OVG Hamburg

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Zitieren als:
OVG Hamburg, Beschluss vom 02.04.2003 - 3 Bs 439/02 - asyl.net: M4237
https://www.asyl.net/rsdb/M4237
Leitsatz:

Posttraumatische Belastungsstörungen sind in Serbien/Montenegro behandelbar; dies wäre auch dann der Fall, wenn jedenfalls ärztliche Bemühungen stattfänden, die den Namen Therapie verdienen (Leitsatz der Redaktion).

Schlagwörter: Serbien und Montenegro, Traumatisierte Flüchtlinge, Folteropfer, Psychische Erkrankung, Posttraumatische Belastungsstörung, Suizidgefahr, Abschiebungshindernis, Duldung, Situation bei Rückkehr, Medizinische Versorgung, Retraumatisierung, Zuständigkeit, Prüfungskompetenz, Bundesamt, Ausländerbehörde, Ermessen, Vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren)
Normen: AuslG § 53 Abs. 6; AuslG § 55 Abs. 2; VwGO § 123
Auszüge:

Die Beschwerde ist zulässig und hat auch in der Sache Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat die Antragsgegnerin zu Unrecht verpflichtet, die Antragsteller - bis zum 30. April 2003 - zu dulden.

Der Beschwerde kann allerings nicht gefolgt werden, soweit sie unter Bezugnahme auf den Beschluss des Senats vom 17. August 1994, NVwZ-RR 1995 S. 419, geltend macht, der Antragsteller zu 1) behaupte, politisch verfolgt zu sein, und könne deshalb seine Abschiebung nur durch Stellung eines Asylantrags beim Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge abwenden. Es ist schon zweifelhaft, ob der Behauptung des Antragstellers zu 1), er sei in seiner Heimat gefoltert worden, die schlüssige Darlegung politischer Verfolgung zu entnehmen ist. Folter erfüllt nicht bereits als solche den Tatbestand von Art. 16 a Abs. 1 GG. Ferner ist bei der gebotenen objektiven Betrachtung eine Furcht des Antragstellers zu 1) vor erneuter Folter selbst bei Anlegung des herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabs wegen der Änderung der politischen Verhältnisse im Heimatland der Antragsteller seit (...) offensichtlich nicht gerechtfertigt. Ein Asylantrag wäre da er, selbst wenn man das Vorbringen der Antragsteller als wahr unterstellt, ebenso ohne Erfolgsaussicht wie ein auf § 53 Abs AuslG gestütztes Gesuch um Abschiebungsschutz. Dies kann aber nicht bedeuten, dass es dem Antragsteller zu 1) verwehrt wäre, das Abschiebungshindernis "Krankheit", auch wenn dies auf politische Verfolgung zurückzuführen sein sollte, entweder nach § 53 Abs. 6 AuslG oder aber nach § 55 AuslG geltend zu machen. Schließlich hält der Senat an der erwähnten Entscheidung vom 17. August 1994 aber auch nicht mehr fest. § 53 AuslG erfasst nämlich auch Gefahren, die auf Lebenssachverhalten beruhen, die zugleich politische Verfolgung darstellen (vgl. BVerwG, Urt. v. 21.3.2000, BVerwGE Bd. 111 S. 77, 82 f.; BVerfG, Beschl. v. 21.6.2000, NVwZ 2000 S. 907, 909). Es unterliegt keinem Zweifel, dass das Abschiebungsverbot des § 53 Abs 1 AuslG auch Ausländer schützt, die an sich gemäß § 51 Abs. 3 AuslG trotz festgestellter politischer Verfolgung abgeschoben werden dürfen. Entsprechendes gilt für § 53 Abs. 2 AuslG. § 53 Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 3 EMRK betrifft sogar gerade und nur die Fälle, in denen die unmenschliche Behandlung - die häufig politische Verfolgung darstellen wird - vom Staat ausgeht (BVerwG, Urt. v. 17.10.1995, BVerwGE Bd. 99 S. 3 , 335). Im Unterschied zum Asylrecht fragt schließlich auch 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG nicht danach, von wem die Gefahr ausgeht oder wodurch sie hervorgerufen wird; die Regelung stellt vielmehr lediglich auf das Bestehen einer konkreten Gefahr ab ohne Rücksicht darauf, ob sie vom Staat ausgeht oder ihm zumindest zuzurechnen ist (BVerwG, Urt. v. 17.10.1995, BVerwGE Bd. 99 S. 324, 330).

Die Antragsteller haben einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht.

Nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG kann von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Die Abschiebung steht in diesem Fall im Ermessen der Ausländerbehörde. Diese Rechtslage besteht auch, soweit § 55 Abs. 2 AuslG einschlägig ist. Die Anwendung des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG kommt bei traumatisierten Personen grundsätzlich unter zwei Aspekten in Betracht. Einmal kann die Gefahr, dass sich die Krankheit eines ausreisepflichtigen Ausländers in seinem Heimatstaat verschlimmert, weil die Behandlungsmöglichkeiten dort unzureichend sind, ein Abschiebungshindernis im Sinne der genannten Vorschrift darstellen. Zum anderen könnte ein Abschiebungshindernis nach der genannten Vorschrift anzunehmen sein, wenn ein Leben im Zielstaat, anders als das Leben in jedem anderen Staat der Erde, für den Abgeschobenen auf Grund seiner dort gemachten traumatischen Erfahrungen unerträglich wäre.

An die Darlegung der Ermessenserwägungen im Rahme der Entscheidung nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG sind keine strengen Anforderungen zu stellen. Das gilt zumal dann, wenn wie hier ein den Aufenthalt beendender bestandskräftiger Bescheid existiert, in dem das Vorliegen von Abschiebungshindernissen nach § 53 AuslG verneint wird, und wenn überdies der Ausländer,obwohl das möglich gewesen wäre, bis zu diesem Zeitpunkt keine der Abschiebung nach § 53 AuslG entgegenstehenden Gründe vorgetragen hat (§ 70 AuslG). Zu verlangen ist, dass die Behörde sich bei der Anwendung des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG nicht infolge eines Rechtsirrtums für gebunden hält, weil sie das Vorliegen einer erheblichen konkreten Gefahr zu Unrecht verneint, und dass sie keine sachfremden Erwägungen anstellt.

Die Erwägung der Antragsgegnerin, die Krankheit des Antragstellers zu 1) könne auch in seinem Heimatland behandelt werden, erscheint sachgerecht. Es ist nicht ersichtlich, dass die ihm in Serbien/Montenegro gebotene medizinische BehandIung qualitativ schlechter wäre, als sie im Bundesgebiet ist. Selbst wenn sich dies aber so verhalten sollte, wäre dies kein Grund, die Abschiebung für unzulässig zu erklären, so lange dort ärztliche Bemühungen stattfinden, die den Namen Therapie verdienen. Bei allen Nachteilen einer erzwungenen Rückkehr in das Heimatland, die das Beschwerdegericht durchaus nicht verkennt, hat diese für den Antragsteller zu 1) doch jedenfalls auch den Vorteil, dass die notwendige Therapie in seiner Muttersprache (vgl. nervenärztliches Attest von Herrn Dr. XXX v. 25.9.2002) dort kein Problem ist. In diesem Zusammenhang ist auch zu beachten, dass es Stimmen gibt, denen zufolge posttraumatische Belastungsstörungen meist im Herkunftsland die größten Heilungschancen haben (vgl. van Krieken, InfAuslR 2000 S. 518, 520; a.A. Marx, InfAuslR 2000 S. 357, 362.)

Soweit die Antragsteller ausführen, der Antragsteller zu 1) dürfe nicht dorthin gebracht werden, wo sich seine Peiniger befänden, ist dem entgegenzuhalten, dass die Antragsteller nicht gezwungen sind, sich gerade nach Novi Pazar zu begeben. Es ist nicht zu erkennen, dass seine posttraumatische Belastungsstörung es dem Antragsteller zu 1) unmöglich machen würde, sich überhaupt an irgendeinem beliebigen Ort in Serbien/Montenegro niederzulassen. Dies würde in letzter Konsequenz bedeuten, dass jeder wegen erlittener Folter traumatisierte Mensch nur außerhalb des Landes, in dem er misshandelt worden ist, in der Regel also außerhalb seines Heimatlandes, leben könnte. Hiervon kann nicht ausgegangen werden, vielmehr spricht viel dafür, dass die Notwendigkeit, sich in einer fremden Umgebung zurechtzufinden, eine zusätzliche Belastung erzeugt.

Die dem Antragsteller zu 1) drohenden gesundheitlichen Gefahren erreichen nicht die danach für einen Abschiebungsschutz erforderliche Intensität. Sofern der Antragsteller zu 1) durch den Vorgang der Abschiebung retraumatisiert werden sollte, wird dies den Heilungsprozess verzögern, aber letztlich nicht in Frage stellen.