VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Beschluss vom 26.11.2004 - 24 L 3473/04 - asyl.net: M5920
https://www.asyl.net/rsdb/M5920
Leitsatz:

Abschiebungsschutz bei Betreuung hilfsbedürftiger Angehöriger.(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: D (A), Türken, Duldung, Aussetzung der Abschiebung, Petition, Schutz von Ehe und Familie, Familienangehörige, Lebenshilfe, Betreuung, Beistandsgemeinschaft, Stiefmutter
Normen: VwGO § 123 Abs. 3; AuslG § 55 Abs. 2; AuslG § 53 Abs. 6; GG Art. 6; EMRK Art. 8
Auszüge:

Der sinngemäße Antrag, dem Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu untersagen, die Antragstellerin am 29. November 2004 abzuschieben, hat Erfolg.

Dies folgt zunächst allerdings nicht aus der Tatsache, dass das Petitionsverfahren der Antragstellerin noch anhängig ist. Eine Petition ist als solche grundsätzlich kein Duldungsgrund. Das Petitionsverfahren stellt insbesondere kein rechtliches Abschiebungshindernis (§ 55 Abs. 2 AuslG) dar (s. Beschlüsse des Gerichts vom 16. April 2002, 24 L 1292/02 und vom 05. Mai 2003, 24 L 1474/03 m.w.N.).

Allerdings bitten die Erlasse des Innenministeriums NRW vom 07. Januar 1997 und 28. Februar 2003 (zuletzt - 14/43.36 (allgemein) die Ausländerbehörden, während des Petitionsverfahrens grundsätzlich von einer Aufenthaltsbeendigung abzusehen, sofern nicht § 55 Abs. 4 AuslG einer weiteren Duldung entgegensteht.

Auch aus Art. 3 Abs. 1 GG auf Grund einer durch diese Erlasslage gebundenen tatsächlich ausgeübten Verwaltungspraxis folgt hier aber kein Anspruch auf Erteilung einer Duldung. Dabei kann offen bleiben, ob schon § 55 Abs. 4 AuslG entgegenstünde, ob nämlich eine rechtskräftige Entscheidung über die Zulässigkeit der Abschiebung eines Ausländers auch dann anzunehmen ist, wenn lediglich über die Rechtmäßigkeit der (asylrechtlichen) Abschiebungsandrohung entschieden worden ist (vgl. zu dieser umstrittenen Frage OVG Lüneburg, Beschluss vom 24. Juni 2003, 11 ME 207/03, NVwZ-Beilage 110/2003, S. 87 m.w.N.). Denn Art. 3 Abs. 1 GG steht der Abschiebung jedenfalls deshalb nicht entgegen, weil der Erlass vom 07. Januar 1997 vorsieht, dass im Ausnahmefall auch während eines anhängigen Petitionsverfahrens abgeschoben werden darf, wenn dies in Abstimmung mit dem Innenministerium erfolgt. Auch muß der Präsident des Landtags unterrichtet werden (Erlass vom 28. Februar 2003). Diesen Voraussetzungen dürfte hier genügt sein.

Es ist jedoch nach summarischer Prüfung überwiegend wahrscheinlich, dass ein Abschiebungshindernis nach Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 8 EMRK besteht. Die am 03. März 1985 geborene Antragstellerin ist zwar mittlerweile volljährig. Sie genießt damit nicht in demselben Maße den Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG wie ein minderjähriges Kind. Denn Art. 6 Abs. 1 GG schützt zuvörderst die Lebensgemeinschaft von Eltern und ihren minderjährigen Kindern sowie von Ehegatten. Hinsichtlich erwachsener Familienmitglieder - die nicht Ehegatten sind - entfaltet Art. 6 Abs. 1 GG in der Regel eine wesentlich schwächere Schutzwirkung. Hier ist regelmäßig davon auszugehen, dass nur eine sog. Begegnungsgemeinschaft vorliegt, die auch durch Besuchsreisen, telefonische und briefliche Kontakte aufrechterhalten werden kann.

Anders liegt es jedoch, wenn ein Familienmitglied auf die Lebenshilfe des anderen (erwachsenen) Familienmitglieds angewiesen ist und diese Hilfe sich nur in der Bundesrepublik Deutschland erbringen lässt. Dann entfaltet Art. 6 Abs. 1 GG nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aufenthaltsrechtliche Schutzwirkungen (BVerfG, Beschluss vom 18. April 1989, 2 BvR 1169/84, BVerfGE 80, 81; Kammerbeschluss vom 12. Dezember 1989, 2 BvR 377/88, NJW 1990, 895; Kammerbeschluss vom 25. Oktober 1995, 2 BvR 901/95, AuAS 1995, 266 jeweils zur Erwachsenenadoption).

Vorliegend sind nach summarischer Prüfung mit überwiegender Wahrscheinlichkeit die Stiefmutter der Antragstellerin und ihre (Halb-)geschwister auf ihre Lebenshilfe angewiesen. Zunächst greift auch im Hinblick auf diese Personen im Verhältnis zur Antragstellerin der Schutz der Familie nach Art. 6 Abs. 1, 2 GG, denn Familie ist die umfassende Gesamtheit zwischen Eltern und Kindern, auch zwischen Stiefeltern und -kindern (vgl. Jarass/Pieroth, GG, 6. Aufl., Art. 6 Rn. 4 m.N. aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts).

Die Stiefmutter der Antragstellerin ist laut amtsärztlicher Feststellung - zuletzt vom 22. September 2004 - reiseunfähig erkrankt. Aus der Reiseunfähigkeit der Stiefmutter ergibt sich, dass die Lebensgemeinschaft derzeit nur in der Bundesrepublik geführt werden kann.

Dass die Stiefmutter der Betreuung bedarf, ergibt sich implizit aus dem vorgenannten amtsärztlichen Attest vom 22. Oktober 2004, in dem es heißt, die (also erforderliche) Betreuung könne der Ehemann übernehmen. Dass jedenfalls die 1998 bis 2004 geborenen vier Halbgeschwister der Antragstellerin - ihre weiteren fünf Geschwister sind 1988 bis 1993 geboren - der Betreuung bedürfen, liegt angesichts ihres Alters auf der Hand.

Es ist auch glaubhaft gemacht, dass die Antragstellerin wesentliche Hilfeleistungen erbringt.

Die Stiefmutter und die Halbgeschwister der Antragstellerin müssen sich nach summarischer Prüfung auch nicht darauf verweisen lassen, dass die Hilfe von anderen Familienmitgliedern, namentlich dem Vater der Antragstellerin und den 16- bzw. 15jährigen Geschwistern, geleistet werden könnte. Zunächst ist schon nicht hinreichend geklärt, ob dies - unterstellt, die Betroffenen müssten sich hierauf verweisen lassen - tatsächlich möglich wäre.

Das Bundesverfassungsgericht hat ferner ausdrücklich entschieden, dass es für die aufenthaltsrechtlichen Schutzwirkungen des Art. 6 Abs. 1 GG nicht darauf ankommt, ob die von einem Familienmitglied erbrachte Lebenshilfe auch von anderen Personen erbracht werden kann. Eine Familie erfülle die Funktion einer Beistandsgemeinschaft nicht erst dann, wenn die Hilfe nur von einem bestimmten Familienmitglied, nicht dagegen auch von anderen Personen erbracht werden könne. Vielmehr entstehe eine Beistandsgemeinschaft, sobald ein Familienmitglied auf Lebenshilfe angewiesen sei und ein anderes Familienmitglied diese Hilfe tatsächlich regelmäßig erbringe (BVerfG, Kammerbeschluss vom 12. Dezember 1989, 2 BvR 377188, NJW 1990, 895; Kammerbeschluss vom 25. Oktober 1995, 2 BvR 901/95, AuAS 1995, 266).