OVG Hamburg

Merkliste
Zitieren als:
OVG Hamburg, Urteil vom 11.04.2003 - 1 Bf 104/01.A - asyl.net: M3933
https://www.asyl.net/rsdb/M3933
Leitsatz:

1. Rückkehrern nach Afghanistan, die der Volksgruppe der Hazara angehören, droht dort keine - landesweite - Gruppenverfolgung. Das gleiche gilt für Frauen, die - jedenfalls im Kabuler Raum - auch keiner unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung unterworfen sind.

2. Es besteht für Rückkehrer im Kabuler Raum ferner keine extreme Gefahrenlage wegen fehlender oder unzureichender Sicherheit und Versorgung (mehr), die eine verfassungskonforme Anwendung des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG rechtfertigt (Bestätigung der bisherigen Rspr. des Senats).(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Afghanistan, Hazara, Gebietsgewalt, Verfolgungsbegriff, Quasi-staatliche Verfolgung, Gruppenverfolgung, Flüchtlingsfrauen, Interne Fluchtalternative, Geschlechtsspezifische Verfolgung, Diskriminierung, Zwangsverheiratung, Menschenrechtswidrige Behandlung, Situation bei Rückkehr, Abschiebungshindernis, allgemeine Gefahr, Abschiebungsstopp, Extreme Gefahrenlage, Sicherheitslage, Versorgungslage, Existenzminimum
Normen: AuslG § 51 Abs. 1; AuslG § 53 Abs. 4; AuslG § 53 Abs. 6
Auszüge:

Das Abschiebungsverbot des § 51 Abs. 1 AuslG, dessen Voraussetzungen sich mit denen einer politischen Verfolgung im Sinne von Art. 16 a Abs. 1 GG decken, greift nicht zu Gunsten der Kläger ein. Dabei kann - mit dem Verwaltungsgericht - offen bleiben, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang in Afghanistan derzeit eine staatliche oder quasi-staatliche Gewalt existiert. Denn es lässt sich jedenfalls nicht feststellen, dass den Klägern im Falle ihrer Rückkehr nach Afghanistan politische Verfolgung droht. Für eine ihnen individuell drohende Gefahr bestehen, wie bereits das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt hat, keine konkreten Anhaltspunkte.

Es ergibt sich für die Kläger aber auch keine generelle Verfolgungsgefahr aus dem

Umstand, dass sie der Volksgruppe der Hazara angehören bzw. Klägerinnen zu 1) und 2) weiblichen Geschlechts sind.

Die Annahme einer Gruppenverfolgung - hier der Hazara - setzt voraus, dass Gruppenangehörige in so intensiver Weise und so häufig verfolgt werden, dass jeder von ihnen befürchten muss, alsbald selbst Opfer gleichartiger Verfolgungen zu werden (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.9.1992, EZAR 2002 Nr. 23). Das Verwaltungsgericht hat ausgeführt, dass eine solche Situation für die Hazaras auch unter der Herrschaft der Taliban nicht bestanden habe. Übergriffe gegen die Hazaras seien seinerzeit im Wesentlichen im Zusammenhang mit örtlichen Kriegshandlungen erfolgt, eine gleichsam flächendeckende Verfolgung der Hazaras durch die Taliban habe es jedoch nicht gegeben. Ob dem für den damaligen Zeitpunkt zu folgen ist, kann offen bleiben. Auch wenn man insoweit zu einer anderen Beurteilung käme und deshalb davon ausgehen müsste, dass die Kläger seinerzeit aus begründeter Furcht vor einer akut bevorstehenden Verfolgung das Land verlassen haben, so lässt sich jedenfalls für den jetzt nach § 77 Abs. 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der Berufungsentscheidung feststellen, dass sie - zumindest im Raum Kabul - vor einer Verfolgung als Hazaras hinreichend sicher sind. Das ergibt sich aus der aktuellen Auskunftslage.

Das gilt insbesondere für den Kabuler Raum, da die Hazaras hier sogar in der Übergangsregierung Karzai repräsentiert sind (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes v. 2.12.2002, a.a.O.). Allein die hinreichende Sicherheit im Kabuler Raum reicht als inländische Fluchtalternative für die Sicherheit vor Verfolgung aus. Es ist hierfür nicht erforderlich, wie die Kläger meinen, dass sie auch in allen anderen Landesteilen vor Verfolgung sicher sind.

Eine generelle Verfolgung wegen ihres weiblichen Geschlechts droht den Klägerinnen zu 1) und 2) ebenfalls nicht. Ob dies auch für die Zeit unter den Taliban zutraf, wie es das Verwaltungsgericht angenommen hat, kann dabei wiederum offen bleiben. Denn jedenfalls zum heutigen Zeitpunkt besteht eine derartige generelle Gefahrenlage nicht mehr, zumindest nicht landesweit, etwa im Kabuler Raum, so dass die Klägerinnen zu 1) und 2) jedenfalls hier vor Verfolgung hinreichend sicher sind. So weist das Auswärtige Amt in seinem Lagebericht vom 2. Dezember 2002 (S. 13) darauf hin, dass die von den Taliban gegen Frauen erlassenen Verbote betreffend Freizügigkeit und Ausbildung sowie Arbeitsmöglichkeiten zwar formal nicht mehr in Kraft seien, sich gleichwohl aber bisher nur begrenzte Verbesserungen ergeben hätten. Dies liege u.a. an der weiterhin strengen Ausrichtung an Traditionen, fehlender Schulbildung sowie an den für viele unsicheren Zukunftsperspektiven. Zu einem günstigeren Urteil, jedenfalls für den Kabuler Raum, kommt Danesch in seinem Gutachten vom 5. August 2002 (S. 5): Danach werden Frauen in Kabul aus geschlechtsspezifischen Gründen nicht mehr diskriminiert und entrechtet, wenn sie nicht grob gegen den immer noch existierenden Sittenkodex der afghanischen Gesellschaft verstoßen. Frauen könnten heute in Kabul frei ausgehen, einen Beruf ergreifen, öffentliche Ämter übernehmen und sich in der Politik engagieren; sie müssten auch nicht mehr die Burkha tragen. In den Provinzen sei die Situation freilich schlechter. Ähnlich äußert sich Glatzer in seinem Gutachten vom August 2002 (S. 3): Es gebe keine Verfolgung von Frauen, die sich im Rahmen der ortsüblichen Normen verhielten.

Die jüngsten Pressemeldungen bestätigen, wiederum in erster Linie für den Kabuler Raum, diese Einschätzung.

Der Auskunftslage lässt sich ferner nichts dafür entnehmen, dass Frauen, wiederum jedenfalls im Kabuler Raum, in größerem Umfang etwaigen Übergriffen schutzlos ausgesetzt sind. Auch für die Gefahr einer Zwangsheirat, die in der Berufungsbegründung besonders angeführt wird, bestehen hier keine ausreichenden Anhaltspunkte. Laut EURASIL-Bericht (S. 57/58) kommen nach Angabe des Frauenministeriums "arranged marriages", wie es sie unter den Taliban gegeben habe, heute nicht mehr vor. Frauen, die derartiges befürchteten, könnten im Übrigen mit der Hilfe des Ministeriums rechnen. Andere Auskünfte, die ebenfalls im EURASIL-Bericht erwähnt werden, besagen zwar, dass nach wie vor junge Frauen von lokalen Kommandanten zur Ehe gezwungen würden. Soweit darüber im Einzelnen berichtet wird, betreffen diese Fälle jedoch nicht den Kabuler Raum, sondern andere Provinzen.

Für die Kläger bestehen auch keine Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG. Das gilt sowohl für § 53 Abs. 4 AuslG als auch für § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG, die in diesem Zusammenhang allein in Betracht kommen.

Es besteht keine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass gerade den Klägern die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung - landesweit - droht. Eine solche Gefahr ergibt sich nach den Ausführungen unter 1. für sie weder aus ihrer Volkszugehörigkeit (Hazara) noch daraus, dass sie - wie die Klägerinnen zu 1) und 2) - weiblichen Geschlechts sind.

Die Voraussetzungen eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG liegen für die Kläger ebenfalls nicht vor.

Denn sowohl der Umstand, dass sie der Volksgruppe der Hazaras angehören als auch, dass sie (Klägerinnen zu 1) und 2)) weiblichen Geschlechts sind, betreffen je für sich genommen ebenso wie in der Zusammenfassung allgemeine Gefahren, die für eine ganze Bevölkerungsgruppe bestehen. Derartigen allgemeinen Gefahren hat die oberste Landesbehörde in Hamburg Rechnung getragen, indem sie durch die Weisung 1/2003 vom 10. Januar 2003 gemäß § 54 AuslG angeordnet hat, dass Abschiebungen afghanischer Staatsangehöriger nach Afghanistan bis zum 31. Mai 2003 ausgesetzt werden. Danach dürfte hier schon die Sperrwirkung des § 53 Abs. 6 Satz 2 i.V.m. § 54 AuslG einer individuellen Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG entgegenstehen, weil die Kläger auf Grund der genannten Weisung einer extremen Gefahrenlage gar nicht ausgesetzt sind. Selbst wenn man wegen des nicht mehr weit entfernten zeitlichen Auslaufens der Weisung anderer Auffassung wäre, würde dies am Ergebnis nichts ändern. Denn eine extreme Gefahrenlage, die ausnahmsweise eine Individualentscheidung auch außerhalb des § 54 AuslG zuließe, besteht nach der den Beteiligten bekannten Rechtsprechung des erkennenden Senats (Urt. v. 14.6.2002, 1 Bf 37/02.A, 1 Bf 38/02 A; Urt. v. 22.11.2002, 1 Bf 154/02.A) jedenfalls im Kabuler Raum nicht (mehr).