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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 07.10.2003 - 2 BvR 2118/01 - asyl.net: M4326
https://www.asyl.net/rsdb/M4326
Leitsatz:

Einem ausländischen Untersuchungsgefangenen dürfen nicht ohne Differenzierung im Einzelfall sämtliche Kosten für die Übersetzung seines Briefverkehrs auferlegt werden.(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: D (A), Strafrecht, Strafverfahren, Untersuchungshaft, Kosten, Dolmetscherkosten, Übersetzungskosten, Briefkontrolle, Besuchskontrolle, Gleichheitsgrundsatz, faires Verfahren, fair trial, Telefonüberwachung
Normen: GG Art. 3 Abs. 3; StPO § 464; EMRK Art. 6 Abs. 3
Auszüge:

Die Verfassungsbeschwerde ist in einer die Zuständigkeit der Kammer eröffnenden Weise begründet. Die angefochtenen Entscheidungen verstoßen gegen Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG, soweit sie die Dolmetscherkosten für die Brief- und Besuchskontrolle inhaftierter Beschuldigter zum Gegenstand haben. Soweit sie hingegen die im Rahmen von Telefonüberwachungsmaßnahmen anfallenden Dolmetscherkosten betreffen, wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.

1. Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG steht der Schlechterstellung von in Untersuchungshaft befindlichen fremdsprachigen Angeklagten bei Kosten der Briefkontrolle und Besuchsüberwachung grundsätzlich entgegen.

b) Die einem fremdsprachigen Angeklagten in Untersuchungshaft auferlegten Dolmetscherkosten für die Übersetzung seiner privaten Post und für die Kontrolle seiner Besuche werden zwar auf die allgemeine Kostenvorschrift des § 464 StPO gestützt, die nicht nach dem in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG genannten Kriterium differenziert; sie sind gleichwohl unmittelbare Folge der mangelnden Sprachkenntnisse.

Im Falle der Verurteilung des Angeklagten wird zwar das staatliche Verfolgungsinteresse bestätigt, sodass die Auferlegung der Kosten des Strafverfahrens grundsätzlich gerechtfertigt ist (vgl. BVerfGE 18, 302 304>; 31, 137 <140 f.>). Einem deutschen Verurteilten entstehen Dolmetscherkosten in diesem Rahmen jedoch nicht, und dem fremdsprachigen Verurteilten entstehen sie nur wegen seiner mangelnden Sprachkenntnisse. Er erleidet im Verhältnis zum Deutschen in einer vergleichbaren Situation einen Nachteil auf Grund seiner Sprachunkundigkeit. Ihm wird die Freiheit genommen, kostenlosen Briefkontakt zu halten (auf das Freiheitselement des Grundrechts abstellend insbesondere Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 3 Abs. 3 Rn. 140 f.).

Der Schutzbereich des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG ist also betroffen. Die hiergegen angebrachte Argumentation (OLG Koblenz, StV 1997, S. 429 430> mit zustimmender Anmerkung von Kühne, StV 1997, S. 430 ff.) überzeugt nicht (für eine Freistellung von den Kosten hingegen u.a. Franke, in: Karlsruher Kommentar, 4. Auflage, § 464 a Rn. 4a; Meyer-Goßner, StPO, 46. Auflage, Art. 6 MRK Rn. 24; Paulus, in: KMR, StPO, § 464 a Rn. 10; nicht eindeutig Hilger, in: Löwe/Rosenberg, StPO, § 464 a Rn. 8 a.E.). Es geht nicht um schlichte Eingriffsverwaltung, sondern um einen sensiblen Grundrechtsbereich. Dem in Untersuchungshaft befindlichen Beschuldigten ist die ihm durch Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistete Freiheit seiner Person genommen; er kann sich nicht frei bewegen und - worauf der Beschwerdeführer zu Recht hinweist - einen Sprachmittler aus dem Freundes- oder Bekanntenkreis bitten, eine Übersetzung für ihn vorzunehmen. Grundsätzlich ist zudem das Recht auf unüberwachten und unkontrollierten Briefverkehr zu gewährleisten (zu Art. 2 Abs. 1: vgl. BVerfGE 35, 35 39 f.>; 35, 311 315 ff.>; 57, 170 177 ff.>; zu Art. 10 Abs. 1 GG bei der Kontrolle ausgehender Briefe: BVerfGE 33, 1 11>; zu Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG: BVerfGE 33, 1 14 ff.>; 42, 234 236 f.>), und schließlich ist, soweit der Briefverkehr - wie hier - den familiären Kontakt betrifft, Art. 6 Abs. 1 GG berührt (vgl. BVerfGE 57, 170 178 f.>; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 24. Juni 1996 - 2 BvR 2137/95 -, NJW 1997, S. 185).

Damit werden auch die Gründe deutlich, die eine unterschiedliche Behandlung der mit der Verfassungsbeschwerde thematisierten Kostenarten rechtfertigen. Bei der Brief- und Besuchskontrolle entzieht der Staat dem inhaftierten Beschuldigten die Möglichkeit, kostenfrei Kontakt zur Außenwelt zu halten, und verweigert ihm dieses einem deutschen Beschuldigten gewährte Recht. Die Telefonüberwachung und nachfolgende Übersetzung der gefertigten Protokolle stellen hingegen notwendige Ermittlungshandlungen zur Aufklärung einer Straftat dar, die deutsche Beschuldigte oder ausländische, aber der deutschen Sprache mächtige Beschuldigte, die fremdsprachige Telefonate führen, in gleicher Weise treffen können.

c) Da Art. 3 Abs. 3 GG keinen Gesetzesvorbehalt aufweist, wird der Gesetzgeber nicht zu Einschränkungen des Grundrechts ermächtigt. Möglich ist aber eine Rechtfertigung durch kollidierendes Verfassungsrecht (BVerfGE 85, 191 209>; 92, 91 109>; Osterloh, a.a.O., Rn. 254). Hier kommt als Einschränkung nur die Sicherung der Verfahrensdurchführung in Betracht.

Die Aufklärung von Straftaten, die Ermittlung des Täters, die Feststellung seiner Schuld und seine Bestrafung wie auch der Freispruch des Unschuldigen sind die wesentlichen Aufgaben der Strafrechtspflege (vgl. BVerfGE 39, 1 45 ff.>; 88, 203 257 f.>; siehe auch BVerfGE 51, 324 343>), die zum Schutz der Bürger den staatlichen Strafanspruch in einem justizförmigen und auf die Ermittlung der Wahrheit ausgerichteten Verfahren in gleichförmiger Weise durchsetzen soll (vgl. BVerfGE 57, 250 275>; 80, 367 378>; 100, 313 389>). Der Erlass von Strafnormen und deren Anwendung in einem rechtsstaatlichen Verfahren sind Verfassungsaufgaben. Die staatliche Strafrechtspflege darf auf dem Weg zu einer Entscheidung unter bestimmten Voraussetzungen in Grundrechte Verdächtiger und bei Nachweis einer schuldhaft begangenen Straftat in Rechte des Täters eingreifen. Konflikte zwischen den Rechten des Beschuldigten und dem Verfassungsgebot des strafrechtlichen Rechtsgüterschutzes und seiner Durchsetzung im Verfahren sind durch Abwägung aufzulösen. Lässt sich ein Ausgleich nicht herstellen, so ist unter Berücksichtigung der falltypischen Gestaltung und der besonderen Umstände des Einzelfalls zu entscheiden, welches Interesse zurückzutreten hat (vgl. zu Art. 5 GG: BVerfGE 35, 202 225>; 59, 231 261 ff.>; 67, 213 228/>; siehe auch BVerfGE 81, 278 292>; 93, 1 21>).

Zweck der Untersuchungshaft ist die Sicherung des Verfahrens. Auch die Brief- und Besuchskontrolle dient diesem Ziel, insbesondere der Verhinderung von Verdunkelungsmaßnahmen, Fluchtplänen oder sonstigen verfahrenswidrigen Handlungen; der Brief- und Besuchsverkehr darf zur Sicherung dieser Ziele eingeschränkt werden (vgl. BVerfGE 15, 288 293> - zur Vorgängervorschrift von § 119 Abs. 3 StPO; 34, 384 395 f.>; 57, 170 177>).

Der Besuchsverkehr unterliegt unabhängig davon, ob ein Dolmetscher hinzuzuziehen ist, bereits aus Gründen der Anstaltssicherheit und -ordnung einer so starken Reglementierung, dass die mangelnden Sprachkenntnisse des Inhaftierten nicht zu einer noch weiter gehenden Einschränkung des Besuchsrechts führen dürfen. Die in diesem Zusammenhang für Übersetzungsleistungen anfallenden Kosten sind also regelmäßig vom Staat zu übernehmen (vgl. OLG Frankfurt, StV 1986, S. 24 25>; OLG Düsseldorf, NStZ 1991, S. 403). Dies gilt in gleicher Weise für Briefe des inhaftierten Beschuldigten.

In Bezug auf den Briefverkehr des Untersuchungsgefangenen kann es dem Zweck der Untersuchungshaft zuwiderlaufen, wenn dieser einen unverhältnismäßigen Aufwand bei der Kontrolle notwendig macht (vgl. OLG Stuttgart, MDR 1973, S. 335). Ein nicht mehr hinzunehmender Aufwand kann grundsätzlich auch in unverhältnismäßig hohen (vgl. OLG München, NStZ 1984, S. 332 333>) oder objektiv überflüssigen (vgl. OLG Düsseldorf, NStZ 1994, S. 559) Übersetzungskosten bestehen (OLG Brandenburg, NStZ-RR 1997, S. 74).

Dabei haben die Strafverfolgungsbehörden zunächst darauf zu achten, dass nicht in jedem Fall eine Übersetzung erforderlich, die pauschale Anordnung der Übersetzung mithin grundsätzlich nicht zulässig ist. Die Entscheidung dieser Frage ist Sache des jeweiligen Einzelfalls; hierbei spielen der Haftgrund (bei Vorliegen von Verdunkelungsgefahr wird eine Übersetzung eher erforderlich sein als beim Haftgrund der Fluchtgefahr; hier reichen ggf. Stichproben) und der Adressat des Briefes (bei mutmaßlichen Tatbeteiligten in Abgrenzung zu engen Familienangehörigen oder Lebenspartnern) eine wichtige Rolle. Erst wenn ermessensfehlerfrei eine Übersetzung überhaupt erforderlich angesehen wird, stellt sich die Frage, in welchem Umfang die anfallenden Übersetzungskosten vom Staat zu tragen sind. Auch dies ist eine Frage des Einzelfalls (Dauer der Inhaftierung, Adressat des Briefes etc.) und kann nicht generell zu einer Begrenzung etwa von einem Brief pro Woche führen (so aber LG Berlin, StV 1994, S. 325 unter Berufung auf OLG München, NStZ 1984, S. 332 f.).

In jedem Fall wird der Inhaftierte vor Weiterleitung an einen Dolmetscher darauf hinzuweisen sein, dass er ggf. Übersetzungskosten selbst zu tragen hat, um ihm die Möglichkeit zu geben, diese Aufwendungen zu sparen.

2. Die Grundsätze fairen Verfahrens sind durch die Überbürdung dieser Kosten nicht verletzt.

Das Recht auf ein faires Verfahren verbietet es, den der deutschen Sprache nicht oder nicht hinreichend mächtigen Beschuldigten zu einem unverstandenen Objekt des Verfahrens herabzuwürdigen; er muss in die Lage versetzt werden, die ihn betreffenden wesentlichen Verfahrensvorgänge verstehen und sich im Verfahren verständlich machen zu können (BVerfGE 64, 135 145>).

Den insoweit an die Ausgestaltung des Strafverfahrens gestellten Anforderungen haben Rechtsordnung und Rechtspraxis in Konkretisierung des Verfassungsgebots in weitem Umfang Rechnung getragen. Dem der deutschen Sprache nicht oder nicht hinreichend mächtigen Beschuldigten werden im Strafverfahren Übersetzungshilfen gewährt, die es ihm ermöglichen, sich gegen den strafrechtlichen Vorwurf zur Wehr zu setzen und dadurch seine Rolle als Subjekt des Verfahrens auszufüllen.

Die hierfür entstehenden Kosten sind dem Freigesprochenen nicht und dem Verurteilten nur ausnahmsweise aufzuerlegen (§ 464 c StPO). Mit dieser Vorschrift ist der Gesetzgeber den Vorgaben des Art. 6 Abs. 3 e MRK und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gefolgt (EGMR, NJW 1979, S. 1091 1092>; Begründung der Gesetzesänderung in BTDrucks 11/4394, S. 11 zu Artikel 2).

b) Bei den Übersetzungen der Telefonüberwachungsprotokolle geht es allerdings um Dolmetscherleistungen zu Gunsten der Justiz, ohne dass dadurch der Beschwerdeführer in seinen Verteidigungsinteressen betroffen wäre. Die Frage, ob die der Absicherung des fairen Verfahrens für den Beschuldigten dienende Norm des Art. 6 Abs. 3 e MRK gleichwohl eingreift, ist umstritten (für eine Gleichstellung aller Übersetzungskosten OLG Düsseldorf, MDR 1981, S. 74 f.; a.A.: OLG Koblenz, StV 1997, S. 429 f.; OLG Frankfurt, NStZ-RR 1998, S. 158; OLG Stuttgart, Die Justiz 1984, S. 191 192>).

Auf der Hand liegt, dass Art. 6 Abs. 3 e MRK nicht unmittelbar angewendet werden kann. Die Vorschrift spricht nur vom Recht des Beschuldigten, unentgeltlich einen Dolmetscher verlangen zu können. Zu prüfen ist allenfalls eine entsprechende Anwendung in der Weise, dass jedwede Inanspruchnahme von Dolmetschern gegenüber fremdsprachigen Beschuldigten als unentgeltlich zu behandeln wäre. Das OLG Düsseldorf (a.a.O.) hat dies unter Hinweis auf den von Art. 6 Abs. 3 e MRK intendierten allgemeinen Nachteilsausgleich für den fremdsprachigen Beschuldigten angenommen.

Diese Interpretation ist von Verfassungs wegen nicht geboten. Sinn und Zweck der in Art. 6 Abs. 3 MRK enthaltenen Regelung ist es, dem fremdsprachigen Angeklagten Mindestrechte zu gewährleisten, um ihm die Beteiligung an der auf Deutsch geführten Verhandlung zu ermöglichen. Mit dieser Gewährleistung hat das Interesse der Ermittlungsbehörden an übersetzten Telefonmitschnitten einer Telefonüberwachungsmaßnahme nichts zu tun. Es geht nicht um die Beteiligungsmöglichkeiten des Beschuldigten und sein Verständnis vom Verfahren, sondern darum, den Ermittlungsbehörden fremdsprachige Texte verständlich zu machen. Die den angegriffenen Entscheidungen zu Grunde liegende Auffassung, Art. 6 Abs. 3 e MRK sei auf Fälle der vorliegenden Art nicht anzuwenden, ist daher jedenfalls vertretbar. Gleiches gilt für die Auslegung des § 464 c StPO.