OVG Sachsen

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Zitieren als:
OVG Sachsen, Urteil vom 23.10.2003 - A 1 B 114/00 - asyl.net: M4604
https://www.asyl.net/rsdb/M4604
Leitsatz:

Apostaten sind Gruppe i.S.d. § 53 Abs. 6 S. 2 AuslG; § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG wegen mangelnder Versorgung infolge von sozialer Ächtung für westlich orientierten Afghanen, der mit einer Russin verheiratet ist.(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, DVPA, Mitglieder, Konversion, Apostasie, Christen, Situation bei Rückkehr, Abschiebungshindernis, Scharia, Todesstrafe, Allgemeine Gefahr, Extreme Gefahrenlage, Mischehen, Russen, Versorgungslage, Existenzminimum, Soziale Bindungen, Hilfsorganisationen
Normen: AuslG § 53 Abs. 6
Auszüge:

Die Beteiligten streiten um das Vorliegen der Voraussetzungen des § 53 Abs. 6 AuslG.

Die Kläger zu 1) bis 3) haben jeweils einen Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG, weil ihnen wegen der einzelfallbezogenen, besonders gelagerten Gefährdungssituation in Afghanistan landesweit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine individuelle und konkrete Gefahr für Leib und Leben droht, die von der sog. Sperrwirkung des § 53 Abs. 6 S. 2 AuslG nicht erfasst wird.

Die Gefährdungen, die dem Kläger zu 1) wegen seiner - in der mündlichen Verhandlung glaubhaft dargelegten - Abkehr vom islamischen Glauben (Apostasie) in Afghanistan drohen, können nicht unmittelbar nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG berücksichtigt werden, weil sie - für sich genommen - eine ganze Bevölkerungsgruppe i.S. v. § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG betreffen. Der einzelne Apostat wird in Afghanistan zwar im Hinblick auf sein persönliches religiöses Bekenntnis, im Kern aber aus Gründen, die er aus der Sicht der Verfolger und nach deren Verhalten mit einer Vielzahl anderer Personen teilt, Gefahren ausgesetzt (zur Gruppenbildung vgl. BVerwG, Urt. v. 12.7.2001, BVerwGE 115, 1, 6 OVG NW, Urt. v. 20.3.2003- 20 A 4329/97.A -, VA S. 24).

Nach Auffassung des Senats liegen in der Person des Klägers zu 1) - bei wertender Betrachtung des Einzelfalls - jedoch besondere individuelle gefahrerhöhende Umstände vor, die eine landesweite Gefahrenlage i.S. § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG begründen.

Für die mit der Abkehr vom islamischen Glauben verbundenen Gefahren geht der Senat davon aus, dass die Apostasie (Konversion) nach dem im gesamten Land angewandten islamischen Recht als Verbrechen angesehen wird, das mit dem Tode bestraft werden kann. Daran, dass der Abfall vom Glauben im tradierten islamischen Verständnis einen hochverratsähnlichen Angriff auf das Staats- und Gesellschaftssystem darstellt (vgl. SächsOVG, Urt. v. 10.12.2002 - A 2 B 771/02 - zum Iran <nicht rechtskräftig>), der nach der in Afghanistan landesweit faktisch angewandten Scharia mit der Todestrafe bedroht ist, bestehen keine Zweifel.

Ausgehend von den Erkenntnismitteln betrifft die im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung bestehende Gefahr für den Kläger zu 1), bei einer Rückkehr nach Aghanistan als Apostat auf der Grundlage der landesweit faktisch angewandten Scharia verfolgt zu werden, nach dem erkennbaren Verfolgerverhalten eine Vielzahl von Personen, die ein gemeinsames Schicksal teilen. Die Gefährdung, die dem Kläger zu 1) wegen seiner Abkehr vom islamischen Glauben droht, betrifft damit eine ganze Bevölkerungsgruppe i.S.v. § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG - beschränkt sich also nicht etwa auf die konvertierten Zeugen Jehovas - und unterliegt bei wertender Betrachtung der sog. Sperrwirkung des § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG.

Ob in Afghanistan landesweit eine sog. extreme allgemeine Gefahrenlage besteht, Apostaten bei einer Rückkehr also gewissermaßen sehenden Auges "in den Tod geschickt" oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würden, mit der Folge, dass eine verfassungskonforme Auslegung des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG erforderlich wird, lässt sich nach dem derzeitigen Stand der Erkenntnismittel indessen nicht feststellen.

Nach Auffassung des Senats liegen - bei wertender Betrachtung des Einzelfalls - besondere individuelle gefahrerhöhende Umstände vor, die den Kläger zu 1) nach den aktuellen Gegebenheiten des Abschiebeziellands aus dem Kreis der Bevölkerung in einer Weise herausheben (vgl. Hailbronner, AuslR, Stand August 2002, § 53 AuslG RdNr. 82 a.E. m.N.), die eine landesweite Gefahrenlage i.S. § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG begründet. Aufgrund seiner Ehe mit der russischstämmigen Klägerin zu 2) und seinem jahrzehntelangen Aufenthalt im Bereich der (ehemaligen) Sowjetunion ist es dem Kläger zu 1), bei einer Rückkehr nach Afghanistan nach den zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln derzeit landesweit nicht möglich, das notwendige Existenzminimum zu sichern. Dies gilt sowohl für Kabul als dem Ort, der nach sämtlichen Erkenntnismitteln über die beste Sicherheits- und Versorgungslage verfügt - von dieser Einschätzung geht auch der Beteiligte aus (vgl. Schriftsatz v. 18.9.2003, S. I) -, als auch für die anderen Teile Afghanistans. Für eine individuelle Gefährdung des Klägers zu 1) wegen der einfachen Mitgliedschaft in der DVPA oder eine besondere Gefahrenlage wegen eines besonderen Bekanntheitsgrads in Afghanistan bestehen dagegen keine greifbaren Anhaltspunkte.

Die allgemeine Versorgungslage stellt sich - namentlich im Raum Kabul - wie folgt dar: [...]

Ausgehend davon lässt sich für den Raum Kabul, der über die landesweit beste Versorgung verfügt, an sich kein Versorgungsmangel feststellen, der eine entsprechende Anwendung von § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG auf die Bevölkerungsgruppe der Rückkehrer rechtfertigt (so auch OVG NW, Urt. v. 20.3.2003, aaO, UA S. 28; OVG Hamburg, Urt. v. 22.11.2002 - 1 Bf 154/02. A -, UA S. 11; vgl. auch Schweizerische Asylrekurskommission, Urt. v. 1.7.2003, Beilage zur NVwZ 2003, S. 81 83>). Das trifft indessen für den Kläger zu 1) nicht in gleicher Weise zu.

Der aus Kabul stammende Kläger zu 1) verfügt weder über eigene finanzielle Mittel, die ein Existenzminimum sichern könnten, noch bestehen familiäre oder sonstige Bindungen, die ein Überleben in Afghanistan ermöglichen könnten. In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger zu 1) glaubhaft dargelegt, dass es ihm trotz erheblicher Bemühungen nicht gelungen ist, etwas über den Verbleib seiner Familienangehörigen in Kabul zu erfahren. Dementsprechend ist davon auszugehen, dass die Kläger zu 1) bis 3) im Fall einer Abschiebung nach Afghanistan völlig auf sich gestellt wären, wobei nur der Kläger zu 1) die Landessprache beherrscht. Die Klägerin zu 2) und der minderjährige Kläger zu 3), die nie zuvor in Afghanistan gewesen sind und auch keine der dort gebäuchlichen Sprachen beherrschen, können zur Sicherung des Existenzminimums weder in Kabul noch in anderen Teilen des Landes beitragen. Das dadurch erschwerte Überleben unter den - ohnehin widrigsten - Bedingungen wird nach Auffassung des Senats dadurch geradezu unmöglich, dass nach den glaubhaften Ausführungen des Gutachters Dr. Danesch an das Verwaltungsgericht Bayreuth vom 31.10.2202 (S. 10) in der landesweit islamistisch geprägten Gesellschaft Afghanistans bei "Mischehen" mit russischen Frauen - egal welcher ethnischer Zugehörigkeit - von vornherein auf eine "Gottlosigkeit" oder "Sittenlosigkeit" geschlossen wird. Auch Kinder aus einer solchen Verbindung treffen auf solche Vorbehalte, die bis zu Repressalien führen und die es "schwer oder unmöglich" machen, sich in die afghanische Gesellschaft zu integrieren. Vor diesem Hintergrund hält es der Senat fur ausgeschlossen, dass der Kläger zu 1), der darüberhinaus jahrzehntelang im Bereich der ehemaligen Sowjetunion, also der früheren Besatzungsmacht, gelebt hat - ohne allerdings eine hervorgehobene oder landesweit bekannte Funktion unter der Regierung Nadjibullah bzw. der DVPA innegehabt zu haben - als stigmatisierter Außenseiter der afghanischen Gesellschaft in absehbarer Zeit das notwendige Existenzminimum für sich und die Kläger zu 2) und 3) in Afghanistan sichern könnte. Dementsprechend liegen die Vorausetzungen des § 53 Abs. 6 Satz I AuslG in der Person des Klägers zu 1) vor.

Entsprechendes gilt für die Klägerin zu 2) und den Kläger zu 3), hinsichtlich derer die Sperrwirkung des § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG nicht eingreift. Beide verfügen im Zeitpunkt der Entscheidung des Senats weder über familiäre noch sonstige Bindungen im Abschiebezielland, die ein Überleben in Kabul oder in den anderen Landesteilen ermöglichen könnten.