VG Gelsenkirchen

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Zitieren als:
VG Gelsenkirchen, Urteil vom 21.07.2004 - 10a K 5337/01.A - asyl.net: M5763
https://www.asyl.net/rsdb/M5763
Leitsatz:

Drohende Genitalverstümmelung ist in Guinea politische Verfolgung.(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Guinea, Flüchtlingsfrauen, Minderjährige, Genitalverstümmelung, Genitalverstümmelung, Verfolgungsbegriff, Geschlechtsspezifische Verfolgung, Mittelbare Verfolgung, Verfolgung durch Dritte, Schutzfähigkeit, Schutzbereitschaft, Zurechenbarkeit, Interne Fluchtalternative
Normen: GG Art. 16a; AuslG § 51 Abs. 1
Auszüge:

Die Klägerin hat einen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte im Sinne von Art. 16a Abs. 1 GG, da sie politisch verfolgt wird.

Der Klägerin drohen bei der Abschiebung nach Guinea erhebliche Rechtsverletzungen in Form der Verstümmelung ihrer Genitalien. Die Eltern der Klägerin haben in der mündlichen Verhandlung glaubhaft vorgetragen, dass ihre Tochter bei einer Rückkehr nach Guinea umgehend genital beschnitten werde. Sie haben nachvollziehbar ausgeführt, Beschneidungen fänden in Guinea ganz häufig statt. Insbesondere die älteren Menschen in Guinea bestünden auf die Vornahme der Beschneidung. Im Falle der Klägerin würde die Beschneidung von deren Verwandten - und zwar von sämtlichen Großeltern der Klägerin sowie ggf. von ihren Onkels väter- und mütterlicherseits - vorgenommen. Diese Familienangehörigen wüssten, dass die in Deutschland geborene Klägerin nicht beschnitten ist.

Diese die Genitalverstümmelung betreffenden Aussagen der Eltern stehen in Einklang mit den dem Gericht vorliegenden - in wesentlichen Punkten einheitlichen - Erkenntnissen zur diesbezüglichen Lage in Guinea und stützen die Überzeugung der Kammer, dass der Klägerin die Gefahr einer Genitalverstümmelung bei einer Verbringung nach Guinea mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. So ist die Anzahl der in Guinea der Zwangsbeschneidung unterworfenen Frauen und Mädchen ausgesprochen hoch.

Die der Klägerin mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende Genitalverstümmelung stellt auch eine politische Verfolgung dar. Zunächst trifft sie die Klägerin in Anknüpfung an ein asylerhebliches Merkmal. Asylerhebliche Merkmale sind die politische Überzeugung, die religiöse Grundentscheidung sowie für den Einzelnen unverfügbare Merkmale, die sein Anderssein prägen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10 Juli 1989 - 2 BvR 502, 1000, 961/86 -, a.a.O.). Der asylerhebliche Anknüpfungspunkt für die der Klägerin drohende Genitalverstümmelung ist ihre Zugehörigkeit zu der Gruppe der Frauen und Mädchen, also das unverfügbare Merkmal des weiblichen Geschlechts. Dieses Merkmal umfasst unter anderem auch das vorliegend betroffene Recht der Klägerin, über vollständig erhaltene, unversehrte Geschlechtsorgane zu verfügen.

Hingegen kommt es im Rahmen der Bestimmung des asylerheblichen Anknüpfungspunktes nicht darauf an, ob die betroffene Asylbewerberin sich weigert, der Beschneidung unterzogen zu werden oder ob sie die Beschneidung als Tradition sogar akzeptiert (so aber: VG Aachen, Urteil vom 12. August 2003 - 2 K 1924/00.A -, Seite 9 des Urteilabdrucks; VG Freiburg, Urteil vom 05.02.2004 - A 2 K 10475/00 -, Seite 8 des Urteilabdrucks).

Ein Aufstellen eines derartigen zusätzlichen Kriteriums, an hand derer sich eine Untergruppe der durch ihre ausdrückliche Weigerung in besonderer Weise betroffenen Frauen bilden lässt, vermischt die Frage, gegen wen eine Verfolgung gerichtet ist, mit dem weiteren im Rahmen von Art. 16 a GG zu klärenden Aspekt, ob eine politisch gerichtete Ausgenzung vorliegt. Dass der Übergriff der Beschneidung subjektiv nicht von jeder Frau als Misshandlung verstanden wird, ändert nichts an der Gerichtetheit des Übergriffs.

Weiterhin stellt die drohende - an das weibliche Geschlecht der Klägerin anknüpfende - Genitalverstümmelung eine politische Verfolgung dar, durch die die Klägerin aus der staatlichen Friedensordnung ausgegrenzt wird (vgl. auch VG Berlin, Urteil vom 3. September 2003 - VG 1 X 23.03 -; VG Frankfurt, Urteil vom 29. August 2001 - 3 E 30495/98.A (2) -; VG Magdeburg, Gerichtsbescheid vom 20. Juni 1996 - 1 A 185/95 -, NVwZ-Beilage 1998, 18, 19; VG Wiesbaden, Urteil vom 27. Januar 2000 - 5 E 31472/98.A (2) -; VG Freiburg, Urteil vom 5. Februar 2004 - A 2 K 1075/00 -; VG München, Urteil vom 2.12.1998 - M 21 K 97.53552 -, NVwZ-Beilage 1 1999, 74).

Die der Klägerin drohende Genitalverstümmelung ist dem guineischen Staat gegenwärtig als mittelbare politische Verfolgung zuzurechnen, obwohl er nicht ihr Urheber ist (vgl. so auch für Guinea VG Berlin; Urteil vom 3. September 2003 - VG 1 X 23.03 -, a.a.O.; für andere afrikanische Staaten vgl. auch: VG Frankfurt a.M., Urteil vom 29. August 2001 - 3 E 30495/98.A (2) -; VG Magdeburg, Gerichtsbescheid vom 20. Juni 1996 - 1 A 185/95 -, NVwZ-Beilage 1998, 18, 19 ; VG Wiesbaden, Urteil vom 27. Januar 2000 - 5 E 31472/98.A (2) -; VG Freiburg, Urteil vom 5. Februar 2004 - A 2 K 1075/00 -).

Der guineische Staat setzt die ihm verfügbaren Mittel zur Bekämpfung der Vornahme von Genitalverstümmelungen nach Überzeugung der Kammer jedenfalls derzeit nicht zureichend und effektiv ein. Zwar ist im Einklang mit den vorliegenden Erkenntnissen nicht davon auszugehen, dass der guineische Staat die herrschende Beschneidungspraxis ausdrücklich billigt.

Dennoch zeigen die in den letzten Jahren tausendfach vorgenommenen und seitens des guineischen Staates geduldeten Menschenrechtsverletzungen in Gestalt der Genitalverstümmelungen, dass die guineische Regierung trotz des Ergreifens der zuvor aufgeführten Maßnahmen zum momentanen Zeitpunkt unwillig ist, den betroffenen Frauen und Mädchen effektiven Schutz zu gewähren. Die dargestellte Einflussnahme des guineischen Staates ist keinesfalls ausreichend, um in einer Weise auf weite Kreise der Bevölkerung Einfluss zu nehmen, die geeignet ist, sie zur ernstlichen Abstandnahme von der Beschneidungspraxis zu veranlassen. So ist nach den insoweit eindeutigen Auskünften bislang kein einziges Strafverfahren wegen der Vornahme von Genitalverstümmelungen eingeleitet worden. Faktisch bestraft der guineische Staat also weder die Täter, noch schützt er die Opfer.

Angesichts der vorliegenden Auskünfte droht der Klägerin die Beschneidung in Guinea landesweit.