OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 03.07.2003 - 13 LA 90/03 - asyl.net: M3890
https://www.asyl.net/rsdb/M3890
Leitsatz:

1. Der Senat lässt weiterhin offen, ob für das Gebiet Tschetscheniens asylerhebliche Übergriffe in einem Umfang, die die Annahme einer Gruppenverfolgung rechtfertigen, festgestellt werden können.

2. Tschetschenen finden im Staatsgebiet der Russischen Förderation eine inländische Fluchtalternative.

3. Die Fluchtalternative besteht auch angesichts der Reaktionen der Staatsgewalt auf die Geiselnahme durch Tschetschenen in dem Moskauer Musical-Theater. (Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Russland, Tschetschenien, Gruppenverfolgung, Interne Fluchtalternative, Reisewege, Zuzugsbeschränkungen, Registrierung, Verfolgungssicherheit, Inguschetien, Flüchtlingslager, Berufungszulassungsantrag, Divergenzrüge, Grundsätzliche Bedeutung
Normen: AsylVfG § 78 Abs. 3 Nr. 1; AsylVfG § 78 Abs. 3 Nr. 2; AuslG § 51 Abs. 1; AuslG § 53
Auszüge:

Zwei der Gesichtspunkte, die das Zulassungsbegehren aufzeigt, sind für eine neuerliche Befassung mit der Frage der inländischen Fluchtalternative rechtlich unerheblich. Denn weder befinden sich die Kläger in einem Flüchtlingslager in Inguschetien, noch halten sie sich in Tschetschenien auf, so dass sie dortigen - etwaigen - Säuberungsaktionen nicht ausgesetzt sind. Sie sind auch nicht gehalten, sich in Inguschetien oder Tschetschenien niederzulassen.

Im Rahmen dieses Zulassungsbeschlusses ist also lediglich die von den Klägern aufgeworfene Frage zu beantworten, ob die Reaktionen der Staatsgewalt auf die Geiselnahme durch Tschetschenen in dem Moskauer Musical-Theater die Annahme einer inländischen Fluchtalternative im gesamten Staatsgebiet der Russischen Förderation verbietet. Diese Frage verneint der Senat eindeutig.

Das Auswärtige Amt berichtet in seinem Ad hoc-Bericht vom 27. November 2002 lediglich von solchen Kontrollmaßnahmen gegenüber Tschetschenen, die asylerhebliches Gewicht nicht erreichen, mögen sie für die Betroffenen auch unangenehm sein. Wie die Geiselnahme durch Tschetschenen in Moskau zeigt, können die Kontrollmaßnahmen auch keineswegs dahin gewürdigt werden, sie stünden unter dem bloßen Vorwand der Terrorismusbekämpfung und seien in Wahrheit allein darauf gerichtet, tschetschenische Volkszugehörige in asylerheblichen Merkmalen zu treffen. Diese Annahme wird bestätigt dadurch, dass weitergehende Übergriffe nach Durchführung von Kontrollmaßnahmen allenfalls in Einzelfällen als asylrechtlich unbeachtliche sog. Amtswalterexzesse, nicht aber in einem für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderlichen flächendeckenden Maßstab feststellbar sind.

Auch unter Berücksichtigung des neueren Ad hoc-Berichts des Auswärtigen Amtes bleibt der Senat bei seiner bisherigen Einschätzung, dass Tschetschenen - also auch die Kläger - sich im Staatsgebiet der Russischen Förderation niederlassen und dort ein - wenn auch bescheidenes - Auskommen finden können. Es ist nicht beachtlich wahrscheinlich, dass die Kläger dauerhaft mit Hunger, Verelendung und schließlich mit dem Tod bedroht wären. Auch in seiner bisherigen Spruchpraxis hat der Senat ausdrücklich darauf hingewiesen, dass in Russland ohnehin mehr als 40 % der Menschen unter dem in Deutschland für notwendig erachteten Existenzminimum leben und ihr Überleben in verschiedener Art und Weise sicherstellen können. Dies gilt auch für die über 500.000 Tschetschenen, die ohne Anerkennung als Binnenflüchtlinge in den verschiedenen Teilen der Russischen Förderation leben.