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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 14.10.2004 - 2 BvR 1481/04 - asyl.net: M5709
https://www.asyl.net/rsdb/M5709
Leitsatz:

1. Zur Bindung an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) gehört die Berücksichtigung der Gewährleistungen der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Rahmen methodisch vertretbarer Gesetzesauslegung. Sowohl die fehlende Auseinandersetzung mit einer Entscheidung des Gerichtshofs als auch deren gegen vorrangiges Recht verstoßende schematische "Vollstreckung" können gegen Grundrechte in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip verstoßen.

2. Bei der Berücksichtigung von Entscheidungen des Gerichtshofs haben die staatlichen Organe die Auswirkungen auf die nationale Rechtsordnung in ihre Rechtsanwednung einzubeziehen. Dies gilt insbesondere dann, wenn es sich bei dem einschlägigen nationalen Recht um ein ausbalanciertes Teilsystem des innerstaatlichen Rechts handelt, das verschiedene Grundrechtspositionen miteinander zum Ausgleich bringen will.

(Amtliche Leitsätze)

 

Schlagwörter: D (A), Rechtsprechung, Gesetze, Auslegung, Rechtsstaatsprinzip, EMRK, Europäische Menschenrechtskonvention, EGMR, Schutz von Ehe und Familie, Nichteheliche Kinder, Kindesvater, Sorgerecht, Umgangsrecht, Pflegeeltern, Adoption, Zwangsadoption, Kindeswohl
Normen: GG Art. 20 Abs. 3; EMRK Art. 8; GG Art. 6
Auszüge:

Die angegriffene Entscheidung des Oberlandesgerichts Naumburg vom 30. Juni 2004 verstößt gegen Art. 6 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip. Das Oberlandesgericht hat das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 26. Februar 2004 bei seiner Entscheidungsfindung nicht hinreichend berücksichtigt, obwohl es dazu verpflichtet war.

1. Die angegriffene Entscheidung lässt nicht erkennen, ob und in welchem Umfang sich das Oberlandesgericht damit auseinander gesetzt hat, dass das vom Beschwerdeführer geltend gemachte Umgangsrecht grundsätzlich unter dem Schutz des Art. 6 GG steht. Dieser verfassungsrechtliche Schutz ist vor dem Hintergrund seiner Ausführungen zur komplementären Garantie in Art. 8 EMRK zu sehen. Das Oberlandesgericht hätte sich in einer nachvollziehbaren Form damit auseinander setzen müssen, wie Art. 6 GG in einer den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland entsprechenden Art und Weise hätte ausgelegt werden können.

Dabei ist von zentraler Bedeutung, dass der vom Gerichtshof festgestellte Verstoß der Bundesrepublik Deutschland gegen Art. 8 EMRK aus der Perspektive des Konventionsrechts andauert, weil der Beschwerdeführer weiterhin keinen Umgang mit seinem Sohn hat. Der Gerichtshof hat in seinem Urteil festgestellt, dass die Bundesrepublik Deutschland bei der Wahl der Mittel, mit denen das Urteil innerstaatlich umgesetzt werden muss, frei ist, sofern diese Mittel mit den Schlussfolgerungen aus dem Urteil vereinbar sind. Nach Ansicht des Gerichtshofs bedeutet dies, dass dem Beschwerdeführer mindestens der Umgang mit seinem Kind ermöglicht werden müsse (EGMR, Urteil vom 26. Februar 2004, Ziffer 64). Diese Auffassung des Gerichtshofs hätte das Oberlandesgericht veranlassen müssen, sich der Frage zu widmen, ob und inwieweit ein persönlicher Umgang des Beschwerdeführers mit seinem Kind gerade auch dessen Wohl entsprechen könnte und welche - gegebenenfalls durch ein neues Sachverständigengutachten - belegbaren Hindernisse die Berücksichtigung des Kindeswohls dem vom Gerichtshof für geboten erachteten und von Art. 6 Abs. 2 GG geschützten Umgang entgegenstellt.

2. Das Oberlandesgericht nimmt insbesondere in verfassungsrechtlich nicht haltbarer Weise an, dass ein Urteilsspruch des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nur die Bundesrepublik Deutschland als Völkerrechtssubjekt, nicht aber deutsche Gerichte binde. Alle staatlichen Organe der Bundesrepublik Deutschland sind - in dem hier unter C. I. entwickelten Umfang - an die Konvention und die für Deutschland in Kraft getretenen Zusatzprotokolle im Rahmen ihrer Zuständigkeit kraft Gesetzes gebunden. Sie haben die Gewährleistungen der Konvention und die Rechtsprechung des Gerichtshofs bei der Auslegung von Grundrechten und rechtsstaatlichen Gewährteistungen zu berücksichtigen.

Im vorliegenden Fall hatte das Oberlandesgericht durch das Urteil des Gerichtshofs vom 26. Februar 2004 besondere Veranlassung zu einer Auseinandersetzung mit dessen Gründen, weil die Entscheidung, mit der ein Verstoß der Bundesrepublik Deutschland gegen die Konvention festgestellt wurde, zu dem Gegenstand ergangen war, mit dem das Oberlandesgericht erneut befasst war. Die Berücksichtigungspflicht beeinträchtigt das Oberlandesgericht weder in seiner verfassungsrechtlich garantierten Unabhängigkeit, noch zwingt sie das Gericht zu einem unreflektierten Vollzug der Entscheidung des Gerichtshofs. Das Oberlandesgericht ist jedoch an Gesetz und Recht gebunden, wozu nicht nur das bürgerliche Recht und das einschlägige Verfahrensrecht gehören, sondern auch die im Range eines einfachen Bundesgesetzes stehende Europäische Menschenrechtskonvention.

Bei der rechtlichen Würdigung insbesondere neuer Tatsachen, der Abwägung widerstreitender Grundrechtspositionen wie derer der Pflegefamilie und der Einordnung des Einzelfalls in den Gesamtzusammenhang familienrechtlicher Fälle mit Bezug zum Umgangsrecht ist das Oberlandesgericht im konkreten Ergebnis nicht gebunden. Es fehlt dem angegriffenen Beschluss aber an einer Erörterung der genannten Zusammenhänge.

3. Es kann dahinstehen, ob das Oberlandesgericht in verfassungsrechtlich nicht zu

vertretender Weise davon, dass eine einstweilige Anordnung nur auf Antrag und nicht - wie im vorliegenden Fall - auch von Amts wegen ergehen kann, und damit von der Zulässigkeit der Beschwerde ausgegangen ist (vgl. etwa OLG Saarbrücken, OLG-Report 2001, S. 269 einerseits, OLG Brandenburg, OLG-NL 1994, S. 159 und OLG Naumburg, JMBl ST 2003, S. 346 andererseits). Das Oberlandesgericht hat jedenfalls auch seine prozessrechtlichen Darlegungen ohne zutreffende Berücksichtigung des Urteils des Gerichtshofs. vom 26. Februar 2004 angestellt. Dies war aber für die Frage von Bedeutung, ob das Amtsgericht verpflichtet oder berechtigt war, von Amts wegen die Einräumung eines Umgangsrechts zu prüfen und beim Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen - wie auch geschehen - Umgangskontakte im Wege der einstweiligen Anordnung zu ermöglichen.