VG Braunschweig

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Zitieren als:
VG Braunschweig, Urteil vom 22.08.2003 - 1 A 13/01 - asyl.net: M4165
https://www.asyl.net/rsdb/M4165
Leitsatz:

In Afghanistan existieren keine staatlichen oder quasistaatlichen Strukturen; § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG für Angehörige eines früheren Parlamentsmitglieds und einer Aktivistin der DVPA wegen Gefahr der Sippenhaft.(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Tadschiken, DVPA, Funktionäre, Zwangsverheiratung, Gebietsgewalt, Taliban, Übergangsregierung, Situation bei Rückkehr, Abschiebungshindernis, Sippenhaft, Blutrache, Verfolgung durch Dritte, Mittelbare Verfolgung, Mudjaheddin, Schutzfähigkeit
Normen: GG Art. 16a Abs. 1 GG; AuslG § 51 Abs. 1; AuslG § 53 Abs. 6 S. 1
Auszüge:

Die Klage ist zulässig und begründet, soweit die Kläger die Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG begehren. Im übrigen ist die Klage unbegründet.

Die Kläger sind schon deshalb nicht als Asylberechtigte anzuerkennen, weil sie nach der Überzeugung des Gerichts nicht auf dem Luft- sondern auf dem Landweg eingereist sind (Art.16 a Abs. 2 GG und § 26 a Abs. 1 AsylVfG. Im übrigen sind die Kläger auch deshalb nicht als Asylberechtigte anzuerkennen, weil ihnen in Afghanistan eine politische Verfolgung nicht droht. Aus dem gleichen Grund liegen Abschiebungshindernisse nach § 51 Abs. 1 AuslG ebenfalls nicht vor.

In Afghanistan üben derzeit weder die Übergangsregierung Karsai noch die Taliban oder eine andere Gruppierung staatliche oder staatsähnliche Gewalt aus. Soweit es das Taliban-Regime betrifft, das zumindest zeitweise Inhaber quasi-staatlicher Herrschaftsgewalt war (vgl. BVerfG, Beschluss vom10.08.2000 - 2 BvR 260/98, NVwZ 2000, 1165; BVerwG, Urteil vom 20.02.2001 - 9 C 20.00, BVerwGE 114, 16), wurde dieses im Zuge des Eingreifens der Anti-Terror-Allianz gestürzt und ist damit nicht mehr in der Lage staatsähnliche Gewalt auszuüben. Auch die Übergangsregierung des von der Emergency-Loya-Jirga im Juni 2002 gewählten Präsidenten Karsai hat (noch) keine übergreifende Friedensordnung schaffen können, die Voraussetzung für eine politische Verfolgung durch Ausgrenzung Einzelner aus derselben wäre. Sie ist allenfalls mit Unterstützung der International Security Assistance Force - ISAF - in der Lage, in Kabul und Umgebung ein gewisses Maß an Sicherheit zu bieten, das sich graduell von der Willkürherrschaft einzelner Warlords in den übrigen Landesteilen abhebt. Gleiches soll für Kandahar (vgl. Gutachten des Dr. Munir D. Ahmed erstattet an das VG Bayreuth vom 24.11.2002) und - unter Ismail Khan - Herat gelten ( vgl. Gutachten des Dr. Bernt Glatzer erstattet an das VG Schleswig vom 27.08.2002), wobei Letztgenannter ebenfalls nach Gutdünken agiert (vgl. Dr. Mostafa Danesch in seinem an das VG Schleswig erstatteten Gutachten vom 05.08.2002). Eine staatliche Friedensordnung ist demnach auch in den "friedlicheren" Teilen des Landes noch nicht etabliert. Vielmehr fehlt es für die Schaffung einer innerstaatlichen Friedensordnung weiterhin sowohl an Verwaltungsstrukturen als auch an einem auch nur ansatzweise funktionierenden Justizsystem oder einer funktionierenden Polizei. Selbst im Raum Kabul ist die Lage weiterhin "fragil" (Lagebericht vom 02.12.2002 a.a.O.).

Es liegen jedoch Abschiebungshindernisse nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG vor. Die Kläger müssen im Falle ihrer Rückkehr nach Afghanistan derzeit befürchten, von nichtstaatlicher Seite in den Rechtsgütern Leib, Leben und Freiheit konkret bedroht zu sein. Die Klägerin war ebenso wie ihre Schwester Aktivistin der DVPA. Ihre Schwester war Angehörige des ... Parlaments zur Zeit Najibullahs. Auch der Gutachter Dr. Danesch bestätigt die Richtigkeit der Angaben zur Familie der Klägerin zu 2.. In seinem Gutachten vom 21.05.2003 gelangt er daher zu der Überzeugung, dass die Kläger im heutigen Kabul bekannt sein dürften und deshalb im Falle ihrer Rückkehr einer großen Gefahr für Leib und Leben ausgesetzt seien. Diese Gefahr gehe insbesondere von ehemaligen Mudjahedin aus, die auch weiterhin in die Machtstrukturen des Landes eingebunden seien. Täglich würden Menschen in Kabul ermordet oder verschleppt, ohne dass die Regierung Karsai in der Lage sei, etwas dagegen zu unternehmen. Die Klägerin zu 2. und ihre Familie seien vor allem deshalb gefährdet, weil ihre Schwester an exponierter Stelle tätig und u.a. daran beteiligt gewesen sei, dass Prozesse gegen Mudjahedin eröffnet worden seien, in deren Folge auch Angeklagte verurteilt worden seien. Aus diesem Grund müsse sie Blutrache durch deren Familienangehörige befürchten. In gleicher Weise äußert sich der Gutachter Dr. Glatzer und führt dazu in seinem Gutachten vom 03.07.2003 aus, die Parlamentsreden seien vom Fernsehn übertragen worden. Deshalb sei davon auszugehen, dass sich immer noch viele Afghanen an einzelne Parlamentsabgeordnete erinnern, die ihrerseits auch heute noch Grund haben, Rache für sich und ihre Familien zu befürchten. Da die Sippenhaft weit verbreitet sei, seien die Kläger inzweifacher Hinsicht gefährdet. Zum einen durch Opfer des kommunistischen Regimes, zum anderen durch den Talib, der die Klägerin zu 4. habe heiraten wollen, weil dieser versuchen könnte, sich durch einen Mord an der Familie der Kläger vor deren Blutrache zu schützen.