VG Lüneburg

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Zitieren als:
VG Lüneburg, Beschluss vom 11.01.2005 - 1 B 76/04 - asyl.net: M6038
https://www.asyl.net/rsdb/M6038
Leitsatz:
Schlagwörter: Vietnam, Buddhisten, Flüchtlingsfrauen, Diskriminierung, Häusliche Gewalt, Misshandlungen, Schutzbereitschaft, Religiös motivierte Verfolgung, offensichtlich unbegründet, Vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Zulässigkeit, Wochenfrist, Rechtsmittelbelehrung, Jahresfrist, Suspensiveffekt
Normen: AsylVfG § 36 Abs. 3 S. 2; VwGO § 58 Abs. 2; VwGO § 80 Abs. 5; AsylVfG § 36 Abs. 4; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Die Erfolgsaussichten des gestellten Antrages in der Sache und zugleich die genannten Zweifel sind hier deshalb anzunehmen, weil bei summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG (Art. 1 des Zuwanderungsgesetzes v. 30.7.2004 / BGBl. I S. 1950) nicht von der Hand zu weisen ist.

Für die Frage, ob staatliche Maßnahmen auf die "politische Einstellung des Betroffenen" abzielen und sich als Bedrohung darstellen, kommt es auf die "Gesamtverhältnisse im Herkunftsland" an sowie auf dortige Veränderungen. Diese können die (bloße) Wahrscheinlichkeit einer Bedrohung iSv § 60 Abs. 1 AufenthG nahe legen (vgl. BVerwG, InfAuslR 1994, S. 286 / S. 288). Somit ist eine Bedrohungslage unter Berücksichtigung der Genfer Konvention (§ 60 Abs. 5 AufenthG) einschließlich der EMRK sowie der Richtlinie 2004/83/EG des Rates v. 29.4.2004 (über Mindestnormen) - Amtsblatt der EU v. 30.9.04 - L 304/12 ff. - im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG schon bei einer Gesamtschau (Funke-Kaiser, GK-AsylVfG, Loseblattsammlung Bd. 2 / Std. Sept. 2000, § 71 Rdn. 88) mit hieraus ableitbarer Änderung der "Gesamtverhältnisse im Herkunftsland", aber auch bei einer Veränderung der Lebensbedingungen und der behördlichen Reaktionen auf politisches Engagement gegeben (Art. 4 Abs. 3 a der gen. Richtlinie 2004/83/EG; VG Gießen, NVwZ 1997, Beilage Nr. 9, S. 69 f). Insoweit ist heute - Anfang 2005 - zu berücksichtigen, dass sich Vietnam schon im Jahre 2003 "als eines der repressivsten Regime in Asien" erwiesen hat (so D. Klein in "Aus Politik und Zeitgeschehen", hrsg. v. d. Bundeszentrale für politische Bildung, B 21-22/2004, S. 5).

Dabei hat auch Gewicht, dass "formaldemokratische Strukturen oder Institutionen... noch keine Garantie dafür sind, dass das Handeln von Staat und Regierung auch dem Recht folgt" (so D. Klein, Aus Politik und Zeitgeschehen, S. 3). Die formale Garantie der Rechte von Frauen "in Gesetz und Verfassung" (S. 6 d. Bescheides) belegt somit gar nichts.

Darauf, dass die Antragstellerin sich mit ihrer Ansicht zur Ungleichbehandlung von Frauen bislang in Vietnam nicht "oppositionell engagiert" habe (S. 3 d. Bescheides) kommt es gemäß Art. 10 Abs. 1 e) der Richtlinie 2004/83/EG nicht an. Ebenso ist irrelevant, ob die Antragstellerin "Opfer gezielter staatlicher Maßnahmen geworden ist" (S. 6 d. Bescheides): Verfolgungshandlungen iSd Genfer Konvention (§ 60 Abs. 5 AufenthG) können auch bloße Handlungen von sogen. Akteuren (Art. 6 d. gen. Richtlinie, § 60 Abs. 1 AufenthaltG) sein, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen (Art. 9 Abs. 2 f der gen. Richtlinie), aber auch diskriminierende polizeiliche und/oder justizielle Maßnahmen (Art. 9 Abs. 2 b der gen. Richtlinie), wie sie hier von der Antragstellerin bei ihrer Anhörung vorgebracht wurden (Unterlassen polizeilicher Schutzmaßnahmen bei u. nach Misshandlung).

Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Antragstellerin aus den vorgebrachten Bedrohungs- und Verfolgungsgründen Vietnam verlassen, hier um Asyl nachgesucht hat und bei einer Rückkehr iSv § 60 AufenthG bedroht ist. Jedenfalls liegt eine Aussichtslosigkeit ihrer Klage insoweit nicht schon "auf der Hand".

Dass in Vietnam nach wie vor kritische bzw. abweichende Meinungen unterdrückt und ggf. verfolgt werden, ergibt sich aus dem Jahresbericht 2004 von amnesty international (Vietnam, S. 414 ff.), wo dargestellt ist, dass unabhängigen Menschenrechtsbeobachtern der Zugang zum Land verweigert wird (S. 415 r. Spalte) und die Justiz gegen Regierungskritiker vorgeht.

Nach einer Meldung von amnesty international v. 2.1.2004 wurde Dr. Nguyen Dan Que lediglich aufgrund einer Stellungnahme zum Fehlen von Informationsfreiheit festgenommen, nachdem er 1998 aufgrund einer Amnestie frei gekommen war und sich zuvor für die Wahrung der Menschenrechte eingesetzt und deshalb in der Vergangenheit ca. 18 Jahre in vietnamesischen Gefängnissen zugebracht hatte. Für das Menschenrechtsdefizit spricht auch die Verweigerung der Einreise von langjährig im Ausland verbliebenen Vietnamesen durch vietnamesische Behörden (vgl. dazu die sog. "N-Listen" beim Nds. Landeskriminalamt und die Rückführungsschwierigkeiten bei der Grenzschutzdirektion Koblenz, Urt. des VG Lüneburg, InfAuslR 2002, 367 m.w.N.).

Die "Gesamtverhältnisse" in Vietnam dürften sich somit deutlich verschärft haben (vgl. den ai-Jahresbericht 2004, S. 414, "Drangsalierung von Regierungskritikern" und Dr. Will, Gutachten v. 11.2.2003,: "drakonische Strafen" für regimekritische Auftritte im Internet), was der Offensichtlichkeit einer Nichtbedrohung iSv § 60 AufenthG entgegensteht (vgl. auch VG München, Urt. v. 13.8.2003 - M 17 K 03.50661 - Asylmagazin 2003, S. 30).

Die Antragstellerin könnte somit in Verbindung mit ihren Anschauungen und Grundhaltungen zur Diskriminierung von Frauen, die sie offenbar im Zusammenhang mit bzw. in ihrem Scheidungsprozess vor Gericht vertreten hat, bei einer Rückkehr nach Vietnam im Sinne von § 60 AufenthG iVm der Genfer Konvention u. der gen. Richtlinie über Mindestnormen möglicherweise bedroht sein (vgl. Gutachten Dr. Will v. 11.2.2003 / VIE 24133002; Lagebericht AA v. 1.4. 2003 unter II 7; ai-Jahresbericht 2004, aaO - im angefochtenen Bescheid nicht erwähnt und verwertet). Das ist im hier vorliegenden Eilverfahren derzeit unter dem Gesichtspunkt der Offensichtlichkeit zu Gunsten der Antragstellerin beachtlich (§ 80 Abs. 5 iVm Abs. 4 S. 3 VwGO, s.o.) - zumal unklar ist, wann durch welche Tätigkeiten im einzelnen eine asylrelevante Bedrohung iSv § 60 AufenthG konkret in Betracht zu ziehen ist: "Ohne detaillierte Kenntnis der jeweiligen Aktionen und Publikationen der Betroffenen ist der Grad der Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung nicht zu beurteilen" (so AA v. 26.2. 1999, S. 7).

Das Verhalten der Antragstellerin auf der Grundlage ihrer Anschauungen und Überzeugungen (Art. 10 Abs. 1 e der Richtlinie) könnte in Vietnam zumindest als "Frechheit" angesehen werden, der mit Gegenmaßnahmen, Gewalt und Einschüchterung zu begegnen sei (so der Sachverständige Dr. Will v. 14.9. 2000): Allein das "Lesen" regierungskritischer Zeitungen kann schon Verfolgungsmaßnahmen nach sich ziehen (IGFM Januar 1997, S. 23; Lagebericht des AA v. 1.4.2003). Auf eine "breite Öffentlichkeitswirkung" kommt es wegen der permanenten territorialen Gesinnungskontrolle in Vietnam nicht an. Aktive und überzeugte Gegner des Sozialismus und des Alleinherrschaftsanspruchs der KP sind stets gefährdet. Das Schmuggeln von Flugblättern mit antikommunistischen Inhalten reicht daher für Verurteilungen aus (so ai-Jahresbericht 2002, S. 604).

Der Sachverständige Dr. Will hält demgemäss an seiner schon früher geäußerten Auffassung fest, dass Rückkehrer nach öffentlicher Kritik am vietnamesischen Regierungssystem in aller Regel auch mit Verfolgung rechnen müssen (vgl. Dr. Will im Gutachten v. 11.2.2003; vgl. auch Dr. Will v. 14.9.2000, S. 1). Auch der Sachverständige Dr. Weggel (Stellungn. v. 10.8.2003 an VG Darmstadt) ist der Ansicht, dass eine Oppositionshaltung, die "irgendwo im fernen Ausland" offenbart worden sei, u.a. dann in Vietnam doch verfolgungsrelevant werden könnte, wenn "Publikationen aus dem Umfeld des Innenministeriums.... Witterung bei bestimmten Personen aufgenommen und sich auf sie eingeschossen" hätten.

Eine Bedrohung der buddhistischen Antragstellerin (Bl. 26 VerwV) ist auch aus Strafvorschriften ableitbar, die Aktivitäten von Religionsgemeinschaften stark beschränken (Art. 81 c vietn StGB /Zwietracht - und Art. 199 vietnStGB /abergläubische Praktiken - ; vgl. VG Meiningen, B. v. 18.6.2002 - 2 E 20341/02.Me -). Sämtliche kirchlichen Aktivitäten, vor allem soziale, unterliegen in Vietnam inzwischen einer Registrierungspflicht und bedürfen einer gesonderten Genehmigung (AA an VG Darmstadt v. 18.2. 2002). Denn die sozialen Probleme haben zugenommen, so dass Christianisierungstendenzen feststellbar sind (u.a., vgl. Lagebericht AA v. 9.7.2001, S. 6 unten).

Nach einer Pressemitteilung der IGFM v. 13.12.2001 sind im Jahre 2001 alle bedeutenden Persönlichkeiten der verschiedenen Religionsgemeinschaften in Vietnam inhaftiert oder unter Hausarrest gestellt worden. Versammlungen seien von der Volkspolizei und der Armee "brutal aufgelöst" worden. Aus Protest haben sich im Jahre 2001 zwei Buddhisten selbst verbrannt, weitere Selbstverbrennungen sind damals angekündigt worden. Nach einer IGFM-Pressemitteilung v. 18.7.2001 häufen sich die Berichte aus Vietnam über Misshandlungen, Schikanen und Folter der Behörden gegenüber Gläubigen. Schüler eines Pfarrers seien "bereits mehrmals verhaftet, zusammengeschlagen und gefoltert" worden, "um falsche Geständnisse zu erpressen".

Eine Gesamtschau der Veränderungen in Vietnam belegt für den Fall der Abschiebung das Risiko einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung der Antragstellerin, so dass eine Bedrohung wegen ihres buddhistischen Glaubens nicht ausgeschlossen ist (vgl. VG Meiningen, Beschl. v. 18.6.2002 - 2 E 20341/02.Me -). Das stellt einen berücksichtigenswerten Verfolgungsgrund iSv § 60 AufenthG dar (Art. 10 Abs. 1 b der gen. Richtlinie 2004/83/EG).