VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Beschluss vom 20.01.2004 - 12 TG 3204/03 - asyl.net: M4755
https://www.asyl.net/rsdb/M4755
Leitsatz:

1. Die Zulässigkeit eines Antrags auf vorläufigen Rechtsschutz gegen den Sofortvollzug einer Ausweisungsverfügung kann nicht mit dem Hinweis auf eine anderweitige Ausreisepflicht wegen fehlenden Rechtsschutzinteresses verneint werden, wenn die Ausländerbehörde lediglich die vollziehbare Ausreiseverpflichtung im Anschluss an die Ausweisungsverfügung zu vollziehen beabsichtigt.

2. Das Rechtsschutzbedürfnis für ein vorläufiges Rechtsschutzverfahren gegen eine Ausweisungsverfügung und eine Abschiebungsandrohung entfällt grundsätzlich nicht mit der Abschiebung des Ausländers während des Verfahrens.

3. Macht die Ausländerbehörde von der ihr eingeräumten Möglichkeit, Unterbrechungen des rechtmäßigen Aufenthalts durch eine verspätete Antragstellung nach § 97 AuslG außer Betracht zu lassen, Gebrauch, so ist der Aufenthalt des Ausländers bis zur Entscheidung über den Verlängerungsantrag gemäß § 69 Abs. 3 AuslG erlaubt. (amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: D (A), Ausländer, Aufenthaltserlaubnis, Verlängerung, Fristen, Fristversäumnis, Duldung, Erlaubnisfiktion, Ausweisung, Straftäter, Raub, Räuberische Erpressung, Regelausweisung, Jugendstrafe, Freiheitsstrafe, Sofortvollzug, Vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Zulässigkeit, Abschiebung, Rechtsschutzinteresse
Normen: AuslG § 47 Abs 2; AuslG § 69 Abs 3; AuslG § 7 Abs 2; AuslG § 72;
Auszüge:

Entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts erweist sich der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs des Ast. hinsichtlich der von der Ausländerbehörde für sofortvollziehbar erklärten Ausweisung nicht im Hinblick auf eine anderweitige Ausreisepflicht des Ast. als unzulässig. Damit besteht ein schützenswertes Interesse auch an der Fortführung dieses Rechtsschutzbegehrens mit der Beschwerde.

Zwar kann und muss ein Klage- oder Antragsbegehren als unzulässig angesehen werden, wenn sich die Positionen des Rechtsmittelführers auch im Falle seines Erfolgs nicht günstiger darstellen würden, die Rechtsverfolgung also keinen rechtlichen oder tatsächlichen Vorteil verspricht (dazu m.w.N. Hess. VGH, 19.3.2002 - 12 TG 165/02 -, EZAR 040 Nr. 5 = AuAS 2002, 125). Das Verwaltungsgericht hat aber hier ein Rechtsschutzbedürfnis bezüglich der Ausweisung zu Unrecht mit der Begründung verneint, mit der vom Ast. angestrebten Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung würde sich seine Rechtsposition nicht verbessern, weil er unabhängig von der Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht aufgrund der für sofort vollziehbar erklärten Ausweisung (vgl. §§ 42 Abs. 2 Satz 2, 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO) schon seit 8. Juli 1999 infolge Ablaufs der zuvor erteilten Aufenthaltserlaubnis vollziehbar ausreisepflichtig sei (§ 42 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AuslG). Der Ast. habe nämlich nicht spätestens bei Ablauf der bis 7. Juni 1999 geltenden Aufenthaltserlaubnis deren Verlängerung beantragt.

Hierzu ist zunächst daran zu erinnern, dass ein Ausländer Eilrechtsschutz grundsätzlich gegenüber jeder ausländerbehördlichen Maßnahme in Anspruch nehmen kann, die seine sofortige Abschiebung aus Deutschland ermöglicht. Bei einer aus mehreren Gründen bestehenden Ausreisepflicht kommt es für die Zulässigkeit einstweiligen Rechtsschutzes zunächst einmal und vor allen Dingen darauf an, ob die Abschiebung nur aufgrund einer oder aufgrund mehrerer Behördenbescheide droht (Hess. VGH. 19.03.2002, a.a.O.); denn nur gegen einen konkret drohenden Vollzug kann einstweiliger Rechtsschutz beantragt und gewährt werden. So kann Rechtsschutz gegen die Vollziehung der Ausreisepflicht aufgrund einer Asylablehnung nicht mit der Begründung versagt werden, der Ausländer sei auch wegen Fehlens einer Aufenthaltsgenehmigung oder aufgrund einer Ausweisung ausreisepflichtig, wenn die Ausländerbehörde erklärtermaßen die Abschiebungsandrohung des Bundesamts für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge auszuführen beabsichtigt und nicht die in der Ausweisungsverfügung enthaltene eigene Abschiebungsandrohung. Einerseits kann nämlich

die Ausländerbehörde zwischen mehreren Grundlagen für eine zwangsweise Aufenthaltsbeendigung wählen, andererseits kann dem Ausländer, der nach Art. 19 Abs. 4 GG garantierte vorläufige Rechtsschutz gegenüber einer konkreten Abschiebungsmaßnahme nicht deswegen versagt werden, weil die Abschiebung auch aus anderen, von der Ausländerbehörde aber nicht in Anspruch genommenen Gründen vorgenommen werden könnte. Sonst wäre der Betroffene dieser Art Vollzugsmaßnahmen schutzlos ausgeliefert, weil ihm eine Abschiebung auf dieser weiteren Grundlage jedenfalls vorerst nicht ernsthaft droht und ihm gerichtliche Hilfe gegen die bevorstehende Abschiebung auf der ersten Grundlage mit Hinweis auf die auch sonst bestehende Äusreisepflicht versagt wird.

Nach der Entscheidung des Verwaltungsgerichts stellt sich die Lage für den Ast. so dar, dass dieser aus zweierlei Gründen ausreisepflichtig war: wegen Ablaufs der Aufenthaltserlaubnis seit 8. Juli 1999 und infolge der Ausweisung seit der am 23. Juni 2003 erfolgten Zustellung der Ausweisungsverfügung. Zu Unrecht hat das Verwaltungsgericht bei dieser Sachlage angenommen, der Ast. dürfe angesichts der gesetzlich begründeten vollziehbaren Ausreisepflicht (§ 42 Abs. 1, Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AuslG) einstweiligen Rechtsschutz gegen die Vollziehung der sofort vollziehbaren Ausreisepflicht aufgrund der mit Sofortvollzug ausgestatteten Ausweisung (§ 42 Abs. 2 Satz 2 AuslG) einstweiligen Rechtsschutz nicht in Anspruch nehmen. Denn tatsächlich drohte dem Ast. die Abschiebung nicht wegen Ablaufs der vorherigen Aufenthaltserlaubnis, sondern allein aufgrund der Ausweisung. Die Ausländerbehörde hat die auf dem Fehlen einer Aufenthaltserlaubnis beruhende Ausreisepflicht weder vor noch bei noch nach Erlass der Ausweisungsverfügung erwähnt und die Abschiebungsandrohung folgerichtig ausschließlich auf die Ausweisung gestützt. Unter diesen Umständen bedeutete die Versagung einstweiligen Rechtsschutzes gegenüber der Vollziehung der Ausweisung mit dem Hinweis auf eine anderweitige Ausreisepflicht einen im Hinblick auf die Garantie des Art. 19 Abs. 4GG unzulässigen vollständigen Ausschluss des Ast. vom vorläufigen Rechtsschutz.

Dem Rechtsschutzinteresse des Ast. an der Einlegung der Beschwerde und der Fortführung des Beschwerdeverfahrens steht nicht die am 10. November 2003 erfolgte Abschiebung in die Türkei entgegen.

Wie der beschließende Senat in ständiger Rechtsprechung entscheidet, besteht für die Fortführung des Eilverfahrens auch nach dem Vollzug der Ausreisepflicht durch Abschiebung zumindest dann weiterhin ein Rechtsschutzbedürfnis, wenn zugleich nach § 50 Abs. 5 Satz 3 die Aufhebung der Vollziehung beantragt wird (zuletzt näher begründet und mit Nachw. versehen in Hess. VGH, 19.11.2003 - 12 TG 2668/03 -). Der davon abweichenden Ansicht des 9. Senats des Gerichtshofs, die dieser soweit ersichtlich erstmals in dem Beschluss vom 11. Dezember 2003 (9 TG 546/03) vertreten hat, vermag der beschließende Senat nicht zu folgen.

Zu Unrecht hat das Verwaltungsgericht die Anordnung des Suspensiveffekts hinsichtlich der Ablehnung der Anträge auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis mit der Begründung abgelehnt, die Verlängerungsanträge seien verspätet gestellt. Tatsächlich hat der Ast. erst am 16. Juli 1999 die Verlängerung der bis 7. Juli 1999 geltenden Aufenthaltserlaubnis beantragt. Er ist jedoch zumindest für das vorliegende Eilverfahren so zu behandeln, als sei sein rechtmäßiger Aufenthalt damit nicht unterbrochen. Es muss nämlich, da die Ausländerbehörde dem Ast. die verspätete Antragstellung weder mit der angegriffenen Verfügung vom 13. Juni 2003 noch sonst entgegengehalten hat, zugrunde gelegt werden, dass die Ausländerbehörde die Unterbrechung des rechtmäßigen Aufenthalts um wenige Tage gemäß § 97 AuslG außer Betracht gelassen hat (Hess. VGH. 04.12.1995 - 12 TG 3096/95 -, EZAR 025 Nr. 16 = NVwZ-RR 1997, 67 = InfAuslR 1996,133). Hierfür spricht nicht zuletzt der Umstand, dass sie dem Ast. fortlaufend Bescheinigungen über ein fiktives Aufenthaltsrecht nach § 69 Abs. 3 AuslG ausgestellt hat. Zu Recht weist das Verwaltungsgericht darauf hin, dass eine Fiktionsbescheinigung allein kein Aufenthaltsrecht schaffen kann und eine Ermessensentscheidung nach § 97 AuslG nach außen erkennbar getroffen werden muss. Diese Voraussetzungen sind aber hier nach Lage der Behördenakten jedenfalls bei summarischer Betrachtung als erfüllt anzusehen. Eine andere Beurteilung würde der Ausländerbehörde unzulässigerweise ein widersprüchliches Verhalten unterstellen.

Der nach alledem zulässige Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen die Ausweisungsverfügung und auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen die Nichtverlängerung der Aufenthaltserlaubnis und die Abschiebungsandrohung ist in der Sache nicht begründet.

Das Verwaltungsgericht hat zu Recht unter Hinweis auf die Straftaten des Ast. und die letzte Verurteilung durch das Amtsgericht A-Stadt vom 30. September 2002 wegen gemeinschaftlichen schweren Raubs zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren und elf Monaten unter Einbeziehung der Jugendstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten aus dem Urteil des Amtsgerichts A-Stadt vom 14. Dezember 1999 wegen schweren Raubs in vier Fällen, räuberischer Erpressung und Computerbetrugs die Ausweisung aufgrund von § 47 Abs. 2 Nr. I AuslG verfügt und eine Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis wegen Vorliegens eines Ausweisungstatbestands (§ 7 Abs. 2 Nr. 1 AuslG) versagt sowie eine Ausnahme von der Regelausweisung und der Regelablehnung mit zutreffender Begründung abgelehnt.

Die hiergegen mit der Beschwerde vorgebrachten Bedenken rechtfertigen keine andere Entscheidung.

Wie die Ausländerbehörde zutreffend ausgeführt hat, steht der Ausweisung des Ast. angesichts der von ihm ausgehenden schweren Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung auch nicht entgegen, dass er in Deutschland geboren und hier aufgewachsen ist.