OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 17.05.2004 - 20 A 1810/02.A - asyl.net: M5650
https://www.asyl.net/rsdb/M5650
Leitsatz:

Keine staatliche Gewalt im Irak; erneute Verfolgung durch Baath-Regime ist ausgeschlossen; keine Entscheidung zu Abschiebungsschutz gem. § 53 Abs. 6 AuslG in verfassungskonformer Auslegung, da durch nordrhein-westfälische Erlasslage gleichwertiger Schutz gewährt wird.(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Irak, Kurden, Politische Entwicklung, Machtwechsel, Verfolgungsbegriff, Gebietsgewalt, Herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungszusammenhang, Situation bei Rückkehr, Abschiebungshindernis, Allgemeine Gefahr, Extreme Gefahrenlage, Erlasslage, Abschiebungsstopp
Normen: AuslG § 51 Abs. 1
Auszüge:

Der Kläger hat keinen Anspruch auf Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG.

Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit politischer Verfolgung, auf die es vorliegend ankommt, ist im Irak weder derzeit noch in absehbarer Zukunft gegeben. Für den gegenwärtigen Zeitpunkt ist eine solche Gefahr sogar mit hinreichender Sicherheit auszuschließen. Dies folgt daraus, dass das einer jeden politischen Verfolgung notwendigerweise zugrunde liegende Substrat, eine Staatsgewalt, nicht gegeben ist. Politische Verfolgung ist nämlich grundsätzlich staatliche Verfolgung, wobei dem Staat staatsähnliche Organisationen gleichgestellt werden, die den jeweiligen Staat verdrängt haben oder denen dieser das Feld überlassen hat und die ihn daher insoweit ersetzen. Staatlich ist eine (wie auch immer geartete) Verfolgung, wenn sie im Zusammenhang mit Auseinandersetzungen um die Gestaltung und die Eigenart der allgemeinen Ordnung des Zusammenlebens von Menschen und Menschengruppen steht, mithin - im Unterschied etwa zur rein privaten Verfolgung - einen öffentlichen Bezug hat, und von einem Träger überlegener, in der Regel hoheitlicher Macht ausgeht, der der Schutzsuchende unterworfen ist (BVerfG, Beschluss vom 10. Juli 1989, a.a.O., 333 ff.).

Der Senat geht in Übereinstimmung mit dem ebenfalls mit Verfahren irakischer Asylbewerber befassten 9. Senat des Gerichts davon aus, dass das frühere Regime Saddam Husseins seine politische und militärische Herrschaft über den Irak endgültig verloren hat und keine neuen staatlichen oder staatsähnlichen Strukturen an die Stelle getreten sind, die in ordnungsrechtlicher, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Hinsicht eine verfolgungsmächtige Ordnung im Gesamtstaat oder in Teilbereichen, insbesondere im Zentralirak, durchsetzen und erhalten könnten (vgl. OVG NRW, Urteil vom 14. August 2003 - 20 A 430/02.A - und Beschlüsse vom 7. November 2003 - 20 A 4065/02.A - sowie vom 7. Januar 2004 - 9 A 1891/02.A-). Diese Einschätzung ist - was die Beteiligten nicht in Frage stellen - auch heute noch gerechtfertigt. Insbesondere ist eine irakische Übergangsregierung bisher nicht zustande gekommen.

Ob auch künftig - wie gegenwärtig - eine hinreichende Sicherheit vor politischer Verfolgung bejaht werden kann, mag dahinstehen. Darauf kommt es nicht entscheidungserheblich an, weil jedes realistischerweise in die Erwägungen einzustellende staatliche oder staatsähnliche Gebilde jedenfalls keine Ähnlichkeit mit dem früheren System haben und insbesondere nicht aus Gründen zu Maßnahmen der Verfolgung greifen wird, die unter dem früheren System Saddam Husseins relevant gewesen sind bzw. gewesen sein sollen. Unter dieser Voraussetzung kommt selbst im Falle von Vorverfolgung, also des Verlassens des Irak unter dem Druck erlittener oder unmittelbar drohender politischer Verfolgung, der herabgesetzte Prognosemaßstab - das Kriterium der hinreichenden Sicherheit vor künftiger politischer Verfolgung - nicht zur Anwendung. Denn die Anwendung des herabgestuften Prognosemaßstabes setzt in Beachtung des Zumutbarkeitsgedankens eine bestimmte Verknüpfung zwischen erlittener und künftig drohender Verfolgung voraus, die es rechtfertigt, dem Asylsuchenden unter erleichterten Voraussetzungen des Nachweises Schutz vor erneuter Verfolgung zu bieten. Eine Forderung dahin, dass ein Vorverfolgter künftig vor jeder denkbaren politischen Verfolgung sicher ist, wäre nämlich nicht mehr an der die Zumutbarkeit der Rückkehr wesentlich bestimmenden Wiederholungsgefahr ausgerichtet.

Ist Anknüpfungspunkt der Verfolgung die politische Überzeugung des Asylsuchenden, so bedarf es einer Prüfung, ob eine Vorverfolgung wegen dieser bestimmten politischen Überzeugung auch unter veränderten politischen Verhältnissen - wie etwa einem Regimewechsel - ein Wiederholungsrisiko indiziert (BVerwG, Urteil vom 18. Februar 1997 - 9 C 9.96 -, BVerwGE 104, 97, 100 f.).

Der Senat hat zu den einzustellenden künftigen Entwicklungen im Irak im oben genannten Beschluss vom 7. November 2003 ausgeführt: "... ein sich künftig herausbildendes neues irakisches Regime wird keine Ähnlichkeit mit dem bisherigen Regime haben und aus jener Zeit stammende Anknüpfungspunkte für Übergriffe gegen Einzelne sind allenfalls im Sinne von Racheakten gegen Unterstützer des damaligen Regimes ... denkbar. Diese Überzeugung des Gerichts gründet sich vor allem auf eine sachverständige Beurteilung (Brocks vom 14. August 2003). Der Sachverständige hat ausgeführt, dass es nicht wieder zu einer Ballung der Macht bei einer der Volksgruppen kommen werde, zumal nicht in der Hand der nur eine Minderheit darstellenden Gruppe der Sunniten, in der das Regime Saddam Husseins vor allem verankert war. Die zu erwartende Ausbalancierung der Macht zwischen den Volksgruppen schließt aus, dass es zu einer Machtausübung allein um des Machterhalts willen - wie beim Regime Saddam Husseins - kommt. Damit fehlt die Grundlage für Reaktionen auf Verhaltensweisen, die tatsächlich oder möglicherweise als Infragestellen des Machtanspruchs einer herrschenden Clique gewertet wurden bzw. werden konnten. Gerade das Fehlen einer die künftige Entwicklung möglicherweise in dieselbe Richtung treibenden ideologischen Basis des bisherigen Regimes, das sich letztlich in der bloßen Wahrung seiner Machtpositionen erschöpfte, lässt es ausgeschlossen erscheinen, dass es nach der Zerschlagung eben dieses Machtapparates zur Herausbildung einer Struktur kommt, die eine vom bisherigen Regime gesehene Gegnerschaft als solche übernimmt und erneut (wiederholend) verfolgt.

Abschiebungsschutz ist auch nicht nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG zu gewähren.

Die Berücksichtigung von Gefahren, denen die Bevölkerung oder Bevölkerungsgruppe, der der Schutz suchende Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, ist allein einer generellen Entscheidung nach § 54 AuslG vorbehalten (§ 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG), und das grundsätzlich selbst dann, wenn eine solche Gefahr den Einzelnen konkret und individualisierbar betrifft. Mit Blick auf Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 2 Satz 1 GG ist der Rückgriff auf § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG bei einer allgemeinen Gefahr lediglich dann nicht gesperrt, wenn die Situation im Zielstaat der Abschiebung so extrem ist, dass die Abschiebung den Einzelnen "gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausliefern würde" - vgl. BVerwG, Urteil vom 29. März 1996 - 9 C 116.95 -, a.a.O. -, und gleichwertiger Schutz vor Abschiebung nicht anderweitig durch eine erfolgte Einzelfallregelung oder durch einen Erlass vermittelt wird - vgl. BVerwG, Urteil vom 12. Juli 2001 - 1 C 2.01 -, NVwZ 2001,1420 -. Letzteres, also eine Schutzgewährung auf der Grundlage eines Erlasses, greift vorliegend ein; der Erlass des Innenministeriums des Landes Nordrhein-Westfalen vom 18. Dezember 2003 - Az. 15.44.382-1 3 - zur Verlängerung auslaufender Duldungen vollziehbar ausreisepflichtiger Personen aus dem Irak um sechs Monate, der gemäß dem Schreiben des Innenministeriums NRW an den Senat vom 28. Januar 2004 - Az. 15.44.382-1 3 - auch auf die Fälle des Erlöschens asylverfahrensrechtlicher Aufenthaltsgestattungen erstreckt werden kann, beinhaltet angesichts des angenommenen tatsächlichen Abschiebungshindernisses und der unter solchen Voraussetzungen schon kraft Gesetzes anstehenden Entscheidung, § 55 Abs. 2 AuslG, unmissverständlich die rechtsverbindliche Vermittlung von Schutz vor Abschiebung.