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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 20.10.2004 - 1 C 15.03 - asyl.net: M5981
https://www.asyl.net/rsdb/M5981
Leitsatz:

1. Bei einer Entscheidung über das Wiederaufgreifen des Verfahrens zur Feststellung der tatbestandlichen Voraussetzungen eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 AuslG i.V.m. § 51 Abs. 5, §§ 48, 49 VwVfG ist das Ermessen zugunsten des Ausländers regelmäßig auf Null reduziert, wenn er im Zielstaat der drohenden Abschiebung einer extremen individuellen Gefahr ausgesetzt wäre.

2. Die Verwaltungsgerichte sind auch in solchen Verfahren gehalten, die Sache zulasten oder zugunsten des Ausländers so weit wie möglich spruchreif zu machen (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO), bevor sie das Bundesamt zu einer Neubescheidung verpflichten.(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Serbien und Montenegro, Kosovo, Ägypter, Folgeantrag, Wiederaufgreifen des Verfahrens, Situation bei Rückkehr, Abschiebungshindernis, Änderung der Sachlage, Sicherheitslage, Allgemeine Gefahr, Extreme Gefahrenlage, Erlasslage, Abschiebungsstopp, Psychische Erkrankung, Suizidgefahr, Medizinische Versorgung, Drei-Monats-Frist, Ermessen, Ermessensreduzierung auf Null, Spruchreife, Neubescheidung
Normen: AuslG § 53 Abs. 6 S. 1; VwVfG § 51; AsylVfG § 71 Abs. 1; AsylVfG § 77 Abs. 1; VwGO § 86 Abs. 1; VwGO § 113 Abs. 5; VwVfG § 49 Abs. 1
Auszüge:

Das Berufungsgericht hat zwar zu Recht angenommen, dass die Klägerin keinen Anspruch auf Wiederaufgreifen ihres Verfahrens zu § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG gemäß § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG hat. Die Auffassung des Berufungsgerichts zum Anspruch der Klägerin auf ermessensfehlerfreie Entscheidung des Bundesamts über ihren Wiederaufgreifensantrag nach § 51 Abs. 5 VwVfG i.V.m. §§ 48, 49 VwVfG ist dagegen nicht mit Bundesrecht vereinbar.

Die Klägerin kann nicht verlangen, dass das Bundesamt ihr bestandskräftig abgeschlossenes Verfahren zu § 53 Abs. 6 AuslG gemäß § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG wieder aufgreift und feststellt, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen eines zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 AuslG vorliegen (vgl. allgemein zum Wiederaufgreifen des Verfahrens zu § 53 AuslG das Urteil des früher mit Asylsachen befassten 9. Senats des BVerwG vom 21. März 2000 - BVerwG 9 C 41.99 - BVerwGE 111, 77 = Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 33). Soweit die Klägerin als Wiederaufgreifensgrund vorbringt, sie gehöre der Volksgruppe der Ägypter an, fehlt es schon an einer Sachlagenänderung zu ihren Gunsten (§ 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG). Denn sie macht damit allgemeine Gefahren im Kosovo im Sinne des § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG geltend, die grundsätzlich die Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 AuslG nicht rechtfertigen können. Das Berufungsgericht hat hierzu zutreffend angenommen, dass eine Einschränkung der Sperrwirkung des § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG im Wege der verfassungskonformen Auslegung ausscheidet, solange die Klägerin durch einen entsprechenden Abschiebestopp-Erlass geschützt ist und sich deshalb die Frage einer verfassungswidrigen Schutzlücke von vornherein nicht stellt (vgl. Urteil des Senats vom 12. Juli 2001 - BVerwG 1 C 2.01 - BVerwGE 114, 379 = Buchholz, a.a.O., Nr. 50).

Die Klägerin kann ein Wiederaufgreifen des Verfahrens gemäß § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG auch nicht deshalb beanspruchen, weil sich ihre Krankheit, wie sie nunmehr behauptet, im Kosovo aufgrund unzureichender Behandlungsmöglichkeiten wesentlich verschlimmern würde. Dies ergibt sich allerdings nicht schon daraus, dass das Verwaltungsgericht dieses Vorbringen der Klägerin gemäß § 74 Abs. 2 Satz 2 AsylVfG i.V.m. § 87 b Abs. 3 VwGO als verspätet zurückgewiesen hatte. Nach § 128 a Abs. 2 VwGO bleiben zwar Erklärungen und Beweismittel, die das Verwaltungsgericht zu Recht zurückgewiesen hat, auch im Berufungsverfahren ausgeschlossen. Das Berufungsgericht hat sich in seiner Berufungsentscheidung mit dem Vorbringen der Klägerin aber sachlich auseinander gesetzt, weil es ersichtlich der Auffassung war, dass das Verwaltungsgericht die Klägerin insoweit zu Unrecht präkludiert habe (vgl. den Zulassungsbeschluss vom 26. März 2001). Es kann offen bleiben, ob diese Auffassung zutreffend ist und ob die Zulassung von in erster Instanz zurückgewiesenen Erklärungen und Beweismitteln gemäß § 128 a Abs. 2 VwGO in einem Revisionsverfahren überhaupt überprüft werden kann (zu einer entsprechenden Verfahrensvorschrift der ZPO vgl. BGH, Urteil vom 21. November 1996 - IX ZR 264/95 - BGHZ 134,127 m.w.N.). Jedenfalls könnte eine Überprüfung nur auf eine Verfahrensrüge hin erfolgen, die von der Beklagten und Revisionsklägerin hier nicht erhoben worden ist.

Ein Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG scheidet aber deshalb aus, weil die Klägerin diesen Wiederaufgreifensgrund (fehlende medizinische Behandlungsmöglichkeiten ihrer Erkrankung im Kosovo) nicht substantiiert in der Drei-Monats-Frist des § 51 Abs. 3 VwVfG vorgebracht hat. Wie das Berufungsgericht zutreffend ausgeführt hat, reichte hierfür die Vorlage einer fachärztlichen Bescheinigung über psychische Störungen und Suizidgefährdung unter nicht näher begründeter Berufung auf ein Abschiebungshindernis nicht aus. Die Klägerin hätte vielmehr innerhalb der Frist vortragen müssen, dass eine wesentliche Verschlimmerung der Erkrankung wegen fehlender Behandlungsmöglichkeit im Zielstaat der Abschiebung drohe. Das hat sie nicht getan, obwohl die Probleme der medizinischen Versorgung im Kosovo nach den Feststellungen des Berufungsgerichts den Prozessbevollmächtigten der Klägerin bereits seit längerem bekannt waren. Diese Kenntnis muss sich die Klägerin zurechnen lassen (§ 173 VwGO, § 85 Abs. 2 ZPO).

Liegen die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG - wie hier - nicht vor, hat das Bundesamt gemäß § 51 Abs. 5 VwVfG i.V.m. §§ 48, 49 VwVfG nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden, ob die bestandskräftige frühere Entscheidung zu § 53 AuslG zurückgenommen oder widerrufen wird. Insoweit besteht ein Anspruch auf fehlerfreie Ermessensentscheidung. Dem steht nicht entgegen, dass § 71 Abs. 1 und 3 AsylVfG für Asylfolgeanträge die Möglichkeit einer derartigen Ermessensentscheidung ausschließt; diese Regelungen sind weder unmittelbar noch entsprechend auf erneute Anträge zu § 53 AuslG anzuwenden (vgl. nochmals Urteil des 9. Senats vom 21. März 2000 - BVerwG 9 C 41.99 - BVerwGE 111, 77 82> = Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 33 S. 50 m.w.N.). Hiervon ist auch das Berufungsgericht im Ansatz zutreffend ausgegangen. Es hat allerdings bei der weiteren Prüfung, wie die Beklagte zu Recht rügt, seine Verpflichtung zur Herbeiführung der Spruchreife nach § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO nicht hinreichend beachtet und außerdem die Voraussetzungen, unter denen das Ermessen des Bundesamts zum Wiederaufgreifen des Verfahrens zu § 53 Abs. 6 AuslG zugunsten des Ausländers auf Null reduziert ist, verkannt. Auch wenn es an einer behördlichen Ermessensentscheidung fehlt, etwa weil der Wiederaufgreifensgrund - wie im Falle der Klägerin - erst im gerichtlichen Verfahren vorgebracht wurde, ist das Gericht gehalten, die Sache nach Möglichkeit spruchreif zu machen und abschließend zu entscheiden (§ 113 Abs. 5 Satz 1, § 86 Abs. 1 VwGO, § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG; vgl. Urteil des 9. Senats des BVerwG vom 10. Februar 1998 - BVerwG 9 C 28.97 - BVerwGE 106, 171). Eine solche abschließende gerichtliche Entscheidung kommt in Betracht, wenn dem Bundesamt im Einzelfall hinsichtlich der Änderung der bestandskräftigen negativen Feststellung zu § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG kein Ermessensspielraum eröffnet ist.

Dies ist zulasten des Ausländers der Fall, wenn das Gericht feststellt, dass die geltend gemachten neuen Tatsachen die Annahme eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 AuslG nicht rechtfertigen und damit schon die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Aufhebung der vorhandenen negativen Feststellung nicht vorliegen, weil ein Verwaltungsakt gleichen Inhalts erneut erlassen werden müsste (vgl. § 49 Abs. 1 VwVfG). Das Berufungsgericht hätte daher der Frage nachgehen müssen, ob der Klägerin im Falle ihrer Ausreise oder Abschiebung in ihren Heimatstaat eine gravierende Verschlimmerung ihrer Krankheit droht und ggf. welche Möglichkeiten für sie bestehen, dort wirksame Hilfe in Anspruch zu nehmen. Hätte sich nach entsprechender Aufklärung ergeben, dass ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis insoweit nicht besteht, hätte das Berufungsgericht die Klage insgesamt abweisen müssen.

Umgekehrt ist eine abschließende gerichtliche Entscheidung zugunsten des Ausländers dann geboten, wenn ein Festhalten an der bestandskräftigen negativen Entscheidung zu § 53 AuslG zu einem schlechthin unerträglichen Ergebnis führen würde und das Ermessen der Behörde deshalb auf Null reduziert ist. Dies kommt in Betracht, wenn der Ausländer bei einer Abschiebung einer extremen individuellen Gefahrensituation - der Schwere nach vergleichbar einer extremen allgemeinen Gefahrensituation im Sinne der Rechtsprechung zu § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG - ausgesetzt würde und das Absehen von einer Abschiebung daher verfassungsrechtlich zwingend geboten ist (vgl. Urteil vom 17. Oktober 1995 - BVerwG 9 C 9.95 - BVerwGE 99,324 328>; Urteil vom 7. September 1999 - BVerwG 1 C 6.99 - Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 20; jeweils m.w.N.). Von einer solchen Ermessensreduzierung kann grundsätzlich nur bei einer Gefährdung mit dieser besonderen Intensität ausgegangen werden. Die weitergehende Auffassung des Berufungsgerichts, das behördliche Ermessen sei aus verfassungsrechtlichen Gründen (bereits dann) zugunsten des Ausländers auf Null reduziert, wenn festgestellt werde, dass in seiner Person die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG vorliegen (UA S. 13), ist so weder mit der gesetzlichen Konzeption des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG vereinbar, die die Abschiebung auch bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen in das Ermessen der Ausländerbehörde stellt, noch mit der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur verfassungskonformen Anwendung von § 53 Abs. 6 AuslG bei allgemeinen Gefahren. Das Berufungsgericht hätte deshalb ggf. auch Feststellungen dazu treffen müssen, ob die Klägerin nach einer Abschiebung einer derart extremen individuellen Gefährdung ausgesetzt wäre.

Diese Feststellungen wären nur dann entbehrlich gewesen, wenn das Berufungsgericht - wie es nach seiner Lösung offen gelassen hat - seinerseits festgestellt hätte, dass die Klägerin der Volksgruppe der Ägypter angehört und damit von der Schutzgewährung des baden-württembergischen Abschiebestopp-Erlasses erfasst wird.