OVG Thüringen

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Zitieren als:
OVG Thüringen, Urteil vom 26.06.2003 - 3 KO 321/01 - asyl.net: M4726
https://www.asyl.net/rsdb/M4726
Leitsatz:

Zur Gefährdung von Uiguren aus China wegen exilpolitischer Betätigung.

Schlagwörter: China, Xinjiang, Uiguren, Ostturkistanische Befreiungsorganisation, Ostturkistanische demokratische Partei, Mitglieder, Nachfluchtgründe, Subjektive Nachfluchtgründe, Exilpolitische Betätigung, Demonstrationen, Medienberichterstattung, Überwachung im Aufnahmeland
Normen: AuslG § 51 Abs. 1
Auszüge:

Zur Gefährdung von Uiguren aus China wegen exilpolitischer Betätigung.

(Leitsatz der Redaktion)

Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte zu Recht verpflichtet, festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen.

Ihm droht bei Rückkehr in sein Heimatland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung.

Ob das exilpolitische Verhalten eines - wie hier - unverfolgt aus China ausgereisten Uiguren die Gefahr einer asylrelevanten politischen Verfolgung bei Rückkehr in das Heimatland nach sich zieht, ist von mehreren Faktoren abhängig (vgl. zu weiteren Einzelheiten das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 24. Juli 2002 - 2 B 98.34950 - und die darin inhaltlich wiedergegebenen weiteren Erkenntnisquellen, S. 8 ff. des Urteilsumdrucks). Allgemein wird man insoweit die exilpolitische Betätigung eines unverfolgt ausgereisten Uiguren als asyrechtlich irrelevant "abschichten" können, die sich auf das beinahe übliche und oft lediglich der Stützung des Asylbegehrens dienende Maß beschränkt, etwa die bloße formelle Mitgliedschaft in Exilorganisationen und die - sei es auch häufige - Teilnahme an Demonstrationen. Auch im Verbund mit der Asylantragstellung und einer etwaigen illegalen Ausreise kommt einem solchen nicht exponierten exilpolitischen Verhalten Asylrelevanz in dem Sinne, dass bei Rückkehr nach China mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohte, nicht zu (ebenso: BayVGH, Urteil vom 24. Juli 2002 - 2 B 98.34950 - S. 12 f. des Urteilsumdrucks).

Erforderlich ist vielmehr ein individuelles Hervortreten aus der Vielzahl derjenigen, die gleichsam nur formell oppositionell sind (also etwa bloße Mitglieder in Exilorganisationen) oder - im eigentlichen Wortsinn - lediglich "Mitläufer" bei Demonstrationen, mögen sie dabei auch als Träger von Transparenten, als Ordner usw. wirken. Es gibt nach der Auskunftslage keinen Anhaltpunkt dafür, dass ein derartiges Verhalten bei den zuständigen Behörden in China ein solches Interesse wecken könnte, dass die betreffenden Personen bei Rückkehr nach China mit asylrelevanten Verfolgungsmaßnahmen zu rechnen hätten. Ein solches Verhalten, das in der Bundesrepublik Deutschland letztlich jedermann erlaubt und mithin ohne Furcht vor Sanktionen möglich ist, lässt für sich besehen keinerlei Rückschlüsse darauf zu, dass die entsprechende Person auch in China separatistische Unternehmungen unterstützen oder gar aktiv fördern würde und damit "gefährlich" für das Regime werden könnte. Dies gilt nicht zuletzt auch deswegen, weil ein solches Verhalten oft lediglich zur Stützung des Asylbegehrens unternommen und "die Sache" (hier etwa: die Unabhängigkeit Ostturkistans) selbst in den Hintergrund tritt oder im Einzelfall überhaupt keine ernstliche Rolle spielt und überdies von der Öffentlichkeit nicht, jedenfalls nicht mit Bezug zu der konkreten Person (etwa dem einzelnen Demonstranten) wahrgenommen wird.

Wer demgegenüber aber in einer der aktiv für die Unabhängigkeit Xinjiangs eintretenden Exilorganisation führend (insbesondere hinsichtlich der Meinungsbildung) tätig ist und in dieser Eigenschaft auch in einer breiteren Öffentlichkeit wahrgenommen wird, bei dem wird die Gefahr recht groß sein, dass sich die chinesischen Behörden für ihn "interessieren", dass er einer Überwachung und Repressalien ausgesetzt sein könnte. Dies gilt umso mehr, als nach der Auskunftslage einiges dafür spricht, dass die Auslandsaktivität chinesischer Staatsbürger von entsprechenden chinesischen Stellen beobachtet wird (vgl. etwa Weyrauch, Gutachten vom November 1998 an das VG München im Verfahren M 4 K 97.52613, S. 1 u. sowie die vom Kläger mit Schriftsatz vom 18. Juni 2003 in Kopie vorgelegten Mitteilungen des Bayerischen Landesamtes für Verfassungschutz an das VG München vom 14. Dezember 1999 und vom 24. Januar 2000), wenngleich davon nicht mit Gewissheit ausgegangen werden kann (vgl. die Auskunft von amnesty international vom 29. April 2002 an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof, S. 3).

Was den Fall des Klägers betrifft, so ist dieser angesichts der von ihm vorgetragenen exilpolitischen Betätigung und auf Grund des in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindrucks nach Einschätzung des Senats zwar kaum als ein "führender Kopf" einer oppositionellen Auslandsorganisation anzusehen und steht nicht an vorderster Stelle einer solchen Organisation. Er ist aber auch nicht lediglich "einer von vielen" Uiguren in Deutschland, die als bloßes Mitglied einer solchen Organisation wie viele andere an Demonstrationen teilnehmen und die mithin nicht individuell wahrgenommen werden, sondern mehr oder weniger in der Menge der in Deutschland um Asyl nachsuchenden Uiguren "untergehen". Vielmehr ist der Kläger schon bald nach seiner Einreise in die Bundesrepublik Deutschland mit Menschenrechtsorganisationen wie der Gesellschaft für bedrohte Völker und amnesty international in Kontakt gekommen, offenbar zusammen mit den beiden anderen Uiguren, mit denen er nach Deutschland gereist ist. Dabei ist es ihnen offenbar gelungen, ein besonderes Interesse für sich, ihr Schicksal und die Lage der Uiguren in Xinjiang zu wecken bzw. zu aktualisieren.

Jedenfalls wurde in der Folgezeit, zunächst anlässlich der ursprünglichen Ablehnung der jeweiligen Eilanträge durch das Verwaltungsgericht, über das von den drei Flüchtlingen geschilderte Vorfluchtgeschehen und ihre angebliche oppositionelle Tätigkeit in China in der regionalen undüberregionalen Presse berichtet (vgl. Frankfurter Rundschau vom 14. August 1996, S. 5, Göttinger Tageblatt vom 15. August 1996, S. 12). Namentlich wurde dabei zwar nur einer der drei, nämlich..., genannt; in der Berichterstattung der Frankfurter Rundschau indes ist der Bezug zu den beiden Mitflüchtlingen hergestellt, die ebenfalls in China "steckbrieflich gesucht" würden. Gleiches gilt für den Bericht der Gesellschaft für bedrohte Völker in ihrem sog. Kampagnenblatt "Bedrohte Völker Aktuell" (Ausgabe 111, Herbst 1996). In der regelmäßig (alle zwei Monate) erscheinenden Zeitschrift "pogrom", die ebenfalls von der Gesellschaft für bedrohte Völker herausgegeben wird, wurde in Ausgabe Nr. 191 (Oktober/November 1996) auf Seite 5 über alle drei namentlich und unter Abdruck eines Photos berichtet. Kurz darauf erschien, ebenso unter Beifügung eines Photos und Nennung aller drei Namen, ein Artikel in den von amnesty international herausgegebenen "amnesty-Nachrichten aus der Region Kassel-Göttingen" (Ausgabe 1 - Januar 1997, S. 10 f.), in dem ebenfalls über das von den dreien geschilderte Vorfluchtgeschehen, den weiteren Verlauf der gerichtlichen Eilverfahren (Anordnung der aufschiebenden Wirkung) und die Aufnahme der exilpolitischen Betätigung (Beitritt zur Ostturkistanischen Union in Europa e.V., Teilnahme an Demonstrationen und anderen "öffentlichen Aktionen") geschrieben wurde.

Die Berichte dieser Menschenrechtsorganisationen über den Kläger und die beiden Mitflüchtlinge waren jeweils Teil einer recht ausführlichen kritischen Berichterstattung über die Menschrechtslage in China bzw. Xinjiang (so etwa trug die Ausgabe 111 des vierseitigen Kampagnenblatts "Bedrohte Völker Aktuell" die Überschrift "China erdrückt kleine Völker - Uiguren und Tibeter brauchen Ihre Hilfe!). Auch das Fernsehen nahm sich des Themas an. So berichtete das ZDF im Dezember 1996 in einer Folge seiner Sendereihe "Nachbarn" über das Schicksal eines uigurischen Asylbewerbers. Ausweislich der vom Kläger vorgelegten Videoaufzeichnung dieser Sendung, die der Senat in der mündlichen Verhandlung in Augenschein genommen hat, war der Kläger in der Sendung mehrfach in einer Personengruppe zu sehen und wurde von seinem Bevollmächtigten, der sich in dieser Sendung zur Situation uigurischer Asylbewerber äußerte, neben anderen Personen namentlich vorgestellt.

Auf Grund dieser wiederholten Berichterstattung über den Kläger und die beiden anderen Mitflüchtlinge im Kontext kritischer öffentlicher Äußerungen zum Umgang der chinesischen Regierung mit Menschenrechten und der Lage der Uiguren in Xinjiang sind alle drei in einer solchen Weise aus der Masse der bloßen Mitläufer, der einfachen Organisationsmitglieder und Demonstrationsteilnehmer, und in einer für die chinesischen Behörden durchaus "interessanten" Weise individuell hervorgetreten. Angesichts dessen dürften sie mit einer nicht geringen Wahrscheinlichkeit die Aufmerksamkeit chinesischer Auslandsstellen erregt haben und unter Beobachtung geraten sein. Damit hat die fortgeführte Mitgliedschaft in oppositionellen Exilorganisationen sowie die weitere Beteiligung an Protesten und Demonstrationen gegen die Poltitik der chinesischen Regierung und für die Unabhängigkeit Ostturkistans im Hinblick auf eine etwaige Gefährdung bei Rückkehr nach China von vornherein ein anderes Gewicht als bei der breiten Masse von Mitläufern.