VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Urteil vom 15.03.2004 - 12 UE 1491/03 - asyl.net: M5254
https://www.asyl.net/rsdb/M5254
Leitsatz:

1. Die Voraussetzung der "Sorge für die Person eines Kindes" im Sinne des § 9 Abs. 2 StAG ist erfüllt, wenn der ausländische Elternteil Inhaber des gemeinsamen Sorgerechts im Sinne des § 1626 BGB ist.

2. Die vertragliche Ausgestaltung des gemeinsamen Sorgerechts in einer Form, die zur Ausübung der wesentlichen Elemente der elterlichen Sorge nur durch den Elternteil deutscher Staatsangehörigkeit führt, stellt als Extremfall eines faktischen Ausschlusses des nur noch formal bestehenden gemeinsamen Sorgerechts die Ausnahme von dem gesetzgeberisch vorgesehenen "Soll" der Einbürgerung dar. (amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: D (A), Türken, Einbürgerung, Deutschverheiratung, Ehescheidung, Kinder, Sorgerecht, Gemeinsames Sorgerecht, Aufenthaltsbestimmungsrecht, Personensorge, Anspruchseinbürgerung, Ermessenseinbürgerung
Normen: AuslG § 85; StAG § 9 Abs. 2; BGB § 1626
Auszüge:

Der Kläger hat keinen Anspruch auf Einbürgerung in den deutschen Staatsverband, da die gesetzlichen Voraussetzungen hierfür nicht vorliegen, und ihm ist auch nicht die Einbürgerung im Ermessenswege rechtswidrig versagt worden.

Ein Anspruch gemäß § 9 Abs. 1 StAG, dessen Voraussetzungen mit Ausnahme der erforderlichen Entlassung aus der türkischen Staatsangehörigkeit zunächst erfüllt waren, besteht nicht mehr, da die Ehepartner unstreitig seit (...) getrennt leben und die Ehe seit dem (...) geschieden ist.

Der Kläger kann sich auch nicht erfolgreich auf einen Einbürgerungsanspruch gemäß § 9 Abs. 2 StAG berufen. Nach dieser Regelung soll ein früherer Ehegatte oder Lebenspartner eines deutschen Staatsangehörigen unter den Voraussetzungen der §§ 8 und 9 Abs. 1 StAG eingebürgert werden, wenn die Einbürgerung bis zum Ablauf eines Jahres nach Rechtskraft des die Ehe auflösenden Urteils beantragt wird und dem Antragsteller die Sorge für die Person eines Kindes aus der Ehe zusteht, das bereits die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. Dabei ist zunächst festzustellen, dass der Kläger sich im Rahmen des Verwaltungsverfahrens, nachdem die Trennung bekannt geworden ist, auf diese Vorschrift berufen und der Beklagte sich unstreitig darauf eingelassen hat, so dass die formale Stellung eines erneuten Antrags entbehrlich war.

Die weitere Voraussetzung des § 9 Abs. 2 StAG der Sorge für die Person eines Kindes deutscher Staatsangehörigkeit ist mit der im vorliegenden Fall im Rahmen der Ehescheidung vorgenommenen Ausgestaltung des den früheren Ehegatten gemeinsam zustehenden Sorgerechts jedoch nicht erfüllt. Allerdings ist nach dieser Vorschrift entgegen der Ansicht des Beklagten nicht erforderlich, dass der ausländische Elternteil Inhaber des alleinigen Sorgerechts über das Kind deutscher Staatsangehörigkeit geworden ist.

Nachdem infolge der Reform des Kindschaftsrechts im Jahr 1997 (Gesetz v. 16.12.1997, BGBl. I 2942) gemäß § 1671 BGB n.F. nach Trennung der Ehepartner oder Ehescheidung im Regelfall das gemeinsame Sorgerecht bestehen bleibt und nur auf Antrag eines Elternteils diesem unter bestimmten, dem Kindeswohl dienenden Voraussetzungen das alleinige Sorgerecht übertragen wird, ist mit der Ausübung des gemeinsamen Sorgerechts auch die gemäß § 9 Abs. 2 StAG erforderliche Voraussetzung der dem ausländischen Elternteil obliegenden "Sorge für die Person des Kindes" erfüllt.

Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der nach Änderung des Kindschaftsrechts erlassenen Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Staatsangehörigkeitsrecht (vom 13.12.2000, GMBl. 2001, 122) StAR-VwV , die auf den gesetzlichen Regelfall des gemeinsamen Sorgerechts nicht ausdrücklich eingeht und lediglich für den Fall des Getrenntlebens eine entsprechende Anwendung nach Übertragung des alleinigen Sorgerechts vorsieht. Damit ist nämlich eine Aussage über die (unmittelbare) Anwendung bei alleinigem Sorgerecht nach Ehescheidung nicht verbunden, sondern lediglich eine unter Umständen vertretbare Regelung für einen vom Gesetz nicht erfassten Tatbestand getroffen. Im Gegenteil: Gerade das Erfordernis des alleinigen Sorgerechts für diese von der StAR-VwV gebildete Übergangssituation während des Getrenntlebens verdeutlicht die Auffassung des Vorschriftengebers (Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrats), dass im Übrigen die neue gesetzliche Regelform des gemeinsamen Sorgerechts für die Einbürgerung genügt.

Hiergegen spricht auch nicht der Regelungszweck der in § 9 StAG vorgesehenen Privilegierungen, die auf der Vermutung einer früheren Integration des Ehegatten oder Elternteils eines deutschen Staatsangehörigen beruhen.

Aus alledem folgt, dass die Voraussetzung der "Sorge für die Person des Kindes" im Sinne des § 9 Abs. 2 StAG erfüllt ist, wenn das gemeinsame Sorgerecht nach Ehescheidung entweder in der vom Gesetzgeber vorgesehenen "Idealform" der gleichberechtigten Ausübung durch beide Eltern besteht und auch praktiziert wird oder gar infolge vertraglicher Ausgestaltung die wesentlichen Elemente des Sorgerechts wie Pflege und Betreuung und insbesondere das Aufenthaltsbestimmungsrecht dem ausländischen Elternteil allein übertragen sind, so dass in diesem Fall ein Anspruch auf Einbürgerung besteht. Demgegenüber stellt eine vertragliche Ausgestaltung des gemeinsamen Sorgerechts in einer Form, die zur Ausübung der wesentlichen Elemente der elterlichen Sorge nur durch den Elternteil deutscher Staatsangehörigkeit führt, den gestalterisch möglichen Extremfall eines faktischen Ausschlusses des nur noch formal bestehenden gemeinsamen Sorgerechts dar, die als Ausnahme von dem gesetzgeberisch vorgesehenen "Soll" der Einbürgerung zu bewerten ist. Eine derartige Gestaltung des gemeinsamen Sorgerechts weicht nämlich so weit von der vom Gesetzgeber zugrunde gelegten vollständigen Ausübung der "Sorge für die Person des Kindes" ab, dass er als atypischer Ausnahmefall im Verhältnis zu dem vom Gesetzgeber zugrunde gelegten Regelfall das in § 9 StAG verbliebene Restermessen eröffnet und trotz des formal bestehenden gemeinsamen Sorgerechts die Einbürgerung gerade nicht erfordert.

Dem Kläger steht ein Anspruch auf Einbürgerung gemäß § 9 Abs. 2 StAG nach alledem nicht zu. Das gemeinsame Sorgerecht obliegt ihm nicht in dem oben dargelegten umfassenden Sinn, vielmehr stehen nach dem im Ehescheidungsverfahren geschlossenen familiengerichtlichen Vergleich sowohl die Betreuung als auch das Aufenthaltsbestimmungsrecht allein der Mutter und früheren Ehefrau des Klägers zu. Diese zwischen den Ehegatten getroffene Regelung hat das dem Kläger verbleibende Sorgerecht von wesentlichen Elementen der elterlichen Sorge, nämlich der Pflege, der Beaufsichtigung und des Aufenthaltsbestimmungsrechts (hierzu Palandt, aaO, § 1631 Rdnr. 10) befreit. Damit erschöpft sich das dem Kläger verbleibende Sorgerecht im Wesentlichen im Umgangsrecht und der Vermögenssorge, und ein über eine Begegnungsgemeinschaft hinausgehendes familiäres Zusammenleben des Klägers mit seinem Kind ist ebenfalls nicht ersichtlich. Da das gemeinsame Sorgerecht hier nur noch formal besteht, fehlt es zugleich an der Grundlage für die vom Gesetz im Regelfall der gemeinsamen Sorge vermutete schnellere Integration in deutsche Lebensverhältnisse infolge einer intensiven Befassung durch die mit den Erziehungsleistungen verbundenen Auseinandersetzung mit deutschen Stellen wie beispielsweise der sich aus Schulbesuch und ähnlichem ergebenden Anforderungen. Die Einbürgerung ist in diesem Fall auch nicht zur Förderung der Familieneinheit oder des familiären Zusammenhalts erforderlich.