VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Urteil vom 07.05.2004 - 9 B 01.31198 - asyl.net: M5679
https://www.asyl.net/rsdb/M5679
Leitsatz:

Aserbaidschanischer Staatsangehöriger, der im Zeitpunkt des Inkrafttretens des Staatsangehörigkeitsgesetzes am 1.1.1999 nicht in Aserbaidschan gemeldet war, hat seine Staatsangehörigkeit verloren, ohne dass darin politische Verfolgung zu sehen ist; Berg-Karabach ist eine inländische Fluchtalternative für armenische Volkszugehörige.(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Aserbaidschan, Armenier, Staatsangehörigkeit, Staatenlose, Ausbürgerung, Gewöhnlicher Aufenthalt, Gruppenverfolgung, Interne Fluchtalternative, Berg-Karabach, Gebietsgewalt, Mischehen, Diskriminierung, Zwangsrekrutierung, Existenzminimum, Versorgungslage, Hilfsorganisationen, Situation bei Rückkehr, Abschiebungshindernis, Reisewege, Reisedokumente
Normen: AuslG § 51 Abs. 1; AuslG § 53
Auszüge:

Der Kläger hat keinen Anspruch darauf, dass bei ihm das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 oder des § 53 AuslG in Bezug auf Aserbaidschan festgestellt wird.

Nach dem glaubhaften Vortrag des Klägers geht das Gericht davon aus, dass der am 2. Juni 1946 in Aserbaidschan geborene Kläger ab seiner Geburt und die längste Zeit seines Lebens Staatangehöriger der UdSSR war und zugleich die Republiksangehörigkeit von Aserbaidschan besaß. Nach Auflösung der Sowjetunion und bei Entstehung eines selbständigen aserbaidschanischen Staates erlangte der Kläger die aserbaidschanische Staatsangehörigkeit. Dies ergibt sich aus Art. 4 des Gesetzes der Aserbaidschanischen Sozialistischen Sowjetrepublik vom 26. Juni 1990, das am 1. Januar 1991 in Kraft trat.

Es spricht aber viel dafür, dass der Kläger seine aserbaidschanische Staatsangehörigkeit mit Inkrafttreten des Staatsangehörigkeitsgesetzes der Aserbaidschanischen Republik vom 30. September 1998 verloren hat. Art. 5 Satz 1 Nr. 1 dieses Gesetzes lautet: "Staatsangehörige der Aserbaidschanischen Republik sind: 1. Personen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Gesetzes die aserbaidschanische Staatsbürgerschaft besaßen (Grundlage: Registrierung der betreffenden Person an ihrem Wohnort in der Aserbaidschanischen Republik zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Gesetzes;"

Die Vorschrift (ohne den Klammerzusatz) erweckt allerdings den Eindruck, der Kläger, der bis zum Inkrafttreten dieses Gesetzes - wie oben dargestellt - die aserbaidschanische Staatsbürgerschaft besaß, habe diese auch weiterhin inne. Der Eindruck könnte noch durch Art. 2 dieses Gesetzes verstärkt werden, wonach "die Staatsbürgerschaft der Aserbaidschanischen Republik unter keinen Umständen aberkannt werden" kann.

Dagegen spricht aber entscheidend der Klammerzusatz. Der Klammerzusatz hat praktisch die Bedeutung, dass aserbaidschanischen Staatsbürgern, die im Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes vom 30. September 1998 nicht an ihrem Wohnort in der Aserbaidschanischen Republik registriert waren, die Staatsangehörigkeit entzogen wurde.

Der Kläger hat sich nach seiner glaubhaften Aussage nicht selbst in M***** abgemeldet, so dass er auch nach seiner Flucht zunächst dort noch gemeldet blieb. Das Auswärtige Amt schreibt aber in seiner Auskunft vom 2. April 2003 an das VG Schleswig Holstein: "Im Jahre 1998 wurden die aserbaidschanischen Meldebehörden durch einen Erlass des aserbaidschanischen Justizministeriums dazu angewiesen, diejenigen armenischen Volkszugehörigen von Amts wegen abzumelden, die sich de facto nicht mehr dauerhaft in der Republik Aserbaidschan aufhielten. Dies betraf alle armenischen Volkszugehörigen, welche seit Ausbruch des ethnischen Konfliktes zwischen Armenien und Aserbaidschan aus Aserbaidschan geflüchtet waren. Nicht von dieser Maßnahme betroffen waren armenische Volkszugehörige, die nach wie vor de facto in Aserbaidschan wohnhaft waren, z.B. infolge Heirat oder Verwandtschaft mit aserbaidschanischen Staatsangehörigen".

Es spricht eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Kläger in Vollzug dieser Weisung im Lauf des Jahres 1998 von Amts wegen in M***** abgemeldet wurde und deshalb bei Inkrafttreten des Gesetzes vom 30. September 1998 am 1. Januar 1999 dort nicht mehr registriert war. Nach dem Wortlaut der Weisung hätte der Kläger zwar nicht von Amts wegen abgemeldet werden dürfen, weil er sich damals in B***-K*****und damit jedenfalls nach aserbaidschanischer Auffassung noch in Aserbaidschan befand. Auf der anderen Seite ist zu bedenken, dass der armenische Kläger M***** in Folge der Volkstumskämpfe damals bereits seit 9 Jahren verlassen hatte und die Behörden nur dies wussten, aber keine Kenntnis davon hatten, ob er nach Russland oder Armenien - wie so viele andere - oder "bloß" nach B***-K*****geflohen war. Aus diesem Grunde vertritt auch der UNHCR, der an sich für den Fortbestand der aserbaidschanischen Staatsangehörigkeit von armenischen Flüchtlingen aus Aserbaidschan eintritt (vgl. Auskunft an das VG Ansbach vom 22.5.2000), in seinem etwas späteren Gutachten vom 7. September 2000 die Ansicht, dass "in der Praxis für Armenier die Durchsetzung eines Rechts auf "Wiederherstellung der Staatsangehörigkeit" in Aserbaidschan schwierig bis ausgeschlossen ist. Es ist deshalb anzunehmen, dass der Kläger die aserbaidschanische Staatsangehörigkeit nicht mehr besitzt.

Der Kläger, der zwar armenischen Volkstums ist, hat nach seinen glaubhaften Angaben aber nie in Armenien gelebt und war dort auch nie gemeldet. Es erscheint deshalb ausgeschlossen, dass er die armenische Staatsangehörigkeit besitzt.

Der Senat kommt im Ergebnis - ebenso wie die Beklagte - zu der Einsicht, dass der Kläger wohl staatenlos ist. In Bezug auf die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG kann dies letztlich dahinstehen: Seinen dauernden Aufenthalt hatte der Kläger immer in Aserbaidschan. B***-K*****ist völkerrechtlich - wie dargestellt - noch nicht durch Sezession zu einem eigenen Staat geworden, sondern ist völkerrechtlich noch ein Teil Aserbaidschans. Der Kläger hat sich somit immer in Aserbaidschan aufgehalten, das damit jedenfalls, wenn nicht das Land seiner Staatsangehörigkeit, wenigstens das Land seines dauernden Aufenthalts ist.

Die weiteren Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG sind deshalb in Bezug auf Aserbaidschan zu prüfen.

Der Entzug der Staatsangehörigkeit, die den Betreffenden staaten- und schutzlos macht, kann politische Verfolgung sein.

Das bedeutet allerdings nicht, dass jede Ausbürgerung automatisch eine asylrelevante Rechtsverletzung darstellt. Es kommt darauf an, ob sie aus einem der o.g. asylrelevanten Gründe vorgenommen wurde. Art. 5 des aserbaidschanischen Staatsangehörigkeitsgesetzes vom 30. September 1998 knüpft an den registrierten Wohnsitz in Aserbaidschan zum 1. Januar 1999 an und nicht an das aserische Volkstum. Im Zusammenhang mit der erwähnten Weisung des aserbaidschanischen Justizministeriums zur Abmeldung von Amts wegen gerade der armenischen Volkszugehörigen, die sich de facto nicht mehr dauerhaft in der Republik Aserbaidschan aufhalten, könnte der Klammerzusatz in Art. 5 des Staatsangehörigkeitsgesetzes 1998 eine asylrelevante Maßnahme darstellen, weil die Weisung an das armenische Volkstum anknüpft und aserbaidschanische Staatsangehörige anderen Volkstums, die sich ebenfalls de facto nicht in Aserbaidschan aufhalten, nicht betrifft und ihnen damit die Staatsangehörigkeit erhalten bleibt (vgl. dazu 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25.11.1941, Reichsgesetzblatt S. 722). Der Senat ist jedoch, ebenso wie auch andere Verwaltungsgerichte (z.B. OVG Niedersachsen, Beschluss vom 24.11.2003 Az. LD 179/03 und VG Schleswig Holstein, Urteil vom 14.4.2004 Az. 4 A 54/01), der Ansicht, dass die Regelung nur den staatsrechtlichen Nachvollzug der durch Vertreibung und Flucht und mehrjährigen Auslandsaufenthalt verursachten Zerschneidung des Bandes der armenischen Volkzugehörigen zu Aserbaidschan darstellt. Aserbaidschan wollte auf diese Weise mit dem Inkrafttreten des neuen Staatsangehörigengesetzes den staatsangehörigkeitsrechtlichen Zustand seiner Bevölkerung den tatsächlichen Gegebenheiten anpassen.

Wie allgemein bekannt, kam es um die Jahreswende 1989/90 in Aserbaidschan zu Ausschreitungen, die sich gegen die im Lande lebende armenische Minderheit richteten. Diese entluden sich Anfang Januar 1990 in progromartigen blutigen Übergriffen, bei denen eine offiziell nie bekannt gegebene Zahl armenischer Volkszugehöriger z.T. auf bestialische Weise umgebracht wurde.

Ob sich die Situation seit etwa dem Jahr 2000 in Kern-Aserbaidschan für Armenier verbessert hat oder nicht, ob Armeniern dort auch heute noch Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht oder ob sie sogar vor einer Wiederholung der Verfolgung hinreichend sicher wären, braucht im Hinblick auf § 51 Abs. 1 AuslG nicht entschieden zu werden.

Denn der Kläger hat in B***-K*****eine sichere Fluchtalternative innerhalb Aserbaidschans gefunden und erreicht und hat sich dort mehrere Jahre aufgehalten. Die im Jahr 1990 in Kern-Aserbaidschan erlittene Gruppenverfolgung war nicht der Auslöser für seinen Asylantrag in Deutschland. Diese sichere Fluchtalternative steht dem Kläger auch heute noch offen.

Die Grundsätze über die inländische Fluchtalternative sind auch dann anwendbar, wenn der Verfolgerstaat in einer Region seine Gebietsgewalt vorübergehend faktisch verloren hat (BVerwG, Urteil vom 8.12.1998, BVerwGE 108, 84 zu Nord-Irak).

Es drohen dem Kläger in B***-K*****auch keine anderen Nachteile und Gefahren, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen Rechtsgutbeeinträchtigung aus politischen Gründen gleich kommen.

Vor allem in der Zeit von 1990 bis 1994, aber auch heute noch, wurden und werden Männer, und darunter verstärkt die Flüchtlinge aus Aserbaidschan, von den b**-k************* Behörden gedrängt und gezwungen in den b**-k************* Streitkräften zu dienen. Sie können dadurch in die unzumutbare und asylrelevante Lage gebracht werden, gegen ihren Willen gegen die Truppen ihres Heimatstaates und gegen ihre alten Nachbarn und die eigenen Verwandten (der Kläger z.B. gegen seinen Sohn) zu kämpfen. Auch der Kläger wurde in diesem Sinne bedrängt und hat sich dem nur durch Umzug in andere Orte B**g-K******** entziehen können. Heute ist der Kläger allerdings nahezu 58 Jahre alt. Nach Ansicht des Senats besteht in diesem Alter nicht mehr die Gefahr, dass er zum Kampf gegen Aserbaidschan gezwungen werden würde.

Der Kläger macht weiter geltend, dass er und seine Frau Schmähungen und Erniedrigungen in B***-K*****ausgesetzt sind, weil seine Frau aserische Volkszugehörige ist und dies in den verschiedenen Orten in B**g-K******h, an denen sie sich aufgehalten haben, u.a. wegen der Bekanntheit des Klägers als Musiker, immer wieder bekannt wurde. Der Senat ist der Ansicht, dass derartige Anfeindungen aus dem gesellschaftlichen Umfeld zwar möglich und wahrscheinlich sind und auch in Zukunft nicht ausgeschlossen werden können.

Diese Anfeindungen erreichen aber keine solche Intensität und Schwere, dass sie einer asylerheblichen Rechtsgutbeeinträchtigung aus politischen Gründen gleich kämen.

Schließlich macht der Kläger geltend, er sei in B***-K*****immer wieder arbeitslos geworden und könne sich als heute 58jähriger das Lebensminimum in B***-K*****nicht mehr verdienen.

Demgegenüber schreibt das Auswärtige Amt in seiner Stellungnahme vom 23. Mai 2002 an das VG Schleswig Holstein: "Nach Erkenntnissen des Auswärtigen Amts hat sich die Lebens- und Versorgungssituation in Nagorny-Karabach wesentlich verbessert und der in der Republik Armenien angeglichen. Es sind eine Vielzahl von humanitären Organisationen unterschiedlicher Geberländer, aber vor allem gesponsert von der armenischen Diaspora in den USA, in Nagorny-Karabach tätig und tragen zur Verbesserung der Lebens- und Versorgungssituation bei. Dem Auswärtigen Amt liegen keine Erkenntnisse darüber vor, dass Geberländer oder humanitäre Hilfsorganisationen von den Hilfslieferungen bestimmte Personengruppen ausschließen und bei Hilfsbedürftigen Unterschiede wegen des Geschlechts oder anderer Merkmale gemacht werden. Auch das Gesundheitswesen wird von ausländischen Geberländern unterstützt.

Auch wird Übersiedlern nach Erkenntnissen des Auswärtigen Amts staatliche Unterstützung in der Zuweisung von Wohnraum, Grundstücken, Steuerbefreiungen etc. und humanitären Hilfsgütern gewährt. Für diesen Personenkreis werden auch einmalige finanzielle Mittel für Familien zur Verfügung gestellt, die Höhe hängt von der Personenzahl ab. Auch werden Auslagen für den Transport von der Republik Armenien bis zum künftigen Wohnort in Nagorny-Karabach zurück erstattet....

Dem Auswärtigen Amt liegen keine Anhaltspunkte darüber vor, dass Rückkehrer nach Nagorny-Karabach und anschließender Reintregration mit Schwierigkeiten seitens der Behörden oder Dritter zu rechnen hätten".

Der Senat schließt sich dieser positiven Sicht der Dinge durch das Auswärtige Amt an und sieht deshalb keine Gefahr, dass der Kläger nicht das zum Leben Notwendige in B***-K*****erlangen könnte. Zur Überzeugung des Senats trägt bei, dass es dem Kläger in der Zeit von 1990 bis 2000, die noch schwieriger war als die heutige, gelang, in B***-K*****zu überleben. Weiterhin lässt sich der Senat auch davon leiten, dass die Lebensverhältnisse in der alten Heimat des Klägers, in Kern-Aserbaidschan, nicht besser sind als in B**g-K******h.

Die inländische Fluchtalternative B***-K*****ist für den Kläger grundsätzlich auch erreichbar (vgl. dazu BVerwG Urteil vom 16.1.2001 DVBl 2001, 667). Die Einreise ist grundsätzlich über Armenien (nicht über Aserbaidschan) möglich. Für eine "legale" Einreise bedarf der Kläger eines Visums oder sonstiger Einreisepapiere von der karabachischen Vertretung in Eriwan. Ob er diese erhalten wird, lässt sich nur durch einen konkreten Versuch klären.