VG Oldenburg

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Zitieren als:
VG Oldenburg, Beschluss vom 21.10.2003 - 11 B 3755/03 - asyl.net: M4324
https://www.asyl.net/rsdb/M4324
Leitsatz:

1. Vorläufiger Rechtsschutz gegen das versagte Wiederaufgreifen des Asylverfahrens zur Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 53 Abs. 6 AuslG.

2. Ein rechtskräftig abgelehnter Asylbewerber aus Algerien, der unter Diabetes mellitus Typ I leidet, kann trotz behaupteter Mittellosigkeit jedenfalls dann nicht ein Wiederaufgreifen des Verfahrens und die Feststellung eines zielstaatsbezogenen krankheitsbedingten Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG verlangen, wenn die Ausländerbehörde ihm einen Kühlkoffer mit einem Insulinvorrat für fünf Jahre zur Verfügung stellt.(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Algerien, Folgeantrag, Wiederaufgreifen des Verfahrens, Krankheit, Diabetes mellitus, Situation bei Rückkehr, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Medizinische Versorgung, Finanzierbarkeit, Extreme Gefahrenlage, Allgemeine Gefahr, Grenzkontrollen, Polizeigewahrsam, Mitgabe von Medikamenten, Vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren)
Normen: AuslG § 53 Abs. 6; VwVfG § 51
Auszüge:

Ein Wiederaufgreifen (selbst bei präkludiertem Vorbringen) und gegebenenfalls die Feststellung des begehrten Abschiebungshindernisses kommen in Betracht, wenn der Ausländer anderenfalls einer erheblichen Gefahr für Leib und Leben, insbesondere einer extremen Gefahrensituation im Sinne der Rechtsprechung zu § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG ausgesetzt wäre und die geltend gemachte Gefahr zuvor behördlich oder gerichtlich noch nicht geprüft worden ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 7. September 1999 - 1 C 6.99- NVwZ 2000, 204). Eine extreme Gefahrenlage in diesem Sinne ist etwa dann anzunehmen, wenn die drohende Verschlimmerung einer Krankheit wegen ihrer unzureichenden medizinischen Behandlung im Zielstaat so gravierend ist, dass der Ausländer im Falle seiner Abschiebung gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde (vgl. BVerwG, stetige Rechtsprechung, z.B. Urteil vom 27. April 1998 - 9 C 13.97 - InfAuslR 1998, 409; Urteil vom 19. November 1996 - 1 C 6.95 - BVerwGE 102, 249, 258 und Urteil vom 4. Juni 1996 - 9 C 134.95 - InfAuslR 1996, 289 m.w.N.).

Hiervon ausgehend lässt sich unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände eine derartige extreme Gefahrensituation infolge der Diabetes-Mellitus-Erkrankung des Antragstellers und seiner Behandlungsbedürftigkeit nicht annehmen. Den ärztlichen Attesten von Dr. (..) lässt sich zwar entnehmen, dass der Antragsteller unter einem Diabetes Mellitus Typ I leidet und auf regelmäßige Insulingaben (..) angewiesen ist, ohne die er ins diabetische Koma geriete und versterben würde. Ferner wird bescheinigt, dass sich der erst Anfang letzten Jahres festgestellte Krankheitszustand seit (..) verschlechtert habe, die körpereigene Insulinproduktion nachlasse, die Medikation erhöht worden und die Stoffwechseleinstellung noch nicht optimal gelungen sei.

Trotz der derart attestierten Erkrankung und Behandlungsbedürftigkeit ist der Antragsteller nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit der Gefahr des baldigen sicheren Todes oder schwerster Verletzungen im Falle einer Rückkehr nach Algerien ausgesetzt. Die notwendige Behandlung der Krankheit auf landestypischem Niveau ist - was der Antragsteller selbst nicht ernsthaft bezweifelt - in Algerien möglich. Sie ist ihm entgegen seiner Auffassung auch unter Berücksichtigung der finanziellen Verhältnisse zugänglich. Nach der Erkenntnislage (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 6. September 2002, S. 12; Stellungnahme der deutschen Botschaft in Algier vom 14. Mai 2002 an VG Köln) ist in Algerien eine kostenlose medizinische Behandlung in staatlichen Krankenhäusern aufgrund einer allgemeinen Sozialversicherung möglich. Diese Sozialversicherung ermöglicht sogar Kostenrückerstattung bei Behandlung in privaten Einrichtungen. Häufig auftretende chronische Erkrankungen (u.a. Diabetes) werden in aller Regel auch in öffentlichen medizinischen Einrichtungen ständig und ggf. langfristig behandelt. Der Antragsteller ist jung, verfügt über eine Schulbildung (Mittelschule und Vorbereitung auf das Abitur), eine Berufsausbildung zum Floristen/Gärtner und ist auch nach eigenem Vorbringen nicht in der Erwerbsfähigkeit beeinträchtigt. Trotz der allgemeinen Schwierigkeiten auf dem algerischen Arbeitsmarkt dürfte es ihm - wie vor seiner Ausreise - möglich sein, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen. Er kehrt auch in einen Familienverband (Eltern und Brüder) zurück, der ihm Unterstützung bieten kann.

Das Gericht geht weiter davon aus, dass der Antragsteller entsprechend den allgemeinen algerischen Verhältnissen die notwendigen Mittel zur Injektion des Insulins sowie eine regelmäßige Kontrolle des Blutzuckerwerts erlangen kann. Sowohl in den Abteilungen der Diabetologie der Krankenhäuser als auch in algerischen Labors können regelmäßig Blutwerte kontrolliert werden (Stellungnahme der deutschen Botschaft in Algier vom 14. Mai 2002 an VG Köln). Selbst wenn - wie vom Antragsteller behauptet - Testgeräte oder Teststreifen in Algerien nicht oder nur mit hohem Kostenaufwand zu erlangen wären, könnte der Antragsteller seinen Blutzuckerwert jedenfalls in regelmäßigen Abständen in den genannten Einrichtungen untersuchen lassen, ohne dass ihm eine extreme Gefahr i.S. von § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG droht.

Selbst unter Berücksichtigung von Rückkehrerkontrollen lässt sich eine extreme Gefahr

i.S. von § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG für den diabetes-mellitus-erkrankten Antragsteller nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit annehmen. Zwar muss der Antragsteller auch nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 6. September 2002, S. 12 damit rechnen, im Falle seiner Abschiebung nach Eintreffen auf dem Flughafen Algier in vorrübergehenden Polizeigewahrsam genommen zu werden. Zweck ist die Feststellung der Identität und die Prüfung, ob der Abgeschobene einer Straftat (Terrorismus) verdächtig ist. Bei Verdacht auf Desertion kann sich die Dauer des Gewahrsams wegen der Prüfung der Frage eines möglichen Geheimnisverrats auf über zwei Wochen ausdehnen. Anders als in der Stellungnahme von ai (vom 28. September 2001 an VG Schwerin, Seite 3) findet sich jedoch keine Bestätigung dafür, dass die gesetzlich zulässige Frist einer Inhaftnahme von 12 Tagen routinemäßig überschritten wird.

Während einer demnach allenfalls drohenden kurzfristigen polizeilichen Festnahme dürfte es dem Antragsteller aller Wahrscheinlichkeit nach möglich sein, eine krankheitsadäquate Medikation zu erlangen, zumal er über einen eigenen Insulinvorrat sowie über hier erworbene Kenntnisse der gesundheitsförderlichen Ernährungs- und Verhaltensweisen verfügt. Vor allem kann er durch seine freiwillige Ausreise eine Festnahme ganz vermeiden, die nach der o.g. Erkenntnismitteln lediglich den abgeschobenen Rückkehren droht.