OVG Berlin

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Zitieren als:
OVG Berlin, Urteil vom 14.10.2003 - 6 B 7.03 - asyl.net: M5104
https://www.asyl.net/rsdb/M5104
Leitsatz:

Zumutbare inländische Fluchtalternative in der Westtürkei auch für Kurden, die sich geweigert haben, Dorfschützer zu werden.(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Türkei, Kurden, Dorfschützer, Weigerung, das Amt des Dorfschützers zu übernehmen, Festnahme, Interne Fluchtalternative, Verfolgungssicherheit, Existenzminimum, Mittelbare Verfolgung, Gruppenverfolgung, Nachfluchtgründe, Subjektive Nachfluchtgründe, Exilpolitische Betätigung, Demonstrationen, Auslandsvertretung, Antragstellung als Asylgrund, Situation bei Rückkehr, Grenzkontrollen
Normen: GG Art. 16a; AuslG § 51 Abs. 1; AuslG § 53
Auszüge:

Die Kläger haben keinen Anspruch darauf, als politisch Verfolgte im Sinne von Art. 16 a Abs. 1 GG anerkannt zu werden. Sie können auch nicht die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG oder von Abschiebungshindernissen nach § 53 AuslG verlangen.

Der Senat hat erhebliche Zweifel, ob der Kläger zu 1. vor seiner Ausreise in seiner Heimat im Südosten der Türkei von einer individuellen asylerheblichen Verfolgung betroffen oder bedroht war.

Die Frage, inwieweit die Angaben des Klägers zu 1. der Wahrheit entsprechen, kann letztendlich allerdings dahingestellt bleiben. Auch wenn der Senat auf Grund der Darstellungen des Klägers zu 1. und unter Hinzunahme der Angaben der Klägerin zu 2. eine individuelle Vorverfolgung des Klägers zu 1. durch Verhaftungen und dabei erlittene Misshandlungen wegen der Weigerung, das Dorfschützeramt zu übernehmen, unterstellt, drohten dem Kläger zu 1. im Zeitpunkt seiner Ausreise nicht landesweit asylrelevante Maßnahmen. Er war im Westen der Türkei vor politischer Verfolgung hinreichend sicher und dort auch - keinen sonstigen vergleichbaren Nachteilen und Gefahren ausgesetzt.

Der Senat unterstellt weiterhin, dass die Klägerin zu 2. nach der Ausreise des Klägers zu 1. die von ihr dargestellten Übergriffe der türkischen Sicherheitskräfte erlitten hat und der kleine Sohn der Familie dabei unter den im Erörterungstermin dargestellten Umständen ums Leben gekommen ist. Ob für die Klägerin zu 2. und die Kläger zu 3. bis 6. im damaligen Zeitpunkt, also nach der Ausreise des Klägers zu 1., eine inländische Fluchtalternative im Westen der Türkei bestand, sie insbesondere eine ausreichende Existenzgrundlage hätten finden können, braucht der Senat nicht zu entscheiden. Denn jedenfalls sind sie im jetzigen Zeitpunkt bei einer Rückkehr in die Türkei vor Verfolgung hinreichend sicher, weil ihnen im Westen weder Verfolgung noch eine existenzielle Gefährdung drohen.

Auch soweit Polizeirazzien in den Großstädten mit dem Ziel der Ergreifung von PKK-Mitgliedern und -Sympathisanten stattfanden und gegenwärtig noch stattfinden und es hierbei zu zahlreichen vorläufigen Festnahmen kommt, kann dies nicht als Beleg für eine allein an die Volkszugehörigkeit anknüpfende Gefährdung angesehen werden. In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass Razzien, Durchsuchungen und kurzfristige Festnahmen als solche nach Intensität und Schwere nicht ohne weiteres einen Verfolgungstatbestand erfüllen. Zudem sind Razzien mit einer beachtlichen Zahl von lang andauernden Festnahmen - ohne konkrete Verdachtsmomente oder unter willkürlichen Beschuldigungen - aus den Städten der Westtürkei in erheblichem Umfang nicht bekannt geworden.

Selbst wenn man davon ausginge, dass es Übergriffe mit asylerheblicher Intensität in ausschließlicher oder überwiegender Anknüpfung an die kurdische Volkszugehörigkeit außerhalb der Notstandsgebiete im Zeitpunkt der Ausreise des Klägers gab, kann nicht festgestellt werden, dass die Zahl der Berichtsfälle im Verhältnis zu dem in der Westtürkei lebenden kurdischen Bevölkerungsanteil so groß war und derzeit ist, dass die Gefahr für einen beliebigen in der Westtürkei lebenden Kurden, von der Polizei gerade mit Blick auf sein Volkstum asylerheblichen Maßnahmen ausgesetzt zu sein, mehr als nur eine theoretische Möglichkeit darstellte (ebenso OVG Münster, Urteil vom 27. Juni 2002 - 8 A 4782/99.A - S. 98; OVG Bremen, Urteil vom 17. März 1999 - OVG 2 BA 118/94 - S. 68; VGH Kassel, Urteil vom 5. August 2002 - 12 UE 2982/00.A - S.18).

Eine hinreichende Verfolgungssicherheit der Kurden in der Westtürkei ist auch nicht unter dem Gesichtspunkt der mittelbaren Staatsverfolgung zu verneinen. In der Westtürkei ist es in den letzten Jahren allerdings verschiedentlich zu Ausschreitungen gegen die ortsansässige kurdische Bevölkerung gekommen. Auch wenn der soziale Friede zwischen Kurden und nicht kurdischer Mehrheit als teilweise empfindlich gestört eingeschätzt wird, rechtfertigen die dokumentierten Übergriffe nach Zahl und Inhalt nicht die Annahme, Kurden seien in der Westtürkei einer aktuellen Gefährdung durch Übergriffe der türkischen Bevölkerung wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit ausgesetzt, ohne in ausreichendem Maße Schutz durch Sicherheitskräfte finden zu können (ebenso OVG Münster, Urteil vom 27. Juni 2002 - 8 A 4782/99.A -, S. 99; OVG Bremen, Urteil vom 17. März 1999 - OVG 2 BA 118.94 -, S. 73). Aus den dokumentierten Fällen geht hervor, dass es sich vielfach um spontane und situationsbedingte Reaktionen handelte, die nicht als Ausdruck einer generell feindseligen Haltung gewertet werden können (vgl. OVG Bremen, a.a.O.). Die Sicherheitskräfte sind nach den vorliegenden Berichten auch keinesfalls immer untätig geblieben (Gesellschaft für bedrohte Völker, Gutachten vom 23. September 1993 an VG Frankfurt/Main, A III 20 a; Rumpf, Gutachten vom 1. Februar 1998 an VG Berlin, S. 120 f., A VII 13 e ). Gegenwärtig fehlt es ohnehin an ethnisch bedingten Unruhen zwischen türkischen Staatsbürgern mit kurdischer Volkszugehörigkeit und solchen anderer ethnischer Abstammung (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 24. Juli 2001, S. 11, C I 32).

Dass die inländische Fluchtalternative nicht alleine dadurch entfällt, dass ein Kurde sich individuell geweigert hat, das Amt des Dorfschützers zu übernehmen, oder ein übernommenes Dorfschützeramt niedergelegt hat, entspricht der überwiegenden Rechtsprechung der Oberverwaltungsgerichte und Verwaltungsgerichtshöfe (vgl. VGH Mannheim, Urteil vom 7. Mai 2002 - A 12 S 196/00 -; OVG Saarlouis, Urteil vom 14. Februar 2001 - 9 R 4.99 -; OVG Magdeburg, Urteil vom 29. April 1999 - A 1 S 155.97 - juris; OVG Lüneburg, Urteil vom 17. Juni 1997 - 11 L 2620.92 -; OVG Hamburg, Urteil vom 19. März 1997 - BfV 10.91 - juris; VGH Kassel, Urteil vom 5. Mai 1997 - 12 UE 500.96 -; OVG Bautzen, Urteil vom 27. Februar 1997 - A 4 S 434.96 - juris). Ihr schließt sich der Senat unter Berücksichtigung der abweichenden - ständigen - Rechtsprechung des OVG Münster an. Auch das OVG Münster geht zwar nicht davon aus, dass jedwede Weigerung, das Amt eines Dorfschützers zu übernehmen, den Verdacht der Sicherheitskräfte in der Heimatregion zur Folge hat, die entsprechende Person sympathisiere mit oder unterstütze die PKK. Diejenigen, die - wie es der Kläger zu 1. in der Anhörung vor dem Bundesamt geschildert hat - lediglich im Kollektiv mit anderen (männlichen) Dorfbewohnern auf dem Dorfplatz versammelt und zur Übernahme des Dorfschützeramtes gedrängt wurden, müssen auch nach Ansicht des OVG Münster nicht mit einem individualisierten Separatismusverdacht rechnen. Diejenigen hingegen, die wegen ihrer Weigerung, das Dorfschützeramt zu übernehmen oder fortzuführen, als des Separatismus verdächtige Person individualisiert oder registriert wurden, sind nach Meinung des Gerichts gefährdet, auch in der Westtürkei bei routinemäßigen Kontrollen festgenommen und menschenrechtswidrig behandelt zu werden (vgl. OVG Münster, Urteil vom 26. Juni 2002, 8 A 4782/99.A -, S. 93 f., 101). Für diesen als "vorbelastet" bezeichneten Personenkreis entfällt nach der Rechtsprechung des OVG Münster die inländische Fluchtalternative ebenso wie für individuell Vorverfolgte, die bei ihrer Rückkehr aus anderen Gründen und mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung befürchten müssen. Der Senat ist demgegenüber auf Grund des vorliegenden Erkenntnismaterials unter Berücksichtigung der erwähnten herrschenden Rechtsprechung zu der Überzeugung gelangt, dass die Ablehnung des individuell angetragenen Dorfschützeramtes zwar bei den örtlichen Behörden zu einem allgemeinen Separatismusverdacht gegen die ablehnende Person führen kann, nicht aber zu einem konkreten Verdacht der Unterstützung der PKK. Insbesondere lässt sich nicht feststellen, dass die Ablehnung registriert wird und eine Aufnahme in eine landesweite (Fahndungs-) Liste erfolgt und daher auch im Westen der Türkei die Gefahr einer asylerheblichen Verfolgung droht.

Die in den Westen der Türkei zuwandernden Kurden finden dort auch im Allgemeinen eine Existenzmöglichkeit, wenn auch auf sehr niedrigem Niveau. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass sich alle Kurden entsprechend ihrer Religion und ihrer spezifischen Kultur dem unbedingten Gebot der gegenseitigen Hilfe im Rahmen des Großfamilienverbandes unterwerfen und daher Neuankömmlinge auf die Unterstützung bereits im Westen angesiedelter Verwandter rechnen können (vgl. Gesellschaft für bedrohte Völker, Gutachten vom 28. Januar 1997 an OVG Schleswig, A VII 9 a). Zugewanderte kurdischstämmige Personen haben jedoch kaum eine Chance auf eine dauerhafte Erwerbstätigkeit. Die ohnehin große Arbeitslosigkeit in der Türkei erschwert vor allem einen regelmäßigen und gut bezahlten Arbeitsplatz zu finden. Es wird geschätzt, dass lediglich zehn Prozent der Zuwanderer eine dauerhafte Arbeitsstelle erhalten können. Die überwiegende Zahl der Zuwanderer ist auf die Sicherung des Lebensunterhalts im so genannten Marginalsektor (Straßenverkauf ohne - gewerbliche - Lizenz, Dienstleistungen auf der Straße wie Schuhputzer, Lastträger, Parkplatzwächter etc.) oder aber auf Gelegenheitsjobs, insbesondere körperlich schwere Arbeit angewiesen (Sen/Akkaya, Gutachten vom 17. März 1997 an OVG Greifswald, A VII 33 a; Oberdiek, Gutachten vom 20. Dezember 1996 an OVG Schleswig, A VII 9 c, S. 73 ff., 79 ff.). Auch wenn danach im Westen der Türkei die wirtschaftliche Lage für die Zuwanderer prekär ist (vgl. hierzu Kaya, Gutachten vom 15. September 1997 an OVG Schleswig S. 47 ff., fi A VII 9 f.), sind sie auch durch die Unterstützung der Familienverbände nach Überwindung etwaiger Anfangsschwierigkeiten in der Lage, ihren existenznotwendigen Lebensunterhalt zu sichern. Es gibt weder Hungersnot noch eine sonstige generelle Existenzbedrohung. Dass die Zuwandererviertel keine reinen Elendsviertel waren und sind, zeigt der Umstand, dass fast 100 v.H. dieser Viertel über Leitungswasser und Strom verfügten, knapp 90 v.H. über Bad und Toilette (vgl. die Angaben bei Rumpf, Gutachten vom 1. Februar 1998 an VG Berlin, A VII 13 e, S. 113). Diskriminierungen von Kurden beim Zugang zum Arbeitsmarkt konnten in dieser Zeit im Westen nicht festgestellt werden. Im Übrigen ist zu berücksichtigen, dass an der Sicherung des Existenzminimums alle Familienmitglieder beteiligt sind (vgl. Rumpf, Gutachten vom 17. November 1992 an OVG Hamburg, A 1152 b).

Ewas anderes kann bei der Umsiedlung oder Rückkehr nicht oder nur schlecht ausgebildeter alleinstehender Frauen mit minderjährigen Kindern gelten (vgl. OVG Münster, Urteil vom 27. Juni 2002, a.a.O. S. 105).

Die Kläger können sich nicht auf beachtliche Nachfluchtgründe berufen. Es liegen weder im Hinblick auf die exilpolitischen Aktivitäten des Klägers zu 1. subjektive noch objektive - asylrechtlich oder im Rahmen des § 51 Abs. 1 AuslG relevante - Nachfluchtgründe vor. Der Kläger zu 1. weist insoweit substanziiert einzig auf die Teilnahme an der Demonstration vor dem Türkischen Generalkonsulat am 21. Mai 1997 hin. Bei dieser kleinen Demonstration ist er ausweislich der Strafakten festgenommen und anschließend vom Amtsgericht Tiergarten wegen Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte zu einer Geldstrafe verurteilt worden. Ob seine Behauptung stimmt, er habe dort neben anderen Rednern eine Rede durch ein Megaphon gehalten, kann dahingestellt bleiben. Denn der Kläger zu 1. hat selbst angegeben, nur gesprochen und dabei nicht direkt die PKK, sondern nur die kurdische Sache unterstützt zu haben. Dies wird indirekt dadurch bestätigt, dass gegen ihn, im Gegensatz zu den anderen Rednern, nicht wegen Verstoßes gegen das Vereinsgesetz ermittelt worden ist. Selbst wenn man eine Beobachtung der Demonstranten durch die türkischen Sicherheitskräfte unterstellt, kann angesichts dieser offensichtlich einmaligen und nur ganz kurzen Exposition des Klägers zu 1. nicht festgestellt werden, dass er von den türkischen Sicherheitskräften als Anführer und Aufwiegler angesehen und identifiziert worden ist.

Die Kläger müssen bei der Einreise nicht mit asylerheblichen Übergriffen wegen der Asylantragstellung in Deutschland rechnen. Für zurückkehrende kurdische Asylbewerber stellt die Gefahr, an der Grenze oder auf dem Flughafen asylrelevanten Übergriffen ausgesetzt zu sein, eine bloße theoretische Gefahr dar, sofern in ihrer Person keine Besonderheiten vorliegen (vgl. bereits: Urteil des Senats vom 25. September 2003, a.a.O. UA S. 18 ff.). Auch die hier unterstellte individuelle Weigerung, das Dorfschützeramt zu übernehmen, führt nicht zu einer Gefährdung bei der Einreise.

Es kann nicht festgestellt werden, dass abgeschobene Asylbewerber kurdischer Volkszugehörigkeit regelmäßig, also auch beim Fehlen individueller Verdachtsmomente, damit rechnen müssen, bei der Einreise in die Türkei asylerheblichen Misshandlungen oder Folter ausgesetzt zu werden. Die Tatsache der Asylantragstellung bleibt zwar nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes bei der Einreise regelmäßig nicht verborgen. Sie stellt aber im Allgemeinen für sich keinen Umstand dar, der geeignet wäre, bei den türkischen Stellen Argwohn gegen den Betreffenden zu erwecken.