VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 21.07.2004 - 11 S 535/04 - asyl.net: M5499
https://www.asyl.net/rsdb/M5499
Leitsatz:

1. Die rechtliche Beurteilung der Ausweisung eines freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgers ist gleichsam auf zwei Stufen vorzunehmen. Dabei ist die Ausweisung zunächst - unabhängig vom Europäischen Gemeinschaftsrecht - auf ihre Rechtmäßigkeit nach deutschem Recht zu überprüfen. Nur für den Fall, dass im Rahmen einer Überprüfung nach deutschem Recht dem Begehren des Unionsbürgers nicht entsprochen werden kann, muss eine - selbstständige - Prüfung unter Beachtung der Regelungen des Europäischen Gemeinschaftsrechts nach dem Maßstab für eine Beschränkung der Freizügigkeit erfolgen.

2. Für die rechtliche Beurteilung einer Ausweisungsverfügung ist nach deutschem Recht grundsätzlich die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung maßgebend. Auf der europarechtlichen Beurteilungsstufe ist nach einem "längeren Zeitraum" zwischen dem Eintritt der Wirksamkeit der Ausweisung und dem Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts auch eine Veränderung der Sachlage - zu Gunsten wie auch zu Lasten des Unionsbürgers - zu berücksichtigen, die nach der Behördenentscheidung eingetreten ist (wie EuGH, Urteil vom 29.4.2004 in den verbundenen Rechtssachen C-482/01 und C-493/01 <Orfanopoulos und Oliveri>).

3. Die Regelungen des § 12 AufenthG/EWG stehen mit den Vorgaben der RL 64/221/EWG in Einklang, soweit die Beschränkung der Freizügigkeit aus Gründen der öffentlichen Ordnung und aus Gründen der öffentlichen Gesundheit verfügt wird. Daher besteht insoweit für eine unmittelbare Anwendung der RL 64/221/EWG kein Bedürfnis.

4. Aus Art. 4 Abs. 2 RL 64/221/EWG ergibt sich kein allgemeines Ausweisungsverbot freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger für alle Fallgestaltungen, in denen die im Anhang zu der Richtlinie aufgeführten Krankheiten oder Gebrechen erst nach Erteilung der ersten Aufenthaltserlaubnis-EG auftreten. Vielmehr stehen Art. 4 RL 64/221/EWG und § 12 Abs. 6 Satz 1 AufenthG/EWG auch nach Erteilung der ersten Aufenthaltserlaubnis-EG einer Beschränkung der Freizügigkeit aus Gründen der öffentlichen Ordnung nicht entgegen, wenn der Kranke über das "Auftreten" der Krankheit - in ihrer lediglich abstrakten Gefährlichkeit - hinaus durch sein persönliches Verhalten die öffentliche Ordnung nunmehr konkret (tatsächlich und hinreichend schwer) gefährdet und dadurch ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.

5. Die Verfahrensgarantien des Art. 9 RL 64/221/EWG werden durch den Rechtsschutz erfüllt, den die Verwaltungsgerichte in Deutschland gewähren (Fortführung der Rechtsprechung des Senats im Urteil vom 28.11.2002 - 11 S 1270/02 -).

(amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: D (A), Italiener, Unionsbürger, Ausweisung, Psychische Erkrankung, Einweisung, Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, Straftäter, versuchter Totschlag, Maßregelvollzug, Beurteilungszeitpunkt, unbefristete Aufenthaltserlaubnis/EG, Besonderer Ausweisungsschutz, öffentliche Ordnung, öffentliche Gesundheit, Ermessen, Gemeinschaftsrecht, Freizügigkeit, Beschränkung, Nachträgliche Befristung, Rechtsschutz, Rechtsmittel, Verfahrensgarantien, Gesetzmäßigkeit, Zweckmäßigkeit, Verhältnismäßigkeit
Normen: AuslG § 45; AuslG § 46 Nr. 2; AufenthG/EWG § 1; AufenthG/EWG § 12 Abs. 1; AufenthG/EWG § 12 Abs. 6; StGB § 63; EG Art. 17; EG Art. 18; EG Art. 39; EG Art. 249; RL 64/221/EWG Art. 4; RL 64/221/EWG Art.
Auszüge: