VG Göttingen

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Zitieren als:
VG Göttingen, Urteil vom 29.09.2004 - 2 A 42/04 - asyl.net: M5711
https://www.asyl.net/rsdb/M5711
Leitsatz:

Widerruf wegen Änderung der Sachlage nach Sturz des Baath-Regimes auch bei ursprünglich rechtswidriger Anerkennung (im Anschluss an BVerwG, Urteil vom 19.9.2000 - 9 C 12.00 - ASYLMAGAZIN 1–2/2001, S. 36); keine Verfolgung von PUK-Anhängern durch KDP oder Islamisten im Nordirak.(Leitsatz der Redaktion)

 

Schlagwörter: Irak, Nordirak, PUK, Mitglieder, Haft, KDP, Islamisten, Verfolgung durch Dritte, Mittelbare Verfolgung, Asylanerkennung, Widerruf, Genfer Flüchtlingskonvention, Auslegung, Politische Entwicklung, Machtwechsel, Übergangsregierung, Rechtswidrige Asylanerkennung, Fortbestehende Schutzbedürftigkeit, Situation bei Rückkehr, Abschiebungshindernis, Blutrache, Glaubwürdigkeit, interne Fluchtalternative, Sicherheitslage, Versorgungslage, Allgemeine Gefahr
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; GFK Art. 1 C Nr. 5; AsylVfG § 73 Abs. 1 S. 3; AuslG § 53 Abs. 6
Auszüge:

Die Voraussetzungen für den Widerruf einer Asylanerkennung nach § 73 Abs. 1 AsylVfG liegen betreffend den Irak vor auch wenn und soweit sich die Verhältnisse im Nordirak nicht verändert haben (entgegen VG Stade, Urteil vom 24.06.2004 - 6 A 804/04 -).

Die gesetzlichen Voraussetzungen des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG für einen Widerruf der Rechtsstellung des Klägers, wie sie mit Bescheid der Beklagten vom 25. April 1995 begründet worden ist, sind erfüllt.

Mit den veränderten politischen Gegebenheiten hat sich die Verfolgungssituation des Klägers von Grund auf geändert.

Die zuvor eine politische Verfolgung begründenden Umstände haben ihre asylrelevante Bedeutung verloren, weil sie ihre Grundlage allein im Unrechtsregime von Saddam Hussein hatten. Dieser Einsicht ist - soweit ersichtlich - auch die inzwischen die veränderten politischen Gegebenheiten im Irak aufnehmende und bewertende obergerichtliche Rechtsprechung gefolgt (in jüngster Zeit insbesondere BVerwG, Urt. v. 11.2.2004 - 1 C 23.02 - zum Urt. d. Sen. v. 21.6.2002 - 9 LB 155/02 - und Urt. v. 24.2.2004 - 1 C 24.02 - zum Urt. d. Sen. v. 21.6.2002 - 9 LB 3662/01 -; ferner BayVGH, Urt. v. 13.11.2003 - 15 B 02.31751 und 15 B 01.30114 -; SächsOVG, Beschl. v. 28.8.2003 - A 4 B 573/02 - AuAS 2003,250; Schleswig-Holsteinisches OVG, Beschl. v. 30.10.2003 - 1 LB 39/03 - und vom 28.10.2003 - 1 LB 41/03 -; OVG Münster, Urt. v. 14.8.2003 - 20 A 430/02.A - Asylmagazin 1-2/2004, 17; weiterhin VG Aachen, Urt. v. 11.9.2003 - 4 K 2360/01.A -).

Neuere Erkenntnisse bestätigen die Annahme, dass eine Rückkehr zu den alten Machtverhältnissen ausgeschlossen ist (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 24. Mai 2004, Stand: April 2004; Deutsches Orientinstitut, Stellungnahme an das VG Regensburg vom 27. Oktober 2003; Beschluss des OVG Greifswald vom 02.04.2004 - 2 L 269102 -; Beschluss des VGH Baden-Württemberg vom 26.04.2004 - A 2 S 172/02 -). Die aktuelle politische Entwicklung im Irak hält sich im Rahmen der o.a. politischen Zielvorgaben, beschleunigt den Übergang zu einem souveränen irakischen Staat gar, der nichts mehr mit dem Vorgängerregime gemein hat.

Ohne rechtlichen Belang ist, dass die ursprüngliche Anerkennung des Klägers als Asylberechtigter und die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft nach § 51 Abs. 1 AuslG möglicherweise rechtswidrig war. Nach der überzeugenden Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist es für die Anwendung des § 73 Abs. 1 AsylVfG unerheblich, ob die Anerkennung rechtmäßig oder rechtswidrig erfolgt ist, so dass auch rechtswidrige Anerkennungen zu widerrufen sind (Beschluss vom 27.6.1997 - 9 B 280.97 -, NVwZ-RR 1997, 741; Urteil vom 19.9.2000 9 C 12.00 -, BVerwGE 112, 80, 85).

Bedeutung erlangt die Begründung des Bescheides vom 25. April 1995 aber insoweit, als sich aus ihr ableiten lässt, auf welcher Tatsachengrundlage der Kläger als Asylberechtigter anerkannt worden ist. Dies hat seinerseits möglicherweise wieder Bedeutung für die Frage, ob sich die tatsächlichen Verhältnisse insoweit im Sinne von § 73 Abs. 1 AsylVfG geändert haben. Die nichtssagende Begründung des Bescheides, die sich auf die Angaben des Klägers stützt, ist hier wenig hilfreich.

Diese Begründung zugrundelegend, ist denkbar, dass das Bundesamt eine im Nordirak grundsätzlich vorhandene inländische Fluchtalternative verneint hat, weil der Kläger wegen der von ihm vorgetragenen Verfolgungsgefahr durch KDP-Angehörige oder Islamisten dort keine Sicherheit hätte erlangen können. Dann wäre der Bescheid in Einklang mit der seinerzeit ständigen Rechtsprechung ergangen, der zufolge eine inländische Fluchtalternative im Nordirak verneint worden ist, wenn konkrete Anhaltspunkte für drohende Übergriffe auf die körperliche Integrität des Asylbewerbers vorlagen. In diesem Fall wäre nunmehr eine nachträgliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse im Sinne von § 73 Abs. 1 AsylVfG eingetreten. Es ist, wie dargelegt, keine Verfolgung durch das frühere staatliche Regime mehr zu befürchten und eine Verfolgung von PUK-Anhängern findet im Nordirak weder durch KDP-Angehörige noch durch Islamisten mehr statt (vgl. Stellungnahme des Deutschen Orientinstitut an das VG Regensburg vom 27. Oktober 2003). Entfernt denkbar wäre weiter, dass das Bundesamt den Kläger deshalb als Asylberechtigten anerkannt hat, weil es rechtsirrig von einer staatlichen Verfolgung ausgegangen ist, die von den - erkennbar nichtstaatlichen - Organisationen der KDP und/oder der Islamisten gegen den Kläger ausgeübt worden ist. Dann wäre der Bescheid vom 25. April 1995 rechtswidrig gewesen, weil von diesen Organisationen - ohne dass dies näherer Begründung bedürfte - nie eine staatliche Macht ausgegangen ist; die der Asylzuerkennung zugrundeliegenden Verhältnisse hätten sich jedoch, wie eben dargelegt, im Sinne von § 73 Abs. 1 AsylVfG geändert, weil dem Kläger eine Verfolgung durch die genannten Gruppen nicht mehr droht.

Schließlich mag es sein, dass das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge eine staatliche Verfolgung durch das Husseinregime bejaht und das Vorhandensein einer inländischen Fluchtalternative für den Kläger im Nordirak einfach übersehen hat. Auch dann wäre die Zuerkennung der nunmehr widerrufenen Rechtsposition rechtswidrig gewesen, weil nach der von der Kammer geteilten Rechtsprechung des Nds. Oberverwaltungsgerichts seit 1991 im Nordirak, von wo der Kläger stammt, keine Staatsgewalt ausgeübt worden ist, von der eine politische Verfolgung hätte ausgehen können. Eine solche ist weder von den lokalen Ordnungskräften der PUK und der KDP noch von der irakischen Zentralregierung ausgegangen (Nds. OVG, Urteil vom 8.9.1998 -9l 2142/98-). Insoweit kann festgestellt werden, dass sich die Verfolgungssituation im Nordirak derzeit nicht von derjenigen unterscheidet, die zum Zeitpunkt der Asylanerkennung des Klägers bestand. Allerdings vermag das Gericht hieraus nicht den Schluss zu ziehen, dass die Voraussetzungen des § 73 Abs. 1 AsylVfG nicht erfüllt sind.

Die Kammer folgt ausdrücklich nicht der vom VG Stade geäußerten Rechtsansicht, aus dem Umstand, dass sich die tatsächliche Situation im Nordirak nach dem Sturz von Saddam Hussein nicht von derjenigen zu Zeiten seiner Herrschaft unterscheidet und dass nach wie vor eine politische Verfolgung durch die irakische Zentralregierung nicht zu befürchten sei, sei zu folgern, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 73 Abs. 1 AsylVfG nicht vorliegen (vgl. Urteile vom 24.6.2004 - 6 A 541 und 804/04, zitiert nach der Internetentscheidungssammlung des Nds. Oberverwaltungsgerichts). Die Kammer schließt sich vielmehr der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts in dem bereits zitierten Urteil vom 19.9.2000 an, das nach Ansicht der Kammer vom VG Stade fehlinterpretiert wird.

In dieser Entscheidung heißt es (abgedruckt auf S. 85 f.):

"Der Anwendung des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG auf rechtswidrige Verwaltungsakte steht auch nicht entgegen, dass die Voraussetzungen einer zu Unrecht erfolgten Asylanerkennung oder Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG im Nachhinein scheinbar nicht entfallen sein können, da sie begriffsnotwendig von Anfang an nicht vorlagen. Diese Sicht verstellt den Blick für den eigenständigen, nicht an die Rechtswidrigkeit des Ausgangsbescheids, sondern an die nachträgliche Veränderung der politischen Verhältnisse im Verfolgerland anknüpfenden Regelungszweck der Widerrufsbestimmung. So besteht der vermeintliche Widerspruch beispielsweise nicht, wenn bei einer allgemein vorhandenen Verfolgungsgefahr eine Anerkennung ausgesprochen wurde, obwohl einzelne Voraussetzungen für die Gewährung von Asyl- oder Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG nicht vorlagen, im Nachhinein die allgemeine Verfolgungsgefahr aber insgesamt entfallen ist. Wurde etwa eine Anerkennung rechtswidrig gewährt, weil eine tatsächlich vorhandene inländische Fluchtalternative nicht beachtet oder eine Gruppenverfolgung rechtlich unzutreffend angenommen wurde, lässt aber ein späterer politischer Systemwechsel die zugrunde gelegte Verfolgungsgefahr nunmehr eindeutig landesweit entfallen, so ist kein Grund erkennbar, weshalb § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG auf solche Fälle nachträglicher Sachlagenänderungen nicht anzuwenden sein sollte. Insbesondere eröffnet dies die Möglichkeit eines Widerrufs bereits dann, wenn jedenfalls unzweifelhaft eine nachträgliche Änderung der Verhältnisse feststeht, ohne dass es noch der unter Umständen schwierigeren Prüfung und Entscheidung bedürfte, ob die ursprüngliche Anerkennung rechtmäßig oder rechtswidrig war (so schon Beschlüsse des Senats vom 20. Juni 1996 und 27. Juni 1997 jew. a.a.O.).

Der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Widerrufsbescheides steht schließlich § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG nicht entgegen. Danach ist von einem Widerruf abzusehen, wenn sich der Ausländer auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe berufen kann, um die Rückkehr in den Staat abzulehnen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte.

Inhaltlich führt nicht jede auftretende Beeinträchtigung zum Absehen vom Widerruf. Derartige Gründe müssen vielmehr von einer gewissen Schwere und Tragweite sein, so dass ein Widerruf immer dann zu unterbleiben hat, wenn schwere physische oder psychische Schäden vorliegen, die infolge der bereits erlittenen politischen Verfolgung entstanden sind und die sich bei einer Rückkehr in das Heimatland wesentlich verschlechtern. Darüber hinaus können Gesichtspunkte der Erwerbstätigkeit, einer wirtschaftlichen und sozialen Ausgrenzung, das Lebensalter und der Zeitraum zwischen Verfolgung und Flucht einerseits und Rückkehr andererseits zu berücksichtigen sein (vgl. VGH Kassel, a.a.O.; Renner, AuslR, 7. Aufl. § 73 AsylVfG Rdnr. 12 f.).

Derartige Gründe hat der Kläger weder vorgetragen, noch sind sie sonst für die Kammer ersichtlich.

Schließlich hat der Kläger den geltend gemachten Anspruch gegen die Beklagte auf Feststellung, dass in seinem Fall ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 AuslG vorliegt, nicht.

Im Einzelfall vermag sich aus einer durch Blutrache drohenden Verfolgungssituation ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG ergeben (vgl. BVerwG, Beschluss vom 19.3.1990 -1 B 31.90-, Buchholz 40224 § 10 AuslG Nr. 123; OVG Lüneburg, Beschluss vom 6.3.2000 -9 L 3275/99-, NVwZ-Beilage 2001, 19; Urteil vom 12.9.2001 -2 L 1082/00-, InfAuslR 2002, 154). Für den Kläger besteht eine derartige Gefahr indes nicht.

Zum einen deshalb nicht, weil sein diesbezüglicher Vortrag wechselhaft und infolgedessen unglaubhaft ist.

Selbst wenn man dem Kläger Glauben schenken würde, wäre er von Blutrache nicht konkret bedroht. Nach dem islamischen Gesetz der Blutrache ist im Fall der Tötung eines Familienmitglieds durch einen zurechnungsfähigen und erwachsenen Täter, die Tötung eines anderen "gleichwertigen" Familienmitglieds verwirkt. Dies schließt Blutrache wegen der Entführung eines weiblichen Familienmitglieds schon von vornherein aus.

Selbst wenn man davon ausginge, dass dem Kläger der Tod der zwei männlichen Mitglieder und des einen weiblichen Mitglieds der R.-Sippe persönlich angelastet werden würde, wäre er von Blutrache nicht konkret bedroht. Denn nach dem der Blutrache zugrunde liegenden Sittenkodex müssen Täter und Opfer der Blutrache einander gleichwertig sein nach Geschlecht, familiärer Stellung und Religion. Da nach dem klägerischen Vortrag sein Bruder und sein Vater bereits Opfer der Blutrache geworden sind, ist der der Blutrache zugrunde liegende Vergeltungsanspruch hinsichtlich der männlichen Familienmitglieder erfüllt, so dass der Kläger bei einer Rückkehr in seine Heimat nichts mehr zu befürchten hat. Im Übrigen würde dem Kläger eine solche Blutrache auch nicht landesweit drohen, was aber für die Anwendung des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG Voraussetzung wäre. Dem Kläger ist es unbenommen, in einer anderen Region des Irak als seiner Heimatregion Wohnsitz zu nehmen. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass er dort von Clanangehörigen der R.-Sippe entdeckt werden würde.

Ein Abschiebungshindernis ergibt sich schließlich auch nicht aus der schwierigen Sicherheits- und Versorgungslage im Irak.