VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Urteil vom 05.07.2004 - 23 B 04.30174 - asyl.net: M5681
https://www.asyl.net/rsdb/M5681
Leitsatz:

Keine politische Verfolgung für Kurden bei Rückkehr in den Irak wegen eingetretenen grundlegenden Änderungen der Verhältnisse. (Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Irak, Kurden, Folgeantrag, Kommunistische Arbeiterpartei, Mitglieder, Nachfluchtgründe, Subjektive Nachfluchtgründe, Illegale Ausreise, Antragstellung als Asylgrund, Politische Entwicklung, Machtwechsel, Übergangsregierung, Situation bei Rückkehr, Abschiebungshindernis, Sicherheitslage, Anschläge, Übergriffe, Versorgungslage, Erlasslage, Abschiebungsstopp, Extreme Gefahrenlage
Normen: AuslG § 51 Abs. 1; AuslG § 53; AsylVfG § 71; VwVfG § 51
Auszüge:

Ob dem Kläger aus individuellen Gründen deshalb, weil er im Nordirak als Mitglied der Kommunistischen Arbeiter-Partei (AKP) aufgetreten sein will, oder wegen ungenehmigter Ausreise, Asylantragstellung oder Verbleibens im westlichen Ausland die Gefahr einer politischen Verfolgung durch das Regime Saddam Husseins gedroht hatte, bedarf keiner abschließenden Klärung. Der Kläger hat zum gegenwärtigen Zeitpunkt und in absehbarer Zukunft (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) bei Rückkehr in den Irak infolge der inzwischen eingetretenen grundlegenden Änderung der Verhältnisse eine politische Verfolgung im Sinne des § 51 Abs. 1 AuslG nicht zu befürchten.

Wie den allgemein zugänglichen Medien und den zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnisquellen zu entnehmen ist, hat das bisherige Regime Saddam Husseins durch die am 20. März 2003 begonnene Militäraktion unter Führung der USA seine politische und militärische Herrschaft über den Irak endgültig verloren. Seit dem 28. Juni 2004 ist der Irak formell wieder souverän (vgl. Süddeutsche Zeitung vom 29.6.2004 S. 1). Bei einer Zeremonie in Bagdad übergaben die USA die Macht an die irakische Übergangsregierung. Die Zivilverwaltung wurde aufgelöst und die neue Regierung vereidigt. Während die Übergangsregierung nur eingeschränkte Vollmachten haben wird und keine langfristigen politischen Entscheidungen treffen kann, sind die von den USA geführten Koalitionstruppen bis auf weiteres für die Sicherheit zuständig (vgl. SZ vom 29.6.2004 S. 1 und 2).

Mit der Entmachtung Saddam Husseins und der Zerschlagung seiner Machtstrukturen ist eine asylrelevante Verfolgung des Klägers durch dessen Regime nicht mehr möglich. Der Ex-Diktator wird im Irak keinen Einfluss mehr auf Strafverfolgung und Strafvollzug ausüben können. Weder von den Koalitionstruppen noch der Übergangsregierung hat der Kläger nach Überzeugung des Senats Gefährdungen zu erwarten. Der Ausschluss von Verfolgungsmaßnahmen gegenüber seiner Person ist, jedenfalls für die im Zeitpunkt der Entscheidung absehbare Zukunft, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit als dauerhaft anzusehen, weil trotz der schwierig abzuschätzenden künftigen Verhältnisse im Irak für eine Änderung der Situation zum Nachteil des Klägers kein Anhalt besteht. Zwar finden vermehrt Anschläge statt, die aber an der grundsätzlichen Kontrolle des Staatsgebiets auch durch Alliierte Kräfte nichts ändern. Der Verwaltungsgerichtshof ist davon überzeugt, dass die Kriegsalliierten im Verbund mit der Übergangsregierung in überschaubarer Zeit die Errichtung eines neuen irakischen Regimes ähnlich dem des gestürzten Machthabers Saddam Hussein, wo rechtsstaatliche Prinzipien und Menschenrechte missachtet wurden, nicht zulassen.

Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Abschiebungsschutz nach § 53 AuslG.

Für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 53 Abs. 1, Abs. 2 und Abs. 4 AuslG waren vom Kläger konkrete Anhaltspunkte weder vorgetragen noch angesichts der bereits dargestellten politischen Lage im Irak ersichtlich.

Die allgemeine Sicherheits- und Versorgungslage im Irak, der der Kläger bei einer Rückkehr in sein Heimatland ausgesetzt wäre, begründet ebenfalls keinen Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen des § 53 Abs. 6 AuslG. Das Bayerische Staatsministerium des Innern hat im Erlasswege mit Rundschreiben vom 18. Dezember 2004 (Az. I A 2-2084.20-13) die Abschiebung irakischer Staatsangehöriger ausgesetzt und verfügt, dass auslaufende Duldungen bis auf weiteres um sechs Monate zu verlängern sind. Damit ist eine Erlasslage geschaffen worden, welche dem betroffenen Ausländer derzeit einen wirksamen Schutz vor Abschiebung vermittelt, so dass dem Kläger nicht zusätzlich Schutz vor der Durchführung der Abschiebung etwa in verfassungskonformer Auslegung des § 53 Abs. 6 AuslG zu gewähren wäre (vgl. BVerwG vom 12.7.2001 NVwZ 2001, 1420 = DVBl 2001, 1531 = InfAuslR 2002, 48).

Im Übrigen ist nichts dafür ersichtlich, dass für den Kläger eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder für Freiheit besteht (§ 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG), kehrte er derzeit in den Irak zurück. Die bloße theoretische Möglichkeit, Opfer von Eingriffen in diese Rechtsgüter zu werden, genügt nicht für die Annahme einer solchen Gefahr. Verlangt ist vielmehr die beachtliche Wahrscheinlichkeit eines solchen Eingriffs, mithin das Vorliegen einer einzelfallbezogenen, individuell bestimmten und erheblichen Gefährdungssituation (BVerwG vom 17.10.1995 BayVBl 1996, 216 = DÖV 1996, 250 = DVBl 1996, 612). Daran fehlt es hier. Die vom Kläger angeführten Fluchtgründe lassen keine konkrete Gefahr im Sinne des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG erkennen. Wegen seiner Mitgliedschaft in der Irakischen Kommunistischen Partei droht ihm schon keine konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit mehr, weil, wie bereits dargelegt, das Regime Saddam Husseins zerschlagen, mittlerweile von einer Übergangsregierung abgelöst worden und die kommunistische Partei im Regierungsrat vertreten ist. Soweit der Kläger Anschläge durch Islamisten oder Mitglieder der PUK befürchtet, ist ihm zuzumuten, sich nach Rückkehr in sein Heimatland im Zentralirak niederzulassen.