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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 20.02.2003 - 1 C 13.02 - asyl.net: M3787
https://www.asyl.net/rsdb/M3787
Leitsatz:

Zur Ermessensausübung bei einem Widerruf der unbefristeten Aufenthaltserlaubnis. (Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: D (A), Albaner, Botschaftsflüchtlinge, Asylberechtigte, Asylanerkennung, Widerruf, Unbefristete Aufenthaltserlaubnis, Abschiebungsandrohung, Straftäter, Ausweisungsgründe, Nichteheliche Kinder, Schutz von Ehe und Familie, Ermessen, Mitwirkungspflichten, Beistandsgemeinschaft
Normen: AuslG § 43 Abs. 1 Nr. 4; AuslG § 27 Abs. 2 Nr. 2; AuslG § 24 Abs. 1 Nr. 6; AuslG § 46 Nr. 2; GG Art. 6
Auszüge:

Rechtsgrundlage für den Widerruf der unbefristeten Aufenthaltserlaubnis ist § 43 Abs. 1 Nr. 4 AuslG. Danach kann die Aufenthaltsgenehmigung des asylberechtigten Ausländers nur widerrufen werden, "wenn die Anerkennung als Asylberechtigter erlischt oder unwirksam wird". Die tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Vorschrift sind hier erfüllt, da mit dem bestandskräftig gewordenen Widerrufsbescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (Bundesamt) vom 18. Juli 1994 die Asylberechtigung des Klägers entfallen ist.

Der Widerruf der unbefristeten Aufenthaltserlaubnis stand danach im Ermessen der Beklagten. Dieses Ermessen hat die Beklagte entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts rechtsfehlerhaft ausgeübt.

Im Ergebnis zutreffend hat das Berufungsgericht allerdings angenommen, dass dieses Widerrufsermessen nicht in der Weise beschränkt war, dass nur ein Absehen vom Widerruf rechtmäßig gewesen wäre. Die hierfür gegebene Begründung ist indes nicht mit Bundesrecht vereinbar. Das Berufungsgericht ist davon ausgegangen, dass der Widerruf ausgeschlossen wäre, wenn der Kläger zum maßgeblichen Zeitpunkt die gesetzlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis nach § 24 Abs. 1 AuslG oder einer Aufenthaltsberechtigung nach § 27 AuslG erfüllt hätte, hat dann aber wegen der strafrechtlichen Verurteilungen des Klägers das Vorliegen der Voraussetzung des § 27 Abs. 2 Nr. 5 i.V.m. § 24 Abs. 1 Nr. 6 AuslG verneint. Der rechtliche Ausgangspunkt des Berufungsgerichts, der wohl auf das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Mannheim vom 16. Oktober 1996 - 13 S 2408/95 - (EzAR 2l4 Nr.5; ebenso Hailbronner, Ausländerrecht, § 68 AsylVfG Rn. 15 und Marx, Kommentar zum Asylverfahrensgesetz, § 68 Rn. 11) zurückgeht, findet im Gesetz keine Stütze.

Allerdings trifft es zu, dass ein Widerruf nach § 43 Abs. 1 Nr. 4 AuslG dann nicht in Betracht kommt, wenn der Ausländer unabhängig von seiner (entfallenen) Asylberechtigung aus anderen Rechtsgründen einen Anspruch auf ein dem entzogenen Recht gleichwertiges Aufenthaltsrecht hat, etwa weil er bereits zum Zeitpunkt der Zuerkennung der Asylberechtigung im Besitz einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis ist oder ihm im Zeitpunkt des Widerrufs ein Anspruch auf Erteilung eines solchen Aufenthaltstitels aus anderen Rechtsgründen (etwa auf der Grundlage von Familiennachzugsbestimmungen) zusteht. Denn die Behörde darf einen Aufenthaltstitel, den sie dem Ausländer aus anderen Rechtsgründen sogleich wieder erteilen müsste, nicht widerrufen. Um einen solchen auf anderen Rechtsgründen beruhenden Anspruch handelt es sich bei dem vom Berufungsgericht geprüften Anspruch auf Erteilung einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis nach § 24 Abs. 1 AuslG bzw. einer Aufenthaltsberechtigung nach § 27 Abs. 2 AuslG unter Berücksichtigung des erlaubten Aufenthalts aufgrund der Asylanerkennung indes nicht. Ein derartiges, auf der Asylanerkennung aufbauendes Aufenthaltsrecht ist selbst asylbedingt und unterliegt ebenfalls dem Widerruf; es kann daher dem Widerruf der unbefristeten Aufenthaltserlaubnis nach § 43 Abs. l Nr. 4 AuslG nicht entgegenstehen (so auch Fraenkel, Einführende Hinweise zum Ausländergesetz, S. 236 f., vgl. auch Nr. 43.1.4.4 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Ausländergesetz vom 28. Juni 2000 AuslG-VwV -, GMBl S. 618; Renner, Ausländerrecht in Deutschland 1998, § 39 Rn. 82 und wohl auch Hailbronner, Ausländerrecht, § 43 AuslG Rn. 18 f.).

§ 43 Abs. 1 Nr. 4 AuslG hat die früher kraft Gesetzes eintretende zwingende Rechtsfolge einer Ermessensentscheidung der Ausländerbehörde überantwortet. Eine irreversible Aufenthaltsverfestigung trotz Wegfalls der Asylberechtigung war dagegen nicht das Ziel Änderung.

Aus diesen Erwägungen ergibt sich zugleich, dass die Erfüllung der Anspruchsvoraussetzungen des § 27 Abs. 2 oder auch des § 24 AuslG auch sonst nicht als Leitlinie bei der Ausübung des Widerrufsermessens nach Wegfall der Asylberechtigung oder der Flüchtlingseigenschaft herangezogen werden kann. Mit der Zwischenschaltung einer ausländerbehördlichen Ermessensentscheidung in allen Fällen wollte der Gesetzgeber ersichtlich nicht davon abweichen, dass der Wegfall der Asylberechtigung oder der Flüchtlingseigenschaft grundsätzlich auch eine Beendigung des darauf beruhenden Aufenthalts nach sich zieht.

Der Gesetzgeber hat das der Ausländerbehörde in § 43 Abs. 1 AuslG eingeräumte Ermessen dabei nicht an bestimmte Vorgaben geknüpft, sondern insoweit einen weiten Spielraum eröffnet. Die Behörde darf danach grundsätzlich davon ausgehen, dass in den Fällen des § 43 Abs. 1 Nr. 4 AuslG in der Regel ein gewichtiges öffentliches Interesse an dem Widerruf der Aufenthaltsgenehmigung besteht, falls nicht aus anderen Rechtsgründen ein gleichwertiger Aufenthaltstitel zu gewähren ist. Bei ihrer Ermessensausübung muss die Ausländerbehörde allerdings sämtliche Umstände des Einzelfalles und damit auch die schutzwürdigen Belange des Ausländers an einem weiteren Verbleib in der Bundesrepublik Deutschland in den Blick nehmen, wie sie beispielhaft für die Aufenthaltsbeendigung durch Ermessensausweisung in § 45 Abs. 2, AuslG aufgeführt sind (vgl. dazu auch Nr. 43, 1.4.3 AuslG-VwV sowie allgemein für ausländerrechtliche Ermessensentscheidungen Nr. 7.1.2.1 ff. AuslG-VwV). Dazu gehören u.a insbesondere auch die Dauer des rechtmäßigen Aufenthalts und die schutzwürdigen persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen des Ausländers im Bundesgebiet. Auf die in anderem Regelungszusammenhang normierten speziellen Erteilungsvoraussetzungen für eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung nach § 24 AuslG oder eine Aufenthaltsberechtigung nach § 27 Abs. 2 AuslG kommt es darüber hinaus jedoch nicht an. Es verbleibt vielmehr bei dem Grundsatz, dass die speziellen Beschränkungen bei den gesetzlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung nicht auf die in anderen Kapiteln des Ausländergesetzes geregelten Tatbestände der Aufenthaltsbeendigung zu übertragen sind (vgl. hinsichtlich der Ausweisung: Urteil vom 28. Januar 1997 - BVerwG 1 C 17.94 - Buchholz 402.240 § 48 AuslG 1990 Nr. 10).

Nach diesen Grundsätzen kommt es auf die im bisherigen Verfahren im Vordergrund stehende Frage, ob der Kläger die Anspruchsvoraussetzungen für eine Aufenthaltsberechtigung nach § 27 Abs. 2 Nr. 5 i.V.m. § 24 Abs. 1 Nr. 6 AuslG trotz seiner strafrechtlichen Verurteilungen erfüllt hat und welche Bedeutung in diesem Zusammenhang die Spezialvorschrift des § 27 Abs. 2 Nr. 4 AuslG hat, nicht an. Sie muss deshalb nicht weiter geprüft und entschieden werden.

Gleichwohl ist die angefochtene Widerrufsverfügung aufzuheben, weil die Beklagte das ihr zustehende Widerrufsermessen aus anderen Gründen nicht rechtsfehlerfrei ausgeübt hat.

Der Widerruf ist namentlich darauf gestützt, dass der Kläger mit seinen zahlreichen Straftaten Ausweisungsgründe im Sinne des § 46 Nr. 2 AuslG verwirklicht habe und deshalb gezeigt habe, dass er nicht gewillt sei, sich an die bestehende Rechtsordnung zu halten. Diese ohne inhaltliche Auseinandersetzung mit den zeitlichen Zusammenhängen und dem Gewicht der einzelnen Straftaten sowie der Wiederholungsgefahr getroffene Bewertung der Verurteilungen reicht als Grundlage einer rechtlich einwandfreien Betätigung des Ermessens für eine Aufenthaltsbeendigung nicht aus.

Der Widerruf ist auch deshalb ermessensfehlerhaft, weil der Widerspruchsbescheid die vom Kläger im Widerspruchsverfahren geltend gemachte Beziehung zu seiner in Deutschland geborenen und hier lebenden, nichtehelichen Tochter nicht ausreichend - unter Beachtung der Rechte des Kindes und des Vaters aus Art. 6 Abs. 1 und 2 GG - bewertet und gewichtet hat.

Soweit die Widerspruchsbehörde zunächst ausgeführt hat, das neue Vorbringen des Klägers über, seine Vaterschaft spiele für die Entscheidung über den Widerruf keine Rolle, sondern sei im Rahmen des Antrags auf Befristung der Wirkung der Abschiebung zu berücksichtigen, geht sie von unzutreffenden rechtlichen Voraussetzungen aus. Für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit eines Widerrufs nach § 43 Abs. 1 Nr. 4 AuslG ist grundsätzlich auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten behördlichen Entscheidung abzustellen. Zu dem danach maßgeblichen Zeitpunkt der Widerspruchsentscheidung vom 14. Mai 2001 war aber der Behörde die vom Kläger vorgetragene Vaterschaft bekannt und musste deshalb in die Ermessenerwägungen eingestellt werden. Der Umstand, dass der Kläger seine Mitwirkungspflicht nach § 70 Abs. 1 AuslG verletzt hat, indem er die nur ihm bekannte Vaterschaft erst nach seiner Abschiebung geltend gemacht hat, entband die Behörde nicht von der Pflicht, auch dieses Vorbringen des Klägers bei ihrer Entscheidung über den Widerspruch - erstmals - zu berücksichtigen. Eine materielle Präklusion verspäteten Vorbringens im Widerspruchsverfahren sieht das Gesetz nicht vor.

Die hilfsweise angestellten Ermessenserwägungen im Widerspruchsbescheid zu der vom Kläger geltend gemachten Beziehung zu seiner nichtehelichen Tochter sind ebenfalls nicht frei von Rechtsfehlern. Sie verkennen den Umfang und das Gewicht der durch Art. 6 Abs. 1 und 2 GG geschützten Beziehung zwischen dem nichtehelichen Vater und seinem Kind und damit zugleich deren Rechte auf Achtung des Familienlebens nach Art. 8 EMRK; sie beruhen insoweit auch auf einer unzureichend ermittelten Tatsachengrundlage.

Art. 6 Abs. 1 GG verpflichtet die Ausländerbehorde bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen, die familiäre Bindung des Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, bei ihrer Ermessensausübung entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen zu berücksichtigen (BVerfGE 86, 81 93>). Dabei setzt eine grundrechtlich geschützte Rechtsposition nicht notwendig eine häusliche Gemeinschaft voraus. Bei einem getrenntlebenden nichtehelichen Vater bedarf es allerdings besonderer Anhaltspunkte - namentlich etwa intensiver Kontakte und der Übernahme eines nicht unerheblichen Anteils an der Betreuung und der Erziehung des Kindes oder sonstiger vergleichbarer Beistandsleistungen -, um eine schutzwürdige familiäre Lebensgemeinschaft annehmen zu können (vgl. Urteil vom 27. Januar 1998 - BVerwG 1 C 28.96 Buchholz 402.240 § 19 AuslG 1990 Nr. 4). Zu berücksichtigen ist auch, dass durch das Gesetz zur Reform des Kindschaftsrechts vom 16. Dezember 1997 (BGBl 1997 I S. 2942) die Rechtsposition des Kindes und des nichtehelichen Vaters sowohl hinsichtlich des gemeinsamen Sorgerechts als auch hinsichtlich des Umgangsrechts gestärkt worden ist.

Dem werden die Ausführungen im Widerspruchsbescheid nicht gerecht.

Darin ist lediglich ausgeführt, der Kläger habe vor seiner Abschiebung am 21. September 2000 nicht mit der Mutter uhd dem gemeinsamen Kind zusammengelebt, sondern sich seit dem 5. Juni 2000 in eine eigene Wohnung umgemeldet; es sei daher davon auszugehen, dass schon vor der Abschiebung keine Lebens- und Beistandsgemeinschaft zwischen ihm und seinem Kind bzw. dessen Mutter bestanden habe. Die Widerspruchsbehörde hat damit zu Unrecht ausschließlich auf das Nichtbestehen einer häuslichen Gemeinschaft des Vaters mit dem Kind und der Mutter des Kindes, abgestellt. Sie hat ersichtlich nicht in Betracht gezogen, dass unter Umständen auch intensive Kontakte des getrennt Lebenden nicht sorgeberechtigten Vaters zu seinem nichtehelichen Kind auch ohne Einbeziehung der Mutter eine im Sinne von Art. 6 Abs. 1 und 2 GG schutzwürdige Position darstellen können. Ebenso wenig hat sie berücksichtigt, dass auch das Interesse des Kindes an der Aufrechterhaltung einer tatsächlich, praktizierten persönlichen Beziehung zu seinem Vater in die Abwägung einzustellen ist.