OVG Berlin

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Zitieren als:
OVG Berlin, Urteil vom 25.09.2003 - OVG 6 B 8.03 - asyl.net: M5143
https://www.asyl.net/rsdb/M5143
Leitsatz:

Gefährdung wegen exilpolitische Betätigung bei einer Rückkehr in die Türkei nur bei politisch exponierten Personen; hinreichende Sicherheit für Rückkehrer.

(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Türkei, Kurden, Familienangehörige, Vater, KDP, Mitglieder, Hausdurchsuchung, Misshandlungen, Glaubwürdigkeit, Gruppenverfolgung, Nachfluchtgründe, Antragstellung als Asylgrund, Exilpolitische Betätigung, Überwachung im Aufnahmeland, Demonstrationen, Besetzungsaktion, Situation bei Rückkehr, Grenzkontrollen, Abschiebungspraxis
Normen: GG Art. 16a; AuslG § 51 Abs. 1; AuslG § 53
Auszüge:

Der Senat ist davon überzeugt, dass sich die vom Kläger als fluchtauslösend geschilderten Vorkommnisse nicht ereignet haben. Der Vortrag des Klägers ist insgesamt unglaubhaft.

Zweifel daran, dass der Kläger wegen politischer Verfolgung seine Heimat verlassen hat, ergeben sich schon aus dem Umstand, dass er zunächst keinen Anlass gesehen hat, sich unmittelbar nach seiner Einreise als Asylsuchender zu melden. Dies tat er vielmehr erst rund 20 Monate nach seiner Einreise und nachdem die Bemühungen, seinen von Anfang an auf Dauer angelegten Aufenthalt ausländerrechtlich zu legalisieren, erfolglos geblieben waren und er nach Sicherstellung seines Passes mit seiner Abschiebung rechnen musste.

Hinzu kommt, dass dem Kläger das von ihm im Asylverfahren vorgetragene und im gerichtlichen Verfahren wiederholte Verfolgungsschicksal nicht geglaubt werden kann. Der Senat ist davon überzeugt, dass sich der Kläger vor seiner Ausreise nicht in (...) im Osten Anatoliens aufhielt, sondern mit seinen Eltern, die allerdings aus (...) stammen und kurdischer Volkszugehörigkeit sein dürften, und seinen Geschwistern als assimilierter Kurde im Westen der Türkei unbehelligt lebte. Dies ergibt sich aus Folgendem: ....

Hat der Kläger demnach mit seiner Familie im Westen der Türkei gelebt, kann sich auch das von ihm geschilderte fluchtauslösende Geschehen im Osten der Türkei nicht ereignet haben.

Der Kläger war als im Westen der Türkei geborener und dort aufgewachsener Kurde bis zu seiner Ausreise im (...) auch keiner gruppengerichteten staatlichen Verfolgung ausgesetzt.

Der danach unverfolgt ausgereiste Kläger kann sich auch nicht auf beachtliche Nachfluchtgründe berufen.

Eine Gefährdung wegen exilpolitischer Betätigung bei einer Rückkehr in die Türkei kommt nur bei politisch exponierten Personen in Betracht. Nur derjenige, der politische Ideen und Strategien entwickelt oder zu deren Umsetzung mit Worten oder Taten von Deutschland aus hinwirkt und damit Einfluss insbesondere auf seine hier lebenden Landsleute zu nehmen versucht, ist aus der Sicht des türkischen Staates ein ernstzunehmender politischer Gegner, den es zu beobachten und gegebenenfalls zu bekämpfen gilt. Es muss sich mithin um eine mit einer gewissen Regelmäßigkeit und Intensität agierende Person handeln, die darüber hinaus entweder eine gewisse organisatorische Verantwortung besitzt oder in der Agitation nach außen einen gewissen Bekanntheitsgrad erlangt hat. Eine solche exponierte Stellung fehlt bei massenhaft vorkommenden prokurdischen Aktivitäten.

Soweit demgegenüber im zeitlichen Zusammenhang mit der Verhaftung Öcalans teilweise davon ausgegangen wurde, eine besondere Gefährdungslage bestehe bereits dann, wenn die betreffende Person in irgendeiner Weise mit Aktivitäten zu Gunsten der Selbstbestimmung des kurdischen Volkes in Verbindung gebracht werde (amnesty international, Gutachten vom 24. Februar 1999 an VG Berlin A IX 8 und vom 3. Februar 1999 an VG Sigmaringen, A VIII 63 d; Aydin, Gutachten vom 17. März 1999 an VG Berlin, A IX 9; vgl. auch Kaya vom 22. Mai 1999 an VG Gießen, A IX 15 b), kommt diesen Berichten angesichts der zwischenzeitlich eingetretenen Entwicklung in der Türkei, die von erheblichen Anstrengungen der türkischen Regierung gekennzeichnet ist, den Anforderungen der EU für einen Beitritt der Türkei gerecht zu werden (vgl. nur Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 9. Oktober 2002, S. 7, 35 f., C I 34, und Lagebericht vom 12. August 2003, S. 12 f., und 50 f., C I 35 zum Verfahren gegen Öcalan), keine hinreichende Aussagekraft mehr zu. Richtig ist allerdings, dass die türkischen Sicherheitskräfte die exilpolitischen Aktivitäten türkischer Staatsangehöriger in Deutschland und im übrigen Europa mit großer Aufmerksamkeit verfolgen.

Dies lässt allerdings noch nicht den Schluss zu, dass eine lückenlose Erfassung aller exilpolitischen Tätigkeiten und aller exilpolitisch Tätigen erreicht oder nur angestrebt wird (amnesty international, Gutachten vom 27. Juli 1999 an VG Oldenburg, A IX 38; Oberdiek, Gutachten vom 18. März 1999 an VG Gießen, A IX 15 a). Der hierfür erforderliche Ermittlungsaufwand stünde außer Verhältnis zu den zu erwartenden Ermittlungserfolgen. Es erscheint ausgeschlossen, dass selbst bei einer filmischen Erfassung von Großveranstaltungen auch nur ein erheblicher Teil der Veranstaltungsbesucher in einer Weise observiert werden kann, die eine Identifizierung erlauben würde (vgl. Kaya, Gutachten vom 24. April 2003 an VG Wiesbaden, A XI 5; Aydin, Gutachten vom 25. Dezember 1999 an VG Braunschweig, A IX 54 S. 11).

An diesem Maßstab gemessen, haben die vom Kläger vorgetragenen Aktivitäten die Gefährdungsschwelle nicht erreicht. Der Kläger hat allerdings - den Wahrheitsgehalt seiner Angaben unterstellt - an einer ganzen Reihe von prokurdischen Veranstaltungen teilgenommen. Allerdings ist er nach seinem Vortrag dabei nicht in profilierter Weise in Erscheinung getreten.

Bei den teilweise gewaltsamen Aktionen vor und im israelischen Generalkonsulat am (...) ist der Kläger ebenfalls nicht hervorgetreten. Er ist nach seinen Angaben nur Teil der Demonstrantengruppe gewesen, und zwar in besonders zurückgezogener Weise, wie er im Erörterungstermin erläutert hat. Danach hat er die Gruppe "hinten abgesichert".

Der Kläger muss bei einer Rückkehr in die Türkei auch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Anknüpfung an individuelle Merkmale mit politischer Verfolgung rechnen. Zurückkehrenden kurdischen Asylbewerbern drohen grundsätzlich, sofern in ihrer Person keine Besonderheiten vorliegen, bei der Einreise in die Türkei weder an der Grenze noch auf dem Flughafen asylrelevante staatliche Verfolgungsmaßnahmen. Insbesondere zieht die Asylantragstellung als solche keine politische Verfolgung nach sich. Besonderheiten lassen sich im Fall des Klägers nicht feststellen.

Abgelehnte Asylbewerber müssen sich bei ihrer Einreise in die Türkei, wie alle anderen Einreisenden auch, einer Personenkontrolle unterziehen. Dies gilt für türkische Volkszugehörige ebenso wie für kurdische. Ein türkischer Staatsangehöriger, der über ein gültiges türkisches, zur Einreise berechtigendes Reisedokument verfügt, kann die Grenzkontrolle normalerweise ungehindert passieren. Dies gilt auch für Asylbewerber, die vom zuständigen türkischen Konsulat zum Zwecke der Rückkehr einen Pass oder ein Passersatzpapier ausgestellt bekommen haben. Nach den einschlägigen passrechtlichen Bestimmungen in der Türkei werden Pässe von Personen, deren weiterer Aufenthalt im Ausland im Hinblick auf die allgemeine Sicherheit bedenklich erscheint, weder erneuert noch verlängert. Umgekehrt bedeutet die Passerteilung beim türkischen Generalkonsulat, dass keine aktuelle Fahndung vorliegt und die betreffende Person nicht für verdächtig erachtet wird (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 9. Oktober 2002, S. 45 f., C I 34; Kaya, Gutachten vom 17. Dezember 2002 an VG Berlin, A X 33 b; Taylan, Gutachten vom 20. November 2002 an VG Berlin, A X 33 a, Oberdiek, Gutachten vom 14. Januar 2002 an VG Berlin, A X 33 c). Die Auslandsvertretungen der Türkei stellen hierzu bei Passbeantragung bezüglich der betreffenden Personen bei den Heimatbehörden (zuständiges Gouverneursamt, Personenstandsamt, Polizei und Staatsanwaltschaft) Nachforschungen hinsichtlich der Identität und des Vorliegens von Hindernissen für die Ausstellung eines Passes an. Bei der Ausstellung eines Reisepasses achten die Auslandsvertretungen auch darauf, ob nachrichtendienstliche Informationen vorliegen. Wird ein Pass ausgestellt, kann daher mit Sicherheit geschlossen werden, dass der Betreffende weder wegen eines Strafverfahrens noch wegen seiner politischen Aktivität gesucht wird (Kaya, Gutachten vom 17. Dezember 2002 a.a.O. S. 7).

Die Tatsache der Asylantragstellung, die nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes bei der Einreise regelmäßig nicht verborgen bleibt, ist im Allgemeinen für sich kein Umstand, der geeignet wäre, bei den türkischen Stellen Argwohn gegen den Betreffenden zu erwecken.

Verfügt der Zurückkehrende nicht über gültige Reisedokumente oder wird der türkischen Grenzpolizei bei der Personenüberprüfung bekannt, dass es sich um eine abgeschobene Person handelt, so wird diese einer Routinekontrolle unterzogen, die aus einer eingehenden Befragung besteht (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 13. August 1996, S. 11 f., C I 22). Die Fragen der Vernehmungsbeamten erstrecken sich regelmäßig auf die Personalienfeststellung, unter Umständen auch auf einen Abgleich mit der Personenstandsbehörde und dem Fahndungsregister, auf den Grund und den Zeitpunkt der Ausreise aus der Türkei, den Grund der Abschiebung, evtl. Vorstrafen in Deutschland, eine Asylantragstellung und auf Kontakte zu illegalen türkischen Organisationen.

Es kann nicht festgestellt werden, dass abgeschobene Asylbewerber kurdischer Volkszugehörigkeit regelmäßig, also auch beim Fehlen individueller Verdachtsmomente, damit rechnen müssen, bei der Einreise in die Türkei asylerheblichen Misshandlungen oder Folter ausgesetzt zu werden. Die entsprechenden Berichte aus den zurückliegenden Jahren betreffen ganz überwiegend abgeschobene Personen, denen von den türkischen Behörden Zusammenarbeit mit separatistischen Organisationen oder herausgehobene exilpolitische Tätigkeiten vorgeworfen wurden.

Auch die Auswertung weiterer Quellen zeigt, dass die genannten Referenzfälle sich ganz überwiegend auf Abschiebungen abgelehnter Asylbewerber beziehen. Schwierigkeiten türkischer Asylbewerber im Zusammenhang mit ihrer Abschiebung würden die Gewährung politischen Asyls aber schon deshalb nicht rechtfertigen, weil einem türkischen Asylbewerber nach unanfechtbarer Ablehnung seines Asylantrags zumutbar ist, sich einen türkischen Nationalpass oder einen Passersatz ausstellen oder verlängern zu lassen und damit freiwillig auszureisen.

Selbst wenn man die diskutierten Referenzfälle ohne weitere Prüfung zu Grunde legt und darüber hinaus nur die Gesamtzahl der Abschiebungen dagegenstellt, zeigt sich, dass noch von einer hinreichenden Sicherheit für Rückkehrer ohne Besonderheiten auszugehen ist.