen nach § 53 Abs. 4 AuslG findet in § 73 AsylVfG keine Rechtsgrundlage mehr, weil zum 1. Januar 2005 die §§ 51 und 53 AuslG durch § 60 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) ersetzt wurden. Nach § 60 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz darf in Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBI 1953 II S. 559) ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Ausländer, die im Bundesgebiet die Rechtstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebietes als ausländische Flüchtlinge im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch dann vorliegen, wenn die Bedrohung des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit oder der Freiheit allein an das Geschlecht anknüpft.

Eine Verfolgung im Sinne des Satzes 1 kann ausgehen von

a) dem Staat,

b) Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebietes beherrschen oder

c) nichtstaatlichen Akteuren, sofern die unter den Buchstaben a) und b) genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht, es sei denn, es besteht eine innerstaatliche Fluchtalternative.

Diese neue Rechtslage ist nach § 77 Abs. 2 AsylVfG bei Anfechtungsklagen gegen vor In-Kraft-Treten des Aufenthaltsgesetzes ergangenen Bundesamtsentscheidungen anzuwenden.

Dies stellt auch § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG klar.

Nachdem durch § 60 Abs. 1 AufenthG der frühere § 51 Abs. 1 AuslG ersetzt wurde, ist vom Gericht in einer Anfechtungsklage gegen Widerrufsentscheidungen, die unter Geltung des früheren Rechts ergangen sind, zu prüfen, ob nach der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG nicht mehr Vorliegen.

Die Kläger sind Mandäer/Sabäer aus dem Irak. Bei Mandäern im Irak liegen aber die Voraussetzungen einer nichtstaatlichen Verfolgung nach § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c) AufenthG vor.

Aufgrund der ihm vorliegenden Erkenntnisquellen stellt sich für das Gericht die Situation im Irak für Christen und Mandäer/Sabäer wie folgt dar:...

Unter Gewichtung und Abwägung all dieser Umstände ist das Gericht zu der Überzeugung gelangt, dass zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung eine Verfolgung der Kläger im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c AufenthG durch nichtstaatliche Akteure bei einer Rückkehr in den Irak bereits deshalb anzunehmen ist, weil die Kläger der mandäisch/sabäischen Minderheit des Landes angehören. Die von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aufgestellten Voraussetzungen für eine Gruppenverfolgung sind - abgesehen von einer staatlichen Verfolgung - zu bejahen.

Unter Berücksichtigung dieser Rechtsprechung und der derzeitigen Lage im Irak haben die nach dem Regimewechsel im Irak bereits aufgetretenen Angriffe und Diskriminierungen der Christen und Mandäer im Irak die für eine Gruppenverfolgung erforderliche Verfolgungsdichte erreicht. So kommt es seit Mai 2003 nicht nur immer wieder zu Übergriffen gegen Alkoholläden und auf deren zumeist christliche Besitzer. Christen sind auch überdurchschnittlich Opfer von Entführungen und Erpressungen. Sie sind auch bevorzugtes Angriffsziel von Extremisten oft in Verbindung mit dem Vorwurf der Kollaboration mit den Besatzungstruppen. Bei der Religionsausübung in Kirchen müssen Christen mit Terroranschlägen rechnen. Schließlich sind in der letzten Vergangenheit bis zu 30.000 Christen aus dem Irak geflohen. Im Vergleich dazu sind die Mandäer sogar noch gefährdeter. Die Mandäer werden von islamischen Kreisen als eine Religionsgemeinschaft verstanden, die anders als zum Beispiel die Christen nicht durch den Islam geduldet ist. Sie werden daher als Heiden angesehen, gegen die Gewalt und Entführung - teilweise mit dem Ziel der Zwangsbekehrung - legitim ist. Die Verfolgung knüpft aber nicht nur am Merkmal der Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft der Mandäer an, sondern Mandäer, die oft Goldschmiede sind, werden auch nur deshalb häufig Opfer von Erpressungen, weil sie der reicheren Gesellschaft des Iraks angehören. Die Verfolgung knüpft also häufig nicht an ein bestimmtes Verhalten oder Anlass an. Dadurch wird für den Einzelnen die Gefahr um so größer und - hinsichtlich ihrer Aktualität - unkalkulierbarer, weil sie ausschließlich an kollektive, dem Einzelnen unverfügbare Merkmale anknüpft. Erpressungen, Geiselnahmen und Anschläge auf Mandäer kommen in der letzten Zeit sehr häufig vor. Hinzu kommt auch eine hohe Dunkelziffer, weil Anzeigen wegen der Ineffizienz der Polizei nicht gemacht werden. Allgemein leben Mandäer im Irak in einem Klima zunehmender gesellschaftlicher Verachtung, das Verfolgungshandlungen in den Augen der Verfolger rechtfertigt oder doch tatsächlich begünstigt. Insgesamt sind somit die Voraussetzungen einer Gruppenverfolgung der Mandäer im Irak gegeben. Tatsachen, die die Regelvermutung im Falle der Kläger widerlegen könnten, sind nicht vorhanden.

Es handelt sich hier um keine staatliche oder dem Staat zurechenbare Verfolgung, sondern um eine Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchstabe c).

Der derzeitige irakische Staat einschließlich internationaler Organisationen sind auch erwiesenermaßen nicht in der Lage, Schutz vor der Verfolgung zu bieten. Dies gilt nach § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.

Es besteht im Irak für Mandäer auch keine innerstaatliche Fluchtalternative. Die Kläger kommen nicht aus dem kurdisch verwalteten Nordirak. Deshalb kann nicht davon ausgegangen werden, dass er dort Zuflucht finden kann.