VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Urteil vom 19.02.2003 - 9 UE 1731/98.A - asyl.net: M4092
https://www.asyl.net/rsdb/M4092
Leitsatz:

Extreme Gefährdungslage i.S.d. verfassungskonformen Auslegung des § 53 Abs. 6 AuslG für alleinstehende Äthiopier, die als Jugendliche geflohen sind, über kein eigenes Vermögen und über keinen familiären Rückhalt in Äthiopien verfügen; zum Verlust der äthiopischen und zum Erwerb der eritreischen Staatsangehörigkeit; bei der Prüfung von Abschiebungshindernissen nach § 53 Abs. 6 AuslG ist das Gericht unabhängig von der Staatsangehörigkeit des Betreffenen auf den Staat beschränkt, in den die Abschiebung konkret angedroht wurde.(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Äthiopien, Eritrea, Staatsangehörigkeit, Situation bei Rückkehr, Abschiebungshindernis, Prüfungsumfang, Versorgungslage, Medizinische Versorgung, Existenzminimum, Allgemeine Gefahr, Extreme Gefahrenlage, Minderjährige, Jugendliche
Normen: AuslG § 53 Abs. 6
Auszüge:

Der Kläger kann sich in dem nach § 77 Abs. 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der Berufungsentscheidung darauf berufen, dass in seiner Person Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG vorliegen, die seiner Abschiebung nach Äthiopien entgegenstehen.

Die vom Senat vorliegend im Rahmen des § 53 Abs. 6 AuslG vorzunehmende Prüfung ist in territorialer Hinsicht von vornherein auf Äthiopien als denjenigen Staat beschränkt, der unter Ziffer 4 des Bescheids des Bundesamtes vom 22. Juni 1993 enthaltenen Abschiebungsandrohung als Zielland einer möglichen Abschiebung des Klägers bezeichnet ist. In diesem Zusammenhang kommt es nicht darauf an, ob der Kläger möglicherweise mit Entstehung des eritreischen Staates dessen Staatsangehörigkeit erworben und/oder zwischenzeitlich die äthiopische Staatsangehörigkeit verloren hat. Die vom Kläger angegriffene negative Feststellung des Bundesamtes zu § 53 Abs. 6 AuslG in Ziffer 3 des vorgenannten Bescheids bezieht sich allein auf Äthiopien als das konkret bezeichnete Abschiebezielland. Damit geht eine entsprechende Beschränkung des Prüfungsumfangs im verwaltungsgerichtlichen Verfahren einher (vgl. OVG Hamburg, Beschluss vom 2. Juni 1998 - 4 Bv 297/98.A -, Juris, m. w. N.). Zu einer Erstreckung der gerichtlichen Prüfung auf weitere, als Zielland einer Abschiebung möglicherweise ebenfalls in Betracht kommende Staaten nötigt auch nicht der Umstand, dass nach § 50 Abs. 2 AuslG in der Abschiebungsandrohung nicht nur der Zielstaat der Abschiebung bezeichnet, sondern der Ausländer - wie vorliegend geschehen - zudem darauf hingewiesen werden soll, dass er auch in einen anderen Staat abgeschoben werden kann, in den er einreisen darf oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet ist. Dieser gesetzlich vorgesehene Hinweis in der Abschiebungsandrohung begründet weder eine Verpflichtung des Bundesamtes noch eine solche des angerufenen Gerichts, für eine - gegebenenfalls große Zahl - von Staaten, die neben dem in der Verfügung ausdrücklich genannten Zielstaat möglicherweise auch als Aufnahmeland für den vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländer in Betracht kommen könnten, gewissermaßen prophylaktisch festzustellen, ob in Bezug auf jeden dieser Staaten gegebenenfalls Abschiebungshindernisse nach § 53 Abs. 6 AuslG vorliegen könnten (vgl. OVG Hamburg, a. a. O.; VGH Mannheim, Urteil vom 30. Juli 1997 - 11 S2807/96 -, InfAuslR 1998, S. 18 f.; OVG Koblenz,

Beschluss vom 6. Februar 1998 - 11 A 10716/97 -, ZAR 1998, S. 135). Der Hinweis in § 50 Abs. 2 2. Halbsatz AuslG hat lediglich deklaratorischen Charakter und lässt eine Abschiebung in einen anderen als den genannten Zielstaat nicht zu (vgl. OVG Hamburg, VGH Mannheim und OVG Koblenz jeweils a. a. O.). Ob die Abschiebungsbehörde für den Fall, dass sie den vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländer in einen anderen als den in der Abschiebungsandrohung bezeichneten Zielstaat abschieben will, diese Androhung abändern bzw. ergänzen oder aber vor Vollzug eine Abschiebungsanordnung erlassen muss, um dem Ausländer dadurch effektiven Rechtsschutz auch in Bezug auf den neuen Zielstaat zu ermöglichen (so OVG Koblenz, a. a. O.), bedarf im vorliegenden Zusammenhang keiner weiteren Erörterung.

Was die danach allein in die Betrachtung einzubeziehenden wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen in Äthiopien anbetrifft, verfügt der Senat aufgrund der vorliegenden Auskünfte, Stellungnahmen und sonstigen Quellen über die folgenden Erkenntnisse: ...

Unter Berücksichtigung dessen kann vorliegend von einer individuellen, d.h. dem Kläger als Einzelperson drohenden Gefahr - wie dies in § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG im Regelfall - verlangt wird - nicht ausgegangen werden. Der Kläger träfe im Falle seiner Rückkehr in sein Heimatland auf fraglos äußerst beschwerliche Lebensumstände, denen aber in gleichem Maße die Bevölkerung in Äthiopien allgemein ausgesetzt ist. Es sind im Falle des Klägers auch keine Anhaltspunkte vorgetragen oder sonst erkennbar, die die Annahme rechtfertigen könnten, dass er aufgrund von persönlichen - etwa gesundheitlichen - Umständen in besonderem Maße stärker gefährdet wäre als die Vielzahl seiner in Äthiopien lebenden Landsleute.

Der Kläger hat indes Anspruch auf Abschiebungsschutz gemäß § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG in verfassungskonformer Auslegung wegen allgemeiner Gefahren im Sinne von § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG. Unter Berücksichtigung der ihm zur Verfügung stehenden Erkenntnisse steht zur Überzeugung des Senats fest, dass der Kläger aufgrund der allgemeinen Lage in Äthiopien akut an Leib und Leben gefährdet wäre.

Der Senat hat in früheren Entscheidungen (vgl. Urteil vom 11. Dezember 2000, 9 UE 2200/98.A -) festgestellt, dass aufgrund der damaligen katastrophalen Versorgungslage junge alleinstehende Äthiopier, die als Jugendliche aus ihrem Heimatland geflohen sind, über kein eigenes Vermögen und über keinen familiären Rückhalt in Äthiopien mehr verfügen, bei einer Rückkehr in ihr Heimatland einer existenzbedrohenden Gefahr für Leib und Leben ausgesetzt seien und daher den Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG in verfassungskonformer Auslegung beanspruchen könnten.

Die persönliche Situation, in der sich der Kläger befindet, ist dieser Fallkonstellation mit Blick auf die sich derzeit anbahnende Hungerkatastrophe erheblichen Ausmaßes und die dargestellte erneute Zuspitzung der seit jeher katastrophalen Versorgungslage in Äthiopien in jüngster Zeit vergleichbar.