VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Beschluss vom 08.06.2004 - 12 TG 1525/04 - asyl.net: M5354
https://www.asyl.net/rsdb/M5354
Leitsatz:

1. Eine nachträgliche zeitliche Beschränkung der Aufenthaltsgenehmigung ohne Anordnung des Sofortvollzugs bei vorher rechtmäßigem Aufenthalt in Deutschland ist nicht geeignet, die spätere Inanspruchnahme vorläufigen Rechtsschutzes vom Inland aus auszuschließen (Art. 19 Abs. 4 GG).

2. §§ 69 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 und 72 Abs. 2 Satz 1 AuslG sind dahingehend einschränkend auszulegen, dass die unbeschadet der aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Klage normierte Wirksamkeit der nachträglichen zeitlichen Beschränkung in einem späteren vorläufigen Rechtsschutzverfahren nur dann zugrundegelgt werden kann, wenn die nachträgliche zeitliche Beschränkung summarisch auf ihre Rechtmäßigkeit überprüft worden ist.(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: D (A), Türken, Familienzusammenführung, Scheidungsantrag, Getrenntleben, Aufenthaltserlaubnis, Verlängerung, Ablehnung, Nachträgliche Befristung, Sofortvollzug, Duldung, Fiktionswirkung, Erlaubnisfiktion, Vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Zulässigkeit, Suspensiveffekt, Assoziationsberechtigte, Arbeitnehmerfreizügigkeit, Diskriminierungsverbot
Normen: AuslG § 69 Abs. 2 S. 2 Nr. 2; AuslG § 72 Abs. 2 S. 1; GG Art. 19 Abs. 4; VwGO § 80 Abs. 5; AuslG § 12 Abs. 2; ARB Nr. 1/80 Art. 6; Zusatzprotokoll vom 23.11.1970 Art. 37
Auszüge:

Es entspricht gefestigter Rechtsprechung des Senats und anderer Oberverwaltungsgerichte sowie der Kommentarliteratur (Hess. VGH, 15.07.2003 - 12 TG 1484/03 -; VGH Baden-Württemberg, 12.1.2.1991 -13 S 1800/90-, EZAR 622Nr. 13 = NVwZ-RR 1992, 509; Hailbronner, AuslR, § 69 AuslG Rdnr. 20; Renner, Ausländerrecht, § 72 AuslG Rn.6; GK-AuslR, § 69 AuslG Rn. 65 m.w.N.), dass im Falle der Ablehnung eines Aufenthaltsgenehmigungsantrags mit der Begründung, die Genehmigungserteilung sei bereits gemäß § 8 Abs. 2 AuslG wegen einer ausgesprochenen Ausweisung ausgeschlossen, im vorläufigen Rechtsschutzverfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO die Rechtmäßigkeit der verfügten Ausweisung zur Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4GG) summarisch mit zu überprüfen ist, obgleich die verfügte Ausweisung ungeachtet der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs nach § 72 Abs. 1 AuslG wirksam geworden ist (§ 72 Abs.2 Satz 1 AuslG). Eine vergleichbare Situation der Entziehung eines rechtmäßigen Aufenthalts liegt im Fall der nachträglichen zeitlichen Beschränkung nach § 12 Abs.2 Satz 2 AuslG vor. Dementsprechend muss in der vorliegenden Konstellation der durch die Ablehnung des rechtzeitig gestellten Verlängerungsantrags erstmals ermöglichte vorläufige Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO zur Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes statthaft sein. Hierzu muss im Wege einer einschränkenden Auslegung der §§ 69 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 und 72 Abs. 2 Satz 1 AuslG angenommen werden, dass die unbeschadet der aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Klage normierte Wirksamkeit der nachträglichen zeitlichen Beschränkung (§ 72 Abs. 2 Satz 1 AuslG) in einem späteren vorläufigen Rechtsschutzverfahren nur dann zugrunde gelegt werden kann, wenn die nachträgliche Beschränkung summarisch auf ihre Rechtmäßigkeit überprüft worden ist. Für die Durchführung des Hauptsacheverfahrens findet sich hierfür die ausdrückliche gesetzliche Regelung in § 72 Abs. 2 Satz 2 AuslG, wonach eine Unterbrechung der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts nicht eintritt, wenn der Verwaltungsakt durch eine behördliche oder unanfechtbare gerichtliche Entscheidung aufgehoben wird. Für das Eilverfahren kann dieser Gedanke des Gesetzes entsprechend herangezogen werden zunächst mit der Aussage, dass bei unanfechtbarer Feststellung der Rechtswidrigkeit im Eilverfahren für das vorläufige Rechtsschutzverfahren die Wirksamkeit nach § 12 Abs. 2 Satz 1 AuslG auszublenden ist und eine Unterbrechung der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts im vorläufigen Rechtsschutzverfahren nicht zugrundegelegt werden kann. In Fortführung dieses Gedankens ergibt sich dann für die vorliegende Konstellation, dass für die Durchführung des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens der Aufenthalt des Antragstellers als gemäß § 69 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde über den Verlängerungsantrag als erlaubt anzusehen war, weil er sich in diesem Sinne mehr als sechs Monate rechtmäßig im Bundesgebiet aufhielt. Die Erlaubnisfiktion war dann auch nicht gemäß § 69 Abs. 3 Satz 3 i.V.m. Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 AuslG ausgeschlossen, weil für die Durchführung des Eilverfahrens bis zur summarischen Überprüfung der vorangegangenen Aufenthaltsbeschränkung diese keine rechtlich unangreifbare Ausreisepflicht im Sinne von § 69 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 AuslG begründen konnte.

Die Beschwerde kann im Ergebnis jedoch deshalb keinen Erfolg haben, weil die Antragsgegnerin in der Sache offensichtlich zu Recht die Aufenthaltsgenehmigung nachträglich beschränkt und auch die Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigung abgelehnt hat. Dem Antragsteller stand weder im Mai 2002 (Zeitpunkt der nachträglichen Beschränkung) ein Aufenthaltsgenehmigungsanspruch nach §§ 23 Abs. 1 Nr. 1, 17 Abs. 1 AuslG zur Seite, noch hatte er im September 2003 (Entscheidung über Verlängerungsantrag) Anspruch auf ein eigenständiges Aufenthaltsrecht nach § 19 Abs. 1 Nr. 1 AuslG. Es lässt sich aufgrund seines Vorbringens nicht feststellen, dass die eheliche Lebensgemeinschaft im (...) noch bestanden hat oder mindestens insgesamt zwei Jahre rechtmäßig im Bundesgebiet geführt worden ist. Der Antragsteller hat am (....) eine deutsche Staatsangehörige geheiratet. Nach Maßgabe des Beschwerdevorbringens hat die Ausländerbehörde zu Recht festgestellt, dass eine eheliche Lebensgemeinschaft nicht mehr bestand, seitdem die Ehefrau des Antragsteller im (...) Scheidungsantrag gestellt hatte.

Soweit der Antragsteller hiergegen im Verwaltungsverfahren und im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes vorbringt, die eheliche Lebensgemeinschaft sei im (...) noch nicht endgültig beendet worden, vielmehr habe es sich lediglich um eine für ein späteres eigenständiges Aufenthaltsrecht unschädliche Unterbrechung von höchstens zwei Monaten gehandelt, werden hierdurch die durch den Scheidungsantrag hervorgerufenen starken Zweifel am Fortbestand der ehelichen Lebehsgemeinschaft nicht ausgeräumt. Die Stellung eines Scheidungsantrags ist ein besonders starkes Indiz für den Willen eines Ehegatten zur endgültigen Auflösung der ehelichen Lebensgemeinschaft. Daher wären zur Ausräumung dieser Zweifel wenigstens nähere Angaben des Antragstellers dazu, wann der Scheidungsantrag wieder zurückgenommen worden sein soll und in welcher Wohnung das eheliche Zusammenleben dann bis zur eingeräumten Beendigung der Lebensgemeinschaft im (...) stattgefunden hat, erforderlich gewesen. Die bloßen Bekundungen der Ehefrau in der eidesstattlichen Versicherung vom 28. Oktober 2003 bleiben viel zuunsubstantiiert, da sie weder Angaben zu dem Zeitpunkt enthalten, zu dem der erste Scheidungsantrag zurückgenommen worden sein soll, noch konkrete Angaben über das eheliche Zusammenleben in einer angeblich gemeinsamen Wohnung nach Rücknahme des ersten Scheidungsantrages gemacht werden.

Auch aus Art. 6 ARB 1/80 ergibt sich kein weiteres Aufenthaltsrecht des Antragstellers. Der Aufenthalt des Antragstellers war nach der offensichtlich rechtmäßigen nachträglichen zeitlichen Beschränkung seiner Aufenthaltserlaubnis zum 30. Juni 2002 ab diesem Zeitpunkt nicht mehr ordnungsgemäß im Sinne von Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80, so dass Beschäftigungszeiten ab dem 1. Juli 2002 nicht mehr zur Begründung eines assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechts herangezogen werden können.

Entgegen der Auffassung des Antragstellers steht ihm ein Anspruch auf Verlängerung seiner Aufenthaltsgenehmigung auch nicht auf Grund des Diskriminierungsverbots des Art. 37 des Zusatzprotokolls vom 23. November 1970 zum Abkommen vom 12. September 1963 zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei, für die Übergangsphase der Assoziation zu. Danach sieht jeder Mitgliedstaat für die in der Gemeinschaft beschäftigten Arbeitnehmer türkischer Staatsangehörigkeit ein Regelung vor, die in Bezug auf die Arbeitsbedingungen und das Entgelt keine auf der Staatsangehörigkeit beruhende Diskriminerung gegenüber Arbeitnehmern enthält, die Staatsangehörige der anderen Mitgliedstaaten sind. Gemäß Art. 38 dieses Zusatzprotokolls kann der Assoziationsrat bis zur schrittweisen Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer zwischen den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft und der Türkei alle Fragen im Zusammenhang mit der geographischen und beruflichen Mobilität der Arbeitnehmer türkischer Staatsangehörigkeit, insbesondere der Verlängerung der Gültigkeitsdauer der Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigungen prüfen, um die Beschäftigung dieser Arbeitnehmer in jedem Mitgliedstaat zu erleichtern. Unabhängig davon, ob sich aus dieser Regelung grundsätzlich auch dann kein Aufenthaltsrecht ableiten lässt, wenn der türkische Arbeitnehmer eine unbefristete Arbeitserlaubnis besitzt (so bisher Hess.VGH, 21.01.2000 -12 TZ 3110/99, 10.01.2000 - 12 TZ 2280/99 - im Anschluss an OVG Nordrhein-Westfalen, 27.08.1999; 18 B 1448/99 -,EZAR 029 Nr. 11 = InfAuslR 1999, 485; 20.07.2001 - 17 B 1116/00 -, InfAuslR 2001, 502 und unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu dem Kooperationsabkommen zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und dem Königreich Marokko vom 26. April 1986, 02.03.1999- C 416/96 -, EZAR811 Nr. 40 = InfAuslR 1999, 218), ist festzustellen, dass eine unbefristete Arbeitsgenehmigung auf Grund des in Deutschland geltenden Verhältnisses zwischen Aufenthaltsgenehmigung und Arbeitsgenehmigung jedenfalls kein von der Aufenthaltsgenehmigung unabhängiges Recht auf Fortsetzung einer nicht selbständigen Erwerbstätigkeit vermittelt (vgl. Hess. VGR, 22.01.2004 - 12 TG 3506/03 -). Deshalb ergeben sich aus Art. 37 des Zusatzprotokolls ebenso wenig aufenthaltsrechtliche Ansprüche für türkische Arbeitnehmer wie aus Art. 64 des Europa-Mittelmeerabkommen EG/Marokko für marokkanische Arbeitnehmer (zu letzteren vgl. BVerwG, 01.07.2003 - 1 C 18.02 -, EZAR 029 Nr. 24; a.A. o.Begr; Dienelt, Aufenthaltsrecht türkischer Staatsangehöriger 2001, Rdnr. 183 f.).