OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 16.02.2004 - 14 A 548/04.A - asyl.net: M4884
https://www.asyl.net/rsdb/M4884
Leitsatz:

Psychisch Erkrankte sind keine Gruppe gem. § 53 Abs. 6 S. 2 AuslG.(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Serbien und Montenegro, Kosovo, Traumatisierte Flüchtlinge, Psychische Erkrankung, Posttraumatische Belastungsstörung, Situation bei Rückkehr, Abschiebungshindernis, Allgemeine Gefahr, Gefahrenbegriff, Auslegung, Suizidgefahr, Medizinische Versorgung, Berufungszulassungsantrag, Grundsätzliche Bedeutung
Normen: AsylVfG § 78 Abs. 3 Nr. 1; AsylVfG § 78 Abs. 3 Nr. 2; AuslG § 53 Abs. 6
Auszüge:

Die Beklagte hat keine Zulassungsgründe im Sinne des § 78 Abs. 3 AsylVfG entsprechend dem Erfordernis des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylVfG dargelegt.

Das Verwaltungsgericht hat auf der Grundlage des von ihm eingeholten Sachverständigengutachtens festgestellt, dass die Klägerin aufgrund ihres persönlichen Erlebens im Kosovo unter einer posttraumatischen Belastungsstörung (F 43.1 nach ICD 10) leidet und von einer "sehr ernst zu nehmenden suizidalen Gefährdung" für den Fall auszugehen ist, dass sie in ihr Heimatland zurückkehren muss, und ist deshalb von einem Abschiebungshindernis gemäß § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG ausgegangen. Die Beklagte hält für grundsätzlich klärungsbedürftig (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG), ob die seit 1991 durch Bürgerkrieg oder Krieg traumatisierten Personen aus dem Kosovo, bei denen es sich um eine große Zahl handele, eine Bevölkerungsgruppe im Sinne des § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG bilden (S. 1f. des Zulassungsantrags). Dabei geht die Beklagte ersichtlich allein von psychischen Traumatisierungen mit Krankheitswert aus (S. 2), etwa im Sinne der posttraumatischen Belastungsstörung.

Schon der tatsächliche Ausgangspunkt ist von der Beklagten nicht dargelegt. Ihre Behauptung (S. 2), dass "nicht ernstlich abgestritten" werden könne, dass "eine große Gruppe" der kosovarischen Bevölkerung von derartigen psychischen Traumatisierungen mit Krankheitswert betroffen ist, deutet darauf hin, dass sie diesen Befund für offensichtlich hält. Der Senat hat keine entsprechenden Erkenntnisse. Dem Senat ist zwar bekannt, dass in zahlreichen Fällen Traumatisierungen unter Vorlage ungeeigneter ärztlicher Bescheinigungen behauptet werden. Auf die Zahl der Personen mit behaupteter Traumatisierung kommt es jedoch nicht an. Eine zahlenmäßige Erhebung von Personen aus dem Kosovo, bei denen eine durch Bürgerkrieg oder Krieg verursachte psychische Traumatisierung mit Krankheitswert fachwissenschaftlich diagnostiziert worden ist, liegt dem Senat nicht vor.

Aber selbst wenn feststünde, dass es eine nennenswerte Zahl derart Erkrankter gibt, würde sich die von der Beklagten aufgeworfene Frage nicht in der formulierten Breite in einem Berufungsverfahren stellen. Denn für die Gewährung von Abschiebungsschutz gemäß § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG und die insoweit sich aus Satz 2 dieser Vorschrift ergebende Begrenzung kommt es allein auf solche Erkrankungen an, bei denen bei einer Abschiebung die in dieser Vorschrift genannten Gefahren bestehen. Der Senat hat angesichts des vielfältigen Symptombildes der posttraumatischen Belastungsstörung (vgl. etwa die Darstellung in Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 259. Auflage, 2002, keine Anhaltspunkte dafür, dass in jedem Fall davon auszugehen ist, dass die Rückkehr in das Kosovo Gefahren erwarten lässt, die die Notwendigkeit von Abschiebungsschutz begründen. Es liegt in der Natur einer psychischen Erkrankung, die auf von vielen Menschen in gleicher oder ähnlicher Weise erlebten Ereignissen beruht, dass sie nicht allein durch diese Ereignisse entsteht, sondern vielmehr in der Individualität des Erlebenden ihre Ursache hat. Deshalb ist in der obergerichtlichen Rechtsprechung anerkannt, dass Personen, die als Folge individueller Kriegsereignisse traumatisiert sind, keine Bevölkerungsgruppe im Sinne des § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG darstellen (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 19. November 1999 - 19 ? 1599/98 -).

Dieser Individualität der Krankheitsentstehung und -ausbildung entspricht es, dass das Verwaltungsgericht im vorliegenden Fall auf der Grundlage des Sachverständigengutachtens eine erhebliche Suizidalität für den Fall der Rückkehr ins Heimatland und damit eine Komplikation des klinischen Krankheitsbildes festgestellt hat. Unter Zugrundelegung dieser Sachlage und den nicht angegriffenen Feststellungen des Verwaltungsgerichts zum Krankheitszustand der Klägerin lässt sich den Darlegungen der Beklagten keine rechtlich grundsätzliche oder in tatsächlicher Hinsicht verallgemeinerungsfähige Frage entnehmen, die in einem Berufungsverfahren zu klären wäre.