VG Braunschweig

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Zitieren als:
VG Braunschweig, Urteil vom 19.03.2004 - 6 A 66/03 - asyl.net: M5051
https://www.asyl.net/rsdb/M5051
Leitsatz:

Das VG kann ein fachärztliches Attest, das eine posttraumatische Belastungsstörung bescheinigt, als nicht aussagekräftig ansehen, wenn es nicht nachvollziehbar ist, weil es insbesondere keine den anerkannten wissenschaftlichen Anforderungen genügende Begründung enthält, weil es von anderen, nicht offensichtlich unzureichenden ärztlichen Stellungnahmen abweicht oder weil es nicht erkennen lässt, dass objektiv bestehende, diagnoserelevante Zweifel nicht berücksichtigt wurden.(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Serbien und Montenegro, Roma, Kosovo, Traumatisierte Flüchtlinge, Psychische Erkrankung, Posttraumatische Belastungsstörung, Depression, Fachärztliche Stellungnahmen, Glaubwürdigkeit, Situation bei Rückkehr, Abschiebungshindernis, Medizinische Versorgung, Extreme Gefahrenlage, Sicherheitslage, Erlasslage
Normen: AuslG § 53 Abs. 6; VwVfG § 51
Auszüge:

Die Kläger haben weiterhin keinen Anspruch auf Abschiebungsschutz nach § 53 AuslG.

Für die Bevölkerungsgruppen der Roma und Ashkali aus dem Kosovo sind die Voraussetzungen, unter denen wegen erheblicher allgemeiner Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit gemäß § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG von der Abschiebung abgesehen werden kann, gegenwärtig jedenfalls nicht erfüllt (ebenso: Nds. OVG, Beschl. vom 29.08.2001 - 12 LB 2331/01 -, vom 26.07.2001 - 12 LB 1854/01 - und vom 12.06.2001 - 8 L 516/97 -; OVG Schleswig-Holstein, Beschl. vom 04.12.2003 - 3 LB 51/01 -Thür. OVG, Urt. vom 25.04.2002 - 3 KO 264/01 -; Bay. VGH, Beschl. vom 08.04.2002, AuAS 2002, 116; OVG Rheinland-Pfalz, Urt. vom 30.10.2001 - 7 A 11967/98.OVG -; VGH Baden-Württemberg, Urt. vom 20.09.2001 - A 14 S 2130/00 -; vgl. auch BVerwG, Urt. vom 12.07.2001, DVBl. 2001, 1531).

Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG wegen der allgemeinen Gefahrenlage kommt ausnahmsweise allein dann in Betracht, wenn die Angehörigen der fraglichen Bevölkerungsgruppe nicht anderweitig geschützt sind und wenn sie im Falle der Abschiebung in ihre Heimat auf Grund einer dort bestehenden extremen Gefahrenlage gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würden.

Dies ist gegenwärtig für Roma aus dem Kosovo jedoch nicht der Fall.

Nach dem Erlass des Nds. Innenministeriums vom 18. Juni 2002 in der Fassung des Erlasses vom 6. Januar 2003 und des Erlasses des Nds. Ministeriums für Inneres und Sport vom 9. April 2003 haben Roma aus dem Kosovo derzeit nicht mit einer Abschiebung nach Serbien und Montenegro zu rechnen.

Unabhängig davon enthalten die vorliegenden Erkenntnismittel keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass Roma im Kosovo einer extremen, den Schutz nach § 53 AuslG erfordernden allgemeinen Gefahrenlage ausgesetzt sind (vgl. Bay. VGH, Beschl. vom 08.04.2002, aaO., S. 118; VG Braunschweig, Urt. vom 10.09.2003 - 6 A 46/03 -).

Auch die Voraussetzungen für die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG aus individuellen Gründen sind nicht erfüllt. Insbesondere lässt sich den vorliegenden Unterlagen nicht entnehmen, dass den Klägern aus gesundheitlichen Gründen Abschiebungsschutz zu gewähren ist.

Die vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen genügen nicht den Anforderungen, die an Sachverständigenäußerungen zum Nachweis von Abschiebungshindernissen wegen gesundheitlicher insbesondere psychischer Beeinträchtigungen zu stellen sind.

Das Gericht hat aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens nicht die gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO erforderliche Überzeugung gewinnen können, dass die eine Posttraumatische Belastungsstörung attestierenden ärztlichen Bescheinigungen tragfähig sind. Liegt ein fachärztliches Attest vor, das dem Ausländer eine Posttraumatische Belastungsstörung bescheinigt, so kann das Gericht zwar regelmäßig mangels hinreichender eigener Sachkunde die Bescheinigung nicht von sich aus als nicht aussagekräftig ansehen (vgl. Nds. OVG, Beschl. vom 14.09.2000 - 11 M 2486/00 -). Anders ist es aber dann, wenn die Bescheinigung nicht nachvollziehbar ist, weil sie insbesondere keine den anerkannten wissenschaftlichen Anforderungen genügende Begründung enthält, weil sie von anderen, nicht offensichtlich unzureichenden ärztlichen Stellungnahmen abweicht oder weil sie nicht erkennen lässt, dass objektiv bestehende, diagnoserelevante Zweifel berücksichtigt wurden. Dies ist hier der Fall.

Die in den Attesten Dr. B. s (...) getroffene Diagnose, die Kläger zu 1) und 2) litten an einer Posttraumatischen Belastungsstörung, ist unter Berücksichtigung aller Unterlagen gegenwärtig nicht nachvollziehbar. Dies ergibt sich schon daraus, dass Dr. B. selbst in einem Attest vom (...) zu einer abweichenden Diagnose gekommen ist. In dieser Bescheinigung ist nur von "rezidivierenden, migräneartigen Kopfschmerzen und depressiven Verstimmungen bei reizbarer Persönlichkeit" die Rede. Eine Begründung für die uneinheitlichen Äußerungen lässt sich den vorliegenden Bescheinigungen nicht entnehmen. Auch Dr. D. hat den Klägern zu 1) und 2) in seinen Attesten vom (...) lediglich einen Migräneverdacht bzw. eine Migräne und Unruhezustände bescheinigt.

Die Bescheinigungen, in denen Dr. B. den Klägern zu 1) und 2) eine Posttraumatische Belastungsstörung attestiert, enthalten auch keine konkreten Angaben dazu, auf welchen Trauma auslösenden Ereignissen und auf welcher Tatsachengrundlage im Übrigen diese Diagnose beruht (vgl. zu diesen Erfordernissen z. B. Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften: Leitlinien Psychotherapeutische Medizin und Psychosomatik Posttraumatische Belastungsstörung, www.uni-duesseldorf.de/AWMF; Projektgruppe "Standards zur Begutachtung psychotraumatisierter Menschen": Standards zur Begutachtung psychisch reaktiver Traumafolgen; Treiber, Asylpraxis Band 7, S. 15, 18 f. m.w.N.). Nachvollziehbare Ausführungen dazu wären aber schon deshalb erforderlich gewesen, weil das Attest vom 3. Februar 2003 zu den möglichen Ursachen der psychischen Probleme noch erklärt: "Primär genetisch; Verstärkung durch Umweltfaktoren wie Heimatverlust, lange Verfahrensdauer". Auch die in der mündlichen Verhandlung erfolgten Angaben der Kläger zu den Ursachen ihrer psychischen Probleme deuten nicht konkret auf Traumata hin, die durch Erlebnisse in ihrer Heimat entstanden sind und durch die Rückkehr in einer Leib oder Leben gefährdenden Weise aktualisiert oder verstärkt werden könnten. Psychische Beeinträchtigungen, die ausschließlich durch die Situation des Ausländers im Bundesgebiet verursacht sind, können zielstaatsbezogene, in dem vorliegenden Asylverfahren zu berücksichtigende Abschiebungshindernisse nicht begründen (vgl. VG Braunschweig, Beschl. vom 11.03.2004 - 6 B 175/04 - m.w.N.).

Darüber hinaus setzen sich die eine Posttraumatische Belastungsstörung feststellenden Bescheinigungen nicht kritisch mit der Frage auseinander, ob die der Diagnose zu Grunde gelegten Angaben der Kläger glaubhaft sind. Zu solchen Ausführungen hätte hier Anlass bestanden. Die Kläger zu 1) und 2) halten sich seit 1989 ununterbrochen im Bundesgebiet auf, haben jedoch erstmals in dem vorliegenden Verfahren mit Schreiben vom 2. Januar 2003 behauptet, unter psychischen Beeinträchtigungen im Sinne Posttraumatischer Belastungsstörungen zu leiden; nach eigenen Angaben sind sie erst seit 2002 deswegen in Behandlung. Zwar ist nach den fachwissenschaftlichen Erkenntnissen möglich, dass die eine Posttraumatische Belastungsstörung kennzeichnende Symptomatik erst mit einer mehrjährigen Verzögerung nach dem traumatischen Geschehen auftritt (vgl. Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften, aaO.). In derartigen Fällen setzt eine nachvollziehbare fachärztliche Diagnose jedoch in aller Regel eine kritische, einzelfallbezogene Würdigung der Umstände voraus, weil ein um mehr als sechs Monate nach dem Trauma verzögerter Eintritt der Störungen nach der fachwissenschaftlichen Literatur selten ist (vgl. Lindstedt, Asylpraxis Band 7, S. 97, 122; VG Gera, Beschl. vom 04.10.2002 - 1 E 1055/02 GE -). Darüber hinaus kann nach den Erfahrungen aus einer Vielzahl von Fällen abgelehnter Asylsuchender nicht mit hinreichender Sicherheit ohne weiteres ausgeschlossen werden, dass psychische Probleme erst deswegen so spät geltend gemacht worden sind, weil sie entweder ohne tatsächliche Grundlage als letztes Mittel zur Abwendung einer drohenden Aufenthaltsbeendigung vorgeschoben werden sollen oder auf Faktoren beruhen, die in der für den Betroffenen ungewissen Situation in Deutschland ihre Ursache haben.

Im vorliegenden Fall kommt hinzu, dass die Kläger sich jahrelang ohne ärztliche oder psychologische Hilfe im Bundesgebiet aufgehalten haben, ohne dass nach den vorliegenden Äußerungen und Bescheinigungen erkennbar ist, dass ihr Gesundheitszustand nennenswert beeinträchtigt war.

Selbst wenn von einer Posttraumatischen Belastungsstörung auszugehen wäre, ließe sich mit den vorliegenden Attesten ein Anspruch auf Abschiebungsschutz nicht begründen. Die Bescheinigungen enthalten keine Angaben dazu, wie sich eine unzureichende Behandlung auf den Gesundheitszustand der Kläger auswirken würde. Solche Angaben sind schon deswegen erforderlich, weil die Belastungsstörungen nicht zwangsläufig zu wesentlichen oder gar lebensbedrohenden Beeinträchtigungen der Gesundheit und damit zu einem Gefährdungsgrad führen, wie er für einen Anspruch auf Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG vorliegen muss (vgl. VG Stuttgart, Urt. vom 20.12.2001 - 5 K 10899/99 -; VG Gera, aaO.).

Unabhängig davon ist nach den vorliegenden Attesten aber jedenfalls auch nicht ersichtlich, dass die bescheinigten Posttraumatischen Belastungsstörungen im Kosovo nicht adäquat behandelt werden könnten.