VG Darmstadt

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Zitieren als:
VG Darmstadt, Urteil vom 28.05.2003 - 8 E 752/03.A(2) - asyl.net: M4259
https://www.asyl.net/rsdb/M4259
Leitsatz:

Gravierender Verfahrensmangel wegen fehlender Anhörung im Asylfolgeverfahren bei vollständig neuem Vortrag .(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Türkei, Kurden, Folgeantrag, Abschiebung, Wiedereinreise, Wehrdienstentziehung, Strafverfolgung, Haft, PKK, Verdacht der Unterstützung, Folter, Anfechtungsklage, Isolierte Anfechtungsklage, Rechtsschutzinteresse, Faires Verfahren, Zulässigkeit, Spruchreife, Durchentscheiden, Verfahrensmangel, Anhörung, Sachaufklärungspflicht
Normen: GG Art. 16a; AuslG § 51 Abs. 1; AsylVfG § 71 Abs. 3 S. 1
Auszüge:

Die Klage ist zulässig, insbesondere als Anfechtungsklage statthaft.

Der isolierten Anfechtungsklage steht vorliegend nicht entgegen, dass der Kläger sein Begehren auf Anerkennung als Asylberechtigter bzw. die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 53 AuslG vorliegen, weiterverfolgt. Grundsätzlich ist zwar davon auszugehen, dass einer isolierten Anfechtungsklage das Rechtsschutzbedürfnis fehlt, wenn der Kläger an dem begehrten Verwaltungsakt nach wie vor interessiert ist und das dahingehende Begehren hilfsweise weiterverfolgt. Indes ist vorliegend durch das Folgeantragsverfahren das Recht des Klägers auf Wahrung eines gewissen Mindeststandards eines fairen rechtsstaatlichen und im Hinblick auf Art. 16 a Abs. 1 GG effektiven Verwaltungsverfahrens gröblich verletzt worden (zu dieser Rechtsposition siehe BVerfG, Urteil vom 14.05.1996 - 2 BvR 1516/93 - BVerfGE 94, 160 A205>).

Wurde durch das Folgeantragsverfahren die grundrechtlich verbürgte Rechtsposition des Klägers nachhaltig verletzt, so kann dieser ein Rechtsschutzinteresse im Hinblick auf die isolierte Aufhebung des Verwaltungsaktes geltend machen, um die Einhaltung der kraft Verfassungsrechts gewährleisteten Verfahrensstandards zu sichern. Durch die isolierte Aufhebung des Bescheids, mit dem das Bundesamt die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens abgelehnt hatte, wird das Verfahren in den Zustand vor der Bescheidung zurückversetzt mit der Folge, dass das Bundesamt in rechtsstaatlich gebotener Weise das Verwaltungsverfahren zum Abschluss bringen kann. Zwar handelt es sich sowohl bei der Asylanerkennung nach Art. 16 a GG und der Feststellung der Abschiebungsschutzberechtigung nach § 51 Abs. 1 AuslG um gebundene Verwaltungsentscheidungen und nicht um eine solche in Wahrung eines eingeräumten Ermessens oder einer Beurteilungsermächtigung, so dass das Gericht grundsätzlich in der Lage wäre, im Rahmen der Herstellung der Spruchreife eine rechtsstaatliche Entscheidung trotz der erfolgten Verfahrensfehler herbeizuführen. Jedoch wird durch diese Vorgehensweise das grundrechtlich verbürgte Recht des Klägers auf ein den Anforderungen des Art. 16 a Abs. 1 GG Rechnung tragendes Verwaltungsverfahren eingeschränkt. Wie noch auszuführen sein wird, dient bereits das Verwaltungsverfahren selbst und die zu beachtenden Mindeststandards dem Schutz des Asylgrundrechts. Wenn auch nicht jede Nichtbeachtung einer einzelnen Verfahrensregelung zu einem Verfassungsverstoß führt, so müssen jedoch gravierende Verfahrensfehler, die letztlich dazu führen, dass das Asylbegehren des Klägers nicht zur Kenntnis genommen wird, durch Aufhebung der Entscheidung des Bundesamtes ihren Niederschlag finden, um ein Leerlaufen der grundrechtlichen Verfahrensgarantie zu vermeiden. Daher ist eine isolierte Anfechtungsklage jedenfalls dann möglich, wenn elementare Verfahrensgrundsätze im Verwaltungsverfahren verletzt wurden und damit die sich unmittelbar aus Art. 16 a Abs. 1 GG ergebenden Mindeststandards eines fairen rechtsstaatlichen Verfahrens verletzt worden sind.

Mit dieser Rechtsansicht weicht die Kammer auch nicht von der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, U. v. 10.02.1998 - 9 C 28/97 -, NVwZ 1998, 861 ff.) ab, das grundsätzlich von der Verpflichtung der Verwaltungsgerichte ausgeht, die Verfahren spruchreif zu machen und selbst zu entscheiden. Denn in dem dort entschiedenen Fall dürften die zu beachtenden Mindeststandards des Verwaltungsverfahrens, die den Schutz des Asylgrundrechts gewährleisten, offensichtlich eingehalten worden sein, so dass keine Veranlassung bestand, die Rechtsfolgen der Verletzung elementarer Verfahrensgrundsätze im Verwaltungsverfahren zu bewerten.

Die Klage ist begründet. Der Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 11.03.2003 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Die Entscheidung des Bundesamtes verletzt den Kläger unmittelbar in seinem aus Art. 16 a Abs. 1 GG fließenden Recht auf Einhaltung von Mindeststandards eines fairen rechtsstaatlichen und im Hinblick auf das Asylgrundrecht effektiven Verwaltungsverfahrens. Da die wirksame Durchsetzung der materiellen Asylrechtsverbürgung eine dafür geeignete Verfahrensregelung voraussetzt, ist auch das Verfahrensrecht selbst von unmittelbar verfassungsrechtlicher Relevanz (so BVerfG, B. v. 12.07.1983 - 1 BvR 1470/82 -, BVerfGE 65, 76 94>). Der Asylsuchende, der einen förmlichen Feststellungsakt erwirken und notfalls erstreiten muss, um sein Asylgrundrecht geltend machen zu können, ist auf die für die Feststellung des Asylrechts geeignete Verfahrensregelung angewiesen.

Zwar kommt dem Gesetzgeber in Bezug auf Organisation und Verfahren ein weiter Gestaltungsspielraum zu, gleichwohl lassen sich aus den Grundrechten elementare rechtsstaatlich unverzichtbare Verfahrensanforderungen ableiten. So hängt die Wirksamkeit des Asylrechts entscheidend davon ab, dass der Behauptung des Asylbewerbers, er werde in seiner Heimat politisch verfolgt, nachgegangen wird. Hierzu muss der vorgetragene Sachverhalt in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht gewürdigt werden. Wenn der Inhalt eines Asylbegehrens dagegen völlig unbeachtet bleibt, wird dem Asylsuchenden in verfassungswidriger Weise von vornherein die Möglichkeit genommen, sich auf sein subjektives Recht auf Asyl zu berufen (BVerfG, B. v. 25.02.1981 - 1 BvR 413, 768, 820/80 -, BVerfGE 56, 216 240>). Ist das Verwaltungsverfahren aber im Hinblick auf das Asylgrundrecht in besonderer Weise ausgestaltet, so hat der Asylberechtigte auch einen Anspruch, dass diese Mindeststandards, die von Verfassungs wegen zwingend geboten sind, in seiner Person eingehalten werden. Werden derartige Mindeststandards eines fairen rechtsstaatlichen und im Hinblick auf Art. 16 a Abs. 1 GG effektiven Verwaltungsverfahrens nicht gewahrt, so kann der Asylbewerber deren Einhaltung durch isolierte Anfechtung der Ablehnungsentscheidung des Bundesamtes erzwingen.

Ein derartiger gravierender Verfahrensmangel, der ausnahmsweise die isolierte Anfechtung der Entscheidung des Bundesamtes, kein weiteres Asylverfahren durchzuführen, ermöglicht, ist vorliegend gegeben. Das Bundesamt hat auch im Falle eines Folgeantrages den Ausländer grundsätzlich anzuhören. Im Rahmen der Amtsermittlung wird diese Pflicht zwar durch die in § 71 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG ausdrücklich normierten Mitwirkungspflichten des Folgeantragstellers relativiert. Gleichwohl kommt der Anhörung gerade auch im Folgeantragsverfahren ein besonderer Stellenwert zu, der insbesondere auch aus Gründen der effektiven Verfahrensgestaltung für die Verwirklichung des Grundrechts je nach Lage des Falls eine Anhörungspflicht begründen kann (Funke/Kaiser in: GK-AsylVfG § 71 Rdnr. 61). Gerade im vorliegenden Fall hätte im Hinblick auf den Sachvortrag des Klägers eine persönliche Anhörung erfolgen müssen.

Der Kläger hat vorgetragen, dass er nach seiner Abschiebung in die Türkei am Flughafen in Istanbul zwei Tage in Polizeihaft gehalten worden sei. Anschließend sei er in mehreren Polizeidienststellen verhört worden und schließlich am (...) in das Gefängnis (...) zur Vollstreckung der Freiheitsstrafe wegen Wehrdienstentziehung eingeliefert worden. Am (...) sei er aus der Strafvollstreckung einer Militäreinheit in (...) zugeführt worden. Dort habe man ihn in vorderster Reihe, aber unbewaffnet, eingesetzt und wegen seiner Kenntnisse der kurdischen Sprache im Verlauf des Jahres (...) zur Übersetzung von Protokollen und abgehörtem Funkverkehr herangezogen. Nachdem er einen Funkspruch kurdischer Untergrundkämpfer absichtlich unrichtig übersetzt habe sei er zum Kompaniechef zitiert worden und von diesem mit dem Vorwurf konfrontiert worden, er habe die Guerilla unterstützt und die eigenen Kameraden gefährdet. Anschließend sei er für eine Nacht in eine kleine Zelle gesperrt worden und man habe ihn nach (...) verbracht. Dort sei er in einer Art Lager unter der Folter verhört worden.

Dieser Vortrag des Klägers ist offensichtlich nicht von vornherein nach jeder vertretbaren Betrachtungsweise ungeeignet, zur Asylberechtigung zu verhelfen. Gerade der gänzlich neue Vortrag hätte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge veranlassen müssen, den Kläger erneut persönlich anzuhören. Ein Verfahrensfehler ist darin zu sehen, dass das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge von der persönlichen Anhörung des Klägers abgesehen hat, obwohl dieser einen gänzlich neuen Verfolgungssachverhalt vorgetragen hatte. Zwar öffnet § 71 Abs. 3 Satz 3 AsylVfG dem Bundesamt die Möglichkeit, von einer Anhörung eines Folgeantragstellers abzusehen. Diese Möglichkeit ist in erster Linie für diejenigen Fälle vorgesehen, in denen ein in einem vorangegangenen Asylverfahren abgelehnter Asylbewerber bezug nimmt auf seine in jenem Verfahren vorgetragenen Asylgründe und dazu ergänzend unter Bezugnahme auf neue Tatsachen und/oder Beweismittel vorträgt (VG Frankfurt, B. v. 29.08.2002 - 5 G 3055/02.A (3) -, InfAuslR 2003, 119 (120)). Eine solche Konstellation ist jedoch im Falle des Klägers ersichtlich nicht gegeben.

Hat das Bundesamt im Rahmen seiner Entscheidung über den Asylfolgeantrag das Vorbringen des Klägers in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht unter Verkennung der erforderlichen Amtsermittlung letztlich nicht zur Kenntnis genommen, so liegt hierin ein Verstoß gegen die im Rahmen des Asylverfahrens einzuhaltenden Mindeststandards eines fairen rechtsstaatlichen und im Hinblick auf Art. 16 a Abs. 1 GG effektiven Verwaltungsverfahrens. Dieser Verstoß verletzt den Kläger in seinem Recht aus Art. 16 a Abs. 1 GG und führt daher zur Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes vom 11.03.2003.