VGH Baden-Württemberg

Merkliste
Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 26.03.2003 - 11 S 59/03 - asyl.net: M3720
https://www.asyl.net/rsdb/M3720
Leitsatz:

1. Zu den Kriterien und dem Prüfprogramm bei der Bemessung der Sperrfrist einer Abschiebung nach § 8 Abs. 2 Satz 3 AuslG (Parallelen und Unterschiede zur Sperrfrist einer Ausweisung).

2. Von einem nach der Abschiebung unerlaubt wieder eingereisten Ausländer kann bei der Fristbemessung grundsätzlich verlangt werden, dass er wieder ausreist und noch einen angemessenen Zeitraum im Ausland verbleibt. Dies gilt auch bei nachträglicher Eheschließung im Bundesgebiet. Bei der Dauer dieses Zeitraums sind die tatsächlichen und rechtlichen Besonderheiten des Einzelfalls zu berücksichtigen (hier: besondere Umstände der Wiedereinreise, Ehe mit einer anerkannten Asylberechtigten, gemeinsamer Sohn).(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: D (A), Jugoslawen, Ashkali, Abgelehnte Asylbewerber, Abschiebung, Illegale Wiedereinreise, Folgeantrag, Straftäter, Wirkungen der Abschiebung, Wirkungen der Ausweisung, Spezialprävention, Generalprävention, Nachträgliche Befristung, Ermessen, Fristdauer, Ausnahmefall, Schutz von Ehe und Familie, Ehefrau, Kind, Asylberechtigte
Normen: AuslG § 8 Abs. 2 S. 1; AuslG § 8 Abs. 2 S. 2; AuslG § 8 Abs. 2 S. 3; AuslG § 49; GG Art. 6
Auszüge:

Die Berufung ist nur zum Teil begründet. Der Kläger muss die Wirkungen des § 8 Abs. 2 Satz 1 und 2 AuslG als Folgen der Abschiebung vom 22.9.1997 gegen sich gelten lassen (dazu 1.), und mangels eines Ausnahmefalls ist der Weg der Regelbefristung eröffnet (dazu 2.). Nach den Grundsätzen des Befristungsermessens nach § 8 Abs. 2 Satz 3 AuslG (dazu 3.) kann der Kläger nicht verlangen, dass die Wirkungen seiner am 22.9.1997 erfolgten Abschiebung ab sofort befristet werden (dazu 4.). Der Kläger hat, da die Ablehnungsbescheide ungeachtet dessen an Ermessensfehlern leiden, auf seinen insofern als "Minus" im Verpflichtungsantrag enthaltenen Antrag aber einen Anspruch auf Aufhebung dieser Bescheide und auf Verpflichtung des Beklagten zur Neubescheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts (§ 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO, dazu 5).

3. Dem Beklagten war mithin nach § 8 Abs. 2 Satz 3 AuslG eine Ermessensentscheidung über die Dauer der Sperrfrist der Abschiebung eröffnet. Zu den für diese Fristbemessung maßgeblichen Grundsätzen ist - unter Herausarbeitung der Parallelen und Unterschiede zur Sperrwirkung der Ausweisung folgendes auszuführen:

a) § 8 Abs. 2 Satz 3 AuslG bezieht sich auf die Sperrwirkung der Ausweisung und der Abschiebung. Die Befristung ist jeweils Instrument zur Umsetzung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Maßgebliches Kriterium sind die ordnungsrechtlichen Zwecke der jeweiligen Ausgangsmaßnahme, die durch die den Ausländer erheblich belastenden Sperrregelungen des § 8 Abs. 2 Satz 1 und 2 AuslG gesichert und effektiviert werden. Diese Zwecke sind bei der Ausweisung und der Abschiebung nicht notwendig identisch, sondern gesondert zu ermitteln. Die Ausweisung verfolgt den Zweck, die Allgemeinheit vor dem Ausländer wegen der Gefahr einer Wiederholung bzw. Fortdauer der Ausweisungsgründe zu schützen (Spezialprävention) und - wo zulässig - andere Ausländer von der Verwirklichung der Ausweisungsgründe abzuschrecken (Generalprävention). Die Dauer der Sperrwirkung ist daher danach zu bestimmen, wann der oder die Ausweisungszwecke voraussichtlich erreicht sein werden, wobei nicht auf die abstrakt möglichen, sondern - entsprechend dem akzessorischen Charakter der Sperrwirkung - auf die in der zugrundeliegenden Ausweisungsverfügung konkret festgelegten Zwecke abgestellt wird (vgl. VGH Bad .-Württ., Urteil vom 24.6.1998 - 13 S 1099/96 -, InfAuslR 1998, 433; BVerwG, Urteile vom 14.11.1989 - 1 C 17.89 -, InfAuslR 1990, 278, und vom 5.4.1984 - 1 C 57.81 -, NVwZ 1984, 653 = InfAuslR 1984, 201). Bei dieser Prognose sind alle - vor allem auch nachträglich eintretende - Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, soweit sie geltend gemacht (§ 70 Abs. 1 AuslG) oder sonst für die Behörde erkennbar sind. In diesem Kontext ist auch das Gewicht des Ausweisungsgrundes im Rahmen des Systems der §§ 45 ff. AuslG maßgeblich zu berücksichtigen (vgl. BVerwG, Urteil vom 11.8.2000 a.a.O.).

Die Sperrwirkung darf so lange fortbestehen, wie es die ordnungsrechtlichen Zwecke im Einzelfall erfordern. Sind diese Zwecke andererseits (sämtlich) erreicht, ist es nicht länger gerechtfertigt, die Sperrwirkung aufrecht zu erhalten (Zweckerreichung als Fristobergrenze; dazu BVerwG, Urteil vom 11.8.2000 a.a.O.; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.6.1998 a.a.O.). Ferner sind - sei es als Element der eigentlichen Prognoseentscheidung selbst oder aber als selbstständiges fristverkürzendes Element - die aufenthaltsrechtlichen Schutzwirkungen höherrangigen Rechts, vornehmlich die Wertentscheidungen des Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 Abs. 1 und 2 EMRK sowie der im Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) verankerte Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten (BVerwG, Urteil vom 11.8.2000 und VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.6.1998 a.a.O.). Das Gewicht des Interesses des Ausländers, sich später wieder im Bundesgebiet aufhalten zu dürfen, ist für die Bestimmung der Sperrfristdauer allerdings nur insoweit erheblich, als es mit dem öffentlichen Interesse an der Verwirklichung des Ausweisungszwecks abzuwägen ist. Im Übrigen ist die Prüfung, ob dem Ausländer der Aufenthalt ermöglicht werden soll, dem anschließenden Aufenthaltsgenehmigungsverfahren vorbehalten (so zutreffend BVerwG, Urteil vom 5.4.1984 - 1 C 57.81 -, DVBl. 1984, 783 = InfAuslR 1984, 201, sowie VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.6.1998 a.a.O.). Nach Streitgegenstand und Prüfprogramm ist demnach das (selbstständige) Verfahren auf Befristung der Ausweisungssperre von den davorliegenden und nachfolgenden Verfahren - der Ausweisung einerseits und dem nach Fristende eröffneten Verfahren über (Wieder)Einreise und Aufenthalt - andererseits - zu unterscheiden.

b) Diese Maßstäbe für die Befristung der Wirkungen der Ausweisung können auch für die Befristung der Wirkungen der Abschiebung nutzbar gemacht werden. Dabei sind aber die Unterschiede in den Zwecken beider Maßnahmen zu beachten (vgl. BVerwG, Urteil vom. 11.8.2000 a.a.O., VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.6.1998 a.a.O.), was zu gewissen Modifikationen führt.

aa) Die Abschiebung ist nach § 49 Abs. 1 AuslG eine Maßnahme der Verwaltungsvollstreckung zur Durchsetzung einer (vollziehbaren) gesetzlich oder durch Verwaltungsakt begründeten Ausreisepflicht wenn die freiwillige Erfüllung dieser Ausreisepflicht nach § 42 Abs. 3 und 4 AuslG (sofortige bzw. fristgerechte Ausreise) nicht gesichert oder aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung eine Überwachung der Ausreise erforderlich erscheint. Dabei wird die Überwachungsbedürftigkeit bei Haft oder sonstigem öffentlichen Gewahrsam und in bestimmten weiteren Fallgruppen vom Gesetzgeber vorgeschrieben (§ 49 Abs. 2 AuslG). An diese Abschiebungsgründe knüpft die - akzessorische - Sperrwirkung der Abschiebung an. Das mit ihr verbundene Einreise-, Aufenthalts- und Aufenthaltsgenehmigungsverbot soll den Ausländer deswegen treffen, weil er Anlass für Vollstreckungsmaßnahmen gegeben hat und die Besorgnis besteht, dass dies bei einem künftigen Aufenthalt im Bundesgebiet erneut der Fall sein könnte (VGH Bad.-Württ., Urteil vom 20.2.2002 - 11 S 2734/01 -, InfAuslR 2002, 289; Urteil vom 24.6.1998 a.a.O.). Insofern hat die Abschiebesperrfrist eine spezialpräventive Zielrichtung. Sie soll den abgeschobenen Ausländer zur Beachtung des deutschen Aufenthaltsrechts im allgemeinen und der Ausreisepflichten im besonderen anhalten, um erneuten Zwangsvollstreckungsbedarf zu verhindern. Denn die Notwendigkeit einer Abschiebung bedeutet für Ausländerbehörden und Polizei einen erheblichen personellen, zeitlichen und finanziellen Aufwand, der nur begrenzt geleistet werden kann, soll nicht das gesamte System effektiver Ein- und Ausreisekontrolle in Gefahr geraten. Dieses System ist angesichts der großen Zahl ein- und ausreisender Ausländer in hohem Maße auf freiwillige Beachtung angelegt. Daher kommt der Abschiebesperrwirkung auch eine wichtige generalpräventive Zielrichtung zu. Diese bezweckt, andere ausreisepflichtige Ausländer von der Missachtung, Umgehung, aber auch der Verzögerung der Ausreisepflicht abzuhalten und dadurch Zwangsmittel zu vermeiden. Dieser Zweck ist deswegen bedeutsam, weil die Ausreisepflicht typischerweise als lästig empfunden wird und demgemäß der Anreiz zu Ausreisepflichtverstößen hoch ist. Insbesondere wird häufig versucht, nachträglich im Inland die Voraussetzungen eines neuen Aufenthaltsrechts zu schaffen und dadurch die zeitlichen, menschlichen und finanziellen Nachteile einer (auch nur zeitweisen) Rückkehr in den Heimatstaat und eines von dort aus zu betreibenden Visumverfahrens zu vermeiden. Die Visumpflicht ist im Interesse wirksamer präventiver Kontrolle und Steuerung der Einwanderung aber von grundlegender Bedeutung. Von ihrer Beachtung wird daher nur in wenigen Einzelfällen dispensiert ( vgl. § 9 Abs.1 Nr.1 AuslG und § 9 Abs. 1, Abs. 2 - 5 DVAusIG). Selbst diese wenigen Dispense gelten aber für abgeschobene Ausländer nicht (vgl. § 9 Abs. 7 DVAuslG). Dies zeigt, welche Bedeutung der Gesetzgeber der Sperrwirkung des § 8 Abs. 2 Satz 1 AuslG in diesem Bereich beimisst.

bb) An die dargelegten spezial- und generalpräventiven Zwecke hat die Entscheidung über die Fristdauer anzuknüpfen, wobei auch hier die Sperre nur bis zur Obergrenze der Zweckerreichung festgesetzt werden darf. Innerhalb dieses Rahmens können - analog den Ausweisungsgründen bei der Ausweisungssperrfrist - auch die bereits erwähnten Gründe der Abschiebung nach § 49 Abs. 1 und 2 AuslG für die Fristdauer beachtlich sein. Die Abschiebungsgründe des § 49 Abs. 1 und 2 AuslG sind zum einen subjektiv-willensbezogen (voluntativ) angelegt. Hierzu gehören die Fälle bewusster Missachtung der Ausreisepflicht durch Untertauchen, Namensänderung, Falschangaben gegenüber der Ausländerbehörde oder sonstige gewollte Verschleppungsmaßnahmen. In all diesen Fällen ist entweder die freiwillige Ausreise nicht gesichert (§ 49 Abs. 1 AuslG) oder aber die Ausreise ist überwachungsbedürftig (§ 49 Abs. 2 Nrn. 1, 5 und 6 AuslG). Andererseits kennt das Gesetz auch stärker objektiv ausgerichtete, an unverschuldete Eigenschaften oder an vorangegangenes Tun anknüpfende Abschiebungsgründe (etwa: Mittellosigkeit bezüglich der Abschiebekosten, tatsächliche Passlosigkeit, Abschiebungsgrund der Ausweisung nach § 47 AuslG wegen besonderer Gefährlichkeit, vgl. § 49 Abs. 2 Satz 1, Satz 2 Nrn. 2 - 4 AuslG); zu dieser Kategorie gehören auch die Fälle des Überwachungsbedarfs wegen übertragbarer Krankheiten oder wegen Hilfsbedürftigkeit (vgl. dazu die Nachweise bei GK-AuslR, § 49 AuslG Rdnrn. 25 - 29). Wenngleich letztlich immer die Besonderheiten des Einzelfalls entscheiden, wird ein willentlich herbeigeführter Abschiebungsgrund in spezial- wie generalpräventiver Hinsicht bei der Befristungsdauer tendenziell schwerer zu gewichten sein als ein primär objektiver Abschiebungsgrund.

cc) Wie bei der Ausweisung kommt es ferner auch bei der Abschiebung für die Fristbemessung maßgeblich auf das Verhalten des Ausländers nach seiner Abschiebung an. Dieses Verhalten ist im Hinblick darauf zu würdigen, ob und gegebenenfalls wie lange von dem Ausländer (noch) die Gefahr ausgeht, dass er einen Abschiebungsgrund nach § 49 AuslG verwirklicht. In diesem Zusammenhang kommt insbesondere einer unerlaubten Wiedereinreise Bedeutung zu. Diese belegt regelmäßig, dass der spezialpräventive wie der generalpräventive Zweck der Sperrwirkung noch nicht erreicht ist, die Sperrfrist daher aus öffentlichem Interesse noch eine gewisse Zeit fortzudauern hat. Bei der Entscheidung kann aber auch hier nicht schematisch - etwa durch Festlegung einer allgemeingültigen Mindestsperrfrist - vorgegangen werden. Vielmehr ist jeweils individuell zu beurteilen, welche Schlüsse aus dem Einreiseverstoß für den Wiederholungsfall oder für ein Abschreckungsbedürfnis zu ziehen sind. Dabei sind auch die jeweiligen Hintergründe und Anlässe der Wiedereinreise in den Blick zu nehmen. Diese können in besonders gelagerten Fällen sowohl zugunsten (fristverkürzend) als auch zulasten des Ausländers (fristverlängernd) zu Buche schlagen. Schließlich sind - wie bei der Ausweisung - auch bei Bemessung der Abschiebungssperrfrist die einschlägigen höherrangigen Schutzzwecke und verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen (Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 8 EMRK) zu beachten und den öffentlichen Interessen gegenüber zu stellen.

dd) Endlich ist - analog zur Ausweisung - das Verfahren auf Befristung der Abschiebungswirkungen seinerseits nach Streitgegenstand und Prüfprogramm von den vorangehenden und den nachfolgenden Verfahren abzugrenzen. Maßstab für die Fristbemessung können nur die Zwecke und Gründe der Abschiebung selbst sein. Demgegenüber sind die Gründe, die zur Beendigung eines früheren Aufenthaltsrechts und damit zur Ausreisepflicht geführt haben, grundsätzlich unerheblich. Zum anderen ist es auch nicht Zweck der Abschiebungssperrfrist, die Entscheidung über ein künftiges Aufenthaltsrecht vorwegzunehmen. Daher ist das Gewicht des Interesses, sich wieder im Bundesgebiet aufhalten zu dürfen auch für die Abschiebungssperrfrist nur insoweit erheblich, als es mit den Fristzwecken abzuwägen ist; ansonsten ist die Prüfung der Aufenthaltsvoraussetzungen dem späteren - nach Fristende eröffneten - Aufenthaltsgenehmigungsverfahren vorzubehalten. In diesem Kontext erschließt sich auch die Beurteilung von nach der Abschiebung verwirklichten Ausweisungsgründen, insbesondere der nachträglichen Begehung von Straftaten. Diese sind für die Bemessung der Abschiebungssperrfrist nur insofern beachtlich, als sie Rückschlüsse auf die spezifischen Abschiebungszwecke zulassen. Dies ist der Fall, wenn sich aus solchen Ausweisungsgründen/Straftaten ergibt, dass der betreffende Ausländer zur Einhaltung auch und gerade der Ein- und Ausreisebestimmungen nicht bereit ist, und daher die Gefahr einer erneuten Abschiebung besteht. Im übrigen sind diese Gründe grundsätzlich erst im Rahmen eines nachfolgenden Verfahrens zur Aufenthaltsgewährung zu berücksichtigen.