OVG Sachsen

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Zitieren als:
OVG Sachsen, Urteil vom 09.10.2003 - A 3 B 4054/98 - asyl.net: M4610
https://www.asyl.net/rsdb/M4610
Leitsatz:

Keine Gruppenverfolgung von Kurden; keine inländische Fluchtalternative in der Westtürkei für Kurden, die bei den Sicherheitskräften im Heimatort im Verdacht der Sympathie für die militante kurdische Bewegung stehen; keine landesweite Verfolgung wegen Ablehnung oder Niederlegung des Dorfschützeramtes(Leitsatz der Redaktion).

Schlagwörter: Türkei, Kurden, Dorfschützer, Zwangsrekrutierung, Desertion, PKK, Verdacht der Unterstützung, Gruppenverfolgung, Regionale Gruppenverfolgung, örtlich begrenzte Gruppenverfolgung, Interne Fluchtalternative, Existenzminimum, Verfolgungssicherheit, Situation bei Rückkehr, Grenzkontrollen
Normen: AuslG § 51 Abs. 1
Auszüge:

Der Beigeladene erfüllt nicht die Voraussetzungen dafür, dass ihm Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG zu gewähren ist.

Allein wegen seiner kurdischen Volkszugehörigkeit steht dem Beigeladenen ein solcher Schutzanspruch nicht zu.

In seinen beiden grundlegenden Entscheidungen vom 27.2.1997 - A 4 S 293/96 und A 4 S 434/96 - hat der seinerzeit für das gesamte Asylrecht zuständige 4. Senat des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts festgestellt, dass Kurden in der Türkei in keinem Landesteil bisher, derzeit und auf absehbare Zukunft allein wegen ihrer Volkszugehörigkeit einer unmittelbaren staatlichen Gruppenverfolgung ausgesetzt waren bzw. sind. An dieser Einschätzung hat er auch unter Berücksichtigung der weiteren Entwicklung in der Türkei nach der Festnahme Öcalans festgehalten (vgl. Urt. v. 28.9.1999 - A 4 S 249/97 -) und sie in ständiger Rechtsprechung fortgeführt (vgl. zuletzt Urt. v. 18.12.2001 - A 4 B 4379/97 -). Der erkennende Senat, der seit dem 1.1.2002 für Asylverfahren betreffend das Herkunftsland Türkei zuständig ist, schließt sich dieser Einschätzung an, zumal weder der Tatsachenvortrag der Beteiligten in diesem Verfahren noch die zwischenzeitlich eingegangenen Erkenntnismittel eine andere Beurteilung rechtfertigen.

Aber selbst wenn man unterstellt, dass Kurden in einigen Provinzen im Südosten der Türkei einer regionalen oder örtlich begrenzten Gruppenverfolgung unterliegen können, steht ihnen jedenfalls im westlichen Tell der Türkei eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung.

Vor politischer Verfolgung in der Westtürkei nicht hinreichend sicher können allerdings solche Personen aus den südöstlichen Regionen der Türkei sein, die bei den Sicherheitskräften am Heimatort aufgrund konkreter Anhaltspunkte weiterhin im Verdacht stehen, mit der militanten kurdischen Bewegung zu sympathisieren. Das Verwaltungsgericht hat - den Bescheid des Bundesamtes vom 4.3.1996 bestätigend - den Beteiligten diesem Personenkreis zugerechnet und hierzu ausgeführt, der Beigeladene erscheine angesichts seiner offiziellen Registrierung als Dorfschützer auch durch Übersiedlung in den Westen nicht hinreichend sicher vor einer Verfolgung, da er durch sein Verhalten d.h. die Niederlegung des ihm aufgenötigten und unter anhaltenden Bedrängnissen eine Zeit lang ausgeübten Dorfschützeramtes - u.a. die Vermutung nahelege, "selbst Mitglied der PKK geworden zu sein". Dieser Einschätzung des Verwaltungsgerichts kann nicht gefolgt werden.

Richtig ist allerdings, dass gerade auch zu der Zeit, als der Beigeladene nach seinen Angaben Dorfschützer war, die Ablehnung des Dorfschützeramtes bei den örtlichen Sicherheitskräften den Verdacht hat auslösen können, der Betreffende sympathisiere mit der PKK, mit der Folge, dass es vor Ort zu Übergriffen gegen ihn kommen konnte. Indes besteht auch für diesen Personenkreis im Westen der Türkei eine inländische Fluchtalternative.

Den neueren Erkenntnisquellen bis in die jüngste Zeit hinein sind ebenfalls keine greifbaren Anhaltspunkte oder Hinweise zu entnehmen, die eine andere Beurteilung nahe legen könnten. So geht etwa Kaya in seiner Stellungnahme vom 18.8.1998 an das VG Würzburg davon aus, dass jemand, der sich dem Dorfschützeramt entzogen hat, dann, wenn er in sein Heimatdorf zurückkehren sollte, von den lokalen Sicherheitsbehörden "belästigt" werde; von einer landesweiten Verfolgung kann danach aber nicht gesprochen werden (vgl. auch seine Stellungnahme vom 15.3.2002 an das VG Sigmaringen). Auch das Auswärtige Amt führt aus, dass es unwahrscheinlich sei, dass ehemalige Dorfschützer, die ihr Amt niedergelegt hätten, im Westen der Türkei gesucht würden; das Auswärtige Amt sieht weder die Möglichkeit, dass ehemalige Dorfschützer im Westen der Türkei z. B. bei einer routinemäßigen Identitätskontrolle behelligt werden könnten, noch die Gefahr, dass sie systematisch verfolgt werden (vgl. Auskünfte v. 11.11.1996 an VG Gera und v. 21.9.2001 an VG Bremen). Schließlich geht auch amnesty international in seiner Stellungnahme vom 18.7.2003 an das VG Frankfurt/Main davon aus, dass für die Gruppe der ehemaligen Dorfschützer im Westen der Türkei keine pauschale Gefährdung prognostiziert werden kann.

Die Annahme, dass die bloße Verweigerung oder Niederlegung des Dorfschützeramtes nicht dazu führt, dass die inländische Fluchtalternative entfällt, ist auch in der Breite der obergerichtlichen Rechtsprechung vorherrschend (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 7.5.2002 - A 12 S 196/00 -; OVG Saarland, Urt. v. 14.2.2001 - 9 R 4/99 -; OVG Sachsen-Anhalt, Urt v. 29.4.1999 - AIS 155/97 -; Hessischer VGH, Urt. v. 5.5.1997 - 12 UE 500/96 -; Hamburgisches OVG, Urt. v. 19.3.1997 - Bf V 10/91 -). Eine gegensätzliche Auffassung vertritt das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen in seiner ständigen Rechtsprechung (vgl. Urt. v. 27.6.2002 - 8 A 4782/99.A -, v. 25.1.2000 - 8 A 1292/96.A - und v. 28.10.1998 - 25 A 1284/96.A -), der sich das Schleswig-Holsteinische Oberverwaltungsgericht (Urt. v. 13.8.2002 - 4 L 144/95 -) angeschlossen hat. Ihr vermag der Senat aber insbesondere auch deshalb nicht zu folgen, weil darin der gewichtige, schon oben angesprochene Aspekt nicht die aus seiner Sicht gebotene Berücksichtigung findet, dass nämlich der Erkenntnislage zu entnehmen ist, dass Repressalien wegen der Weigerung, das Dorfschützeramt auszuüben, nicht in erster Linie der Bekämpfung einer PKK-Sympathie als solcher beim Betreffenden gelten. Vielmehr soll - an militärtaktischen Überlegungen ausgerichtet - erreicht werden, dass der Betreffende eine eindeutige Position bezieht, sei es, dass er sich als Dorfschützer gegen die PKK stellt, oder zur PKK "in die Berge" geht und dadurch eindeutig bekämpft werden kann oder aber - zumal Dorfschützer auch bevorzugte Ziele der Angriffe der PKK sind - eben die Gegend verlässt, womit der PKK dort die Unterstützungsmöglichkeiten genommen sind und sich somit auf diese Weise die Angelegenheit erledigt (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 7.5.2002 - A 12 S 196/00 -). Wandert er aus der Region ab, erledigt sich nicht nur das ergriffene Druck- und Beugemittel, sondern auch der nur taktisch erhobene pauschale PKK - Verdacht. Die Art der pauschalen Verdächtigung oder des allgemein erhobenen Vorwurfs der PKK-Unterstützung im Rahmen des Dorfschützer-Systems ist nicht identisch mit dem Vorwurf einer konkreten PKK-Zusammenarbeit, der zu einer landesweiten Gefährdung führt.

Hieran gemessen stand dem Beigeladenen bei seiner Flucht jedenfalls eine inländische Fluchtalternative im Westen der Türkei zur Verfügung. Ausgehend von seinem Vorbringen hat er sich in den Augen der Sicherheitskräfte nämlich nicht mehr "zuschulden" kommen lassen als dies, dass er sich der weiteren Ausübung des ihm auferlegten und gut zwei Jahre lang ausgeübten Dorfschützeramtes entzogen und seine Heimat verlassen hat. Dieses Verhalten allein kann bei den Sicherheitskräften nach der dargelegten Erkenntnislage nicht einen dahin gehenden Verdacht ausgelöst haben, dass der Beigeladene mit der PKK etwa in einer Weise sympathisiere oder sich verbunden fühle, dass er deshalb einer landesweiten Gefährdung ausgesetzt gewesen wäre. Schon gar nicht kann deshalb - wie das Verwaltungsgericht meint - bei den Sicherheitskräften der Verdacht aufgekommen sein, er sei Mitglied der PKK geworden.