VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 22.03.2004 - 13 S 585/04 - asyl.net: M5633
https://www.asyl.net/rsdb/M5633
Leitsatz:

Zur Frage, wann ein "dringender Fall" im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG vorliegt, der das danach grundsätzlich vorgesehene Rechtsbehelfsverfahren vor einer "zuständigen Stelle" entbehrlich macht.(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: D (A), Verfahrensrecht, Aussetzung des Verfahrens, EuGH, Vorabentscheidung, Ausweisung, Rechtsbehelfsverfahren, Widerspruchsverfahren, Einschaltung einer zuständigen Stelle, Dringender Fall, Rechtsweggarantie
Normen: VwGO § 94; RL 64/221/EWG Art. 8; RL 64/221/EWG Art. 9 Abs. 1
Auszüge:

Das Verwaltungsgericht hat zu Unrecht angenommen, dass die vom Österreichischen Verwaltungsgerichtshof bzw. vom Verwaltungsgericht Stuttgart dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften - EuGH - zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen auch im vorliegenden Verfahren, das die unter Sofortvollzug verfügte Ausweisung des Klägers aus der Bundesrepublik Deutschland zum Gegenstand hat, rechtserheblich und damit für die Entscheidung vorgreiflich sind.

Das Verwaltungsgericht Stuttgart hat mit seinem Beschluss vom 20.11.2001 u.a. folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt (Vorabentscheidungsverfahren C-482/0 1-):

"Steht Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG des Rates vom 25.2.1964 einer nationalen Regelung entgegen, die ein Widerspruchsverfahren, in dem auch eine Zweckmäßigkeitsprüfung stattfindet, gegenüber einer Entscheidung einer Verwaltungsbehörde über die Entfernung eines Inhabers einer Aufenthaltserlaubnis aus dem Hoheitsgebiet nicht mehr vorsieht, wenn eine bestimmte, von der die Entscheidung treffenden Verwaltungsbehörde unabhängige Stelle nicht eingerichtet wird?"

Der Österreichische Verwaltungsgerichtshof wirft in Ziff. 1 seines Vorabentscheidungsbeschlusses vom 18.3.2003 im Wesentlichen die gleiche Rechtsfrage auf; in Ziff. 2 seines Beschlusses legt er dem EuGH die Frage zur Vorabentscheidung vor, ob die Rechtsschutzgarantien der Art. 8 und 9 der Richtlinie 64/221/EWG auf türkische Staatsangehörige anzuwenden sind, denen die Rechtsstellung nach Art. 6 oder 7 ARB 1/80 zukommt (Vorabentscheidungsverfahren C-136/03-).

Diese dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegten, die Auslegung der Art.8 und 9 der Richtlinie 64/221/EWG betreffenden Fragen sind im vorliegenden Verfahren nicht rechtserheblich, da die Entscheidung des Verwaltungsgerichts über die Klage des Klägers gegen seine Ausweisung nicht von ihrer Beantwortung abhängt. Art. 8 der Richtlinie 64/221/EWG bestimmt, dass ein Betroffener gegen die Verweigerung der Einreise, einer Aufenthaltsgenehmigung oder gegen die Entfernung aus dem Aufnahmeland die Rechtsbehelfe haben muss, die Inländern gegenüber Verwaltungsakten zustehen. Art. 9 der Richtlinie 64/221/EWG ergänzt den Art. 8. Durch ihn soll den Personen, die von einer dieser Maßnahmen betroffen sind, ein Minimum an verfahrensmäßigem Schutz gewährleistet werden, wenn einer der drei besonderen Fälle vorliegt, die Art. 9 Abs. 1 mit den Worten "sofern keine Rechtsmittel gegeben sind oder die Rechtsmittel nur die Gesetzmäßigkeit der Entscheidung betreffen oder keine aufschiebende Wirkung haben" umschreibt. Im ersten Fall soll die Möglichkeit der Anrufung einer "zuständigen Stelle"; die eine andere als die für die Entscheidung zuständige Behörde sein muss, das Fehlen jeglichen gerichtlichen Rechtsbehelfs ausgleichen. Im zweiten Fall soll die Einschaltung der zuständigen Stelle eine umfassende Prüfung der Situation des Betroffenen, einschließlich der Zweckmäßigkeit der fraglichen Maßnahme, ermöglichen, bevor eine endgültige Entscheidung getroffen wird. Im dritten Fall soll dieses Verfahren es dem Betroffenen ermöglichen, zu beantragen und ggf. zu erwirken, dass die Vollziehung der geplanten Maßnahme ausgesetzt wird, und ihm so einen Ausgleich dafür bieten, dass es nicht möglich ist, die Vollziehung durch die Gerichte aussetzen zu lassen. Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG fordert dabei bei Vorliegen eines dieser drei besonderen Fälle die Einschaltung einer zuständigen Stelle vor Erlass der ausländerrechtlichen Maßnahme (vgl. EuGH, Urteil vom 30.11.1995 - C 175/94-, Sammlung 1995, 1-4253, RdNr. 20). Die - vorherige - Einschaltung einer "zuständigen Stelle" kann jedoch "in dringenden Fällen" unterbleiben; diese Ausnahme ist in Art 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG für alle drei Fallgestaltungen ausdrücklich vorgesehen.

Vom Vorliegen eines "dringenden Falles" in diesem Sinne ist das Regierungspräsidium Stuttgart bei Erlass der gegen den Kläger ergangenen Ausweisungsverfügung vom 20.1.2003 jedoch ausgegangen; denn es hat die Ausweisung des Klägers wegen der von ihm ausgehenden schweren Gefährdung für die öffentliche Sicherheit und Ordnung - auch - aus spezialpräventiven Gründen für erforderlich gehalten und hat die Ausweisungsverfügung in der Annahme für sofort vollziehbar erklärt, dass die begründete Besorgnis bestehe, dass sich die vom Kläger ausgehende, mit seiner Ausweisung bekämpfte Gefahr schon vor Abschluss des Hauptsacheverfahrens realisieren werde. Lag im Fall des Klägers aber ein "dringender Fall" vor, so folgt hieraus, dass das in Art. 9 der Richtlinie 64/221/EWG vorgesehene Rechtsbehelfsverfahren vor einer "zuständigen Stelle" unabhängig davon, ob diese Vorschrift überhaupt auf den Kläger als türkischen Staatsangehörigen Anwendung finden.