VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Urteil vom 29.11.2002 - 6 UE 2235/98.A - asyl.net: M3621
https://www.asyl.net/rsdb/M3621
Leitsatz:

Kurden, die sich in Deutschland öffentlich als Kriegsdienstverweigerer bekannt haben, droht nur dann mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung bei Rückkehr in die Türkei, wenn Anhaltspunkte dafür gegeben sind, dass sie im Rahmen der Einreisekontrolle dem Verdacht der Mitgliedschaft oder der Unterstützung der PKK ausgesetzt sind.

Schlagwörter: Türkei, Kurden, Newroz, Festnahme, Misshandlungen, Örtlich begrenzte Gruppenverfolgung, Interne Fluchtalternative, Existenzminimum, Situation bei Rückkehr, Grenzkontrollen, Nachfluchtgründe, Subjektive Nachfluchtgründe, Kriegsdienstverweigerung, Savas Hizmetini Reddedenler Grisimi/Initiative der türkischen Kriegsdienstverweigerer in der Bundesrepublik, SHRG, Deutsche Friedensgesellschaft - Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen, Demonstrationen, Auslandsvertretung, Kriegsdienstverweigerung, exilpolitische Betätigung, Strafverfolgung, Wehrdienstentziehung, Sippenhaft
Normen: GG Art. 16a; AuslG § 51 Abs. 1; TStGB Art. 159; TStGB Art. 155; MStGB Art. 58
Auszüge:

Für die Frage der Rückkehrgefährdung eines Kurden, der sich im Bundesgebiet öffentlich als Kriegsdienstverweigerer bekannt hat, ist entscheidend, ob Anhaltspunkte dafür gegeben sind, dass er bei seiner Rückkehr in die Türkei von der Polizeibehörde im Rahmen der Einreisekontrolle dem Verdacht der Mitgliedschaft oder der Unterstützung der PKK ausgesetzt sein wird.

Allein der Anschluss an Kriegsdienstverweigerungsorganisationen oder die Teilnahme an Kriegsdienstverweigerungsaktionen genügt für die Annahme einer Rückkehrgefährdung nicht.

Der Anschluss an die türkische Kriegsdienstverweigererorganisation "Savas Hizmetini Reddedenler Girisimi (SHRG)/Inititative der türkischen Kriregsdienstverweigerer in der Bundesrepublik" oder an die "Deutsche Friedensgesellschaft - Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen" sowie die Teilnahme an von diesen Organisationen durchgeführten Aktionen, sind nicht grundsätzlich bereits geeignet, konkrete Anhaltspunkte für eine Mitgliedschaft oder Unterstützung der PKK zu liefern, die bei der Einreisekontrolle den Betreffenden in den Verdacht separatistischer Propaganda und der PKK-Nähe rücken, so dass dessen Überstellung an die politische Abteilung der Polizei nach den vorangegangenen Ausführungen zur Einreiseüberprüfung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohte.

Zum einen handelt es sich bei den genannten Organisationen nicht um solche, deren Zielsetzung auf die Bekämpfung der türkischen Staatsideologie des Prinzips der Unteilbarkeit von Nation und Territorium der Republik Türkei gerichtet ist, sondern vielmehr um Gruppierungen, die sich allgemeinen humanitären und pazifistischen Zielen verpflichtet fühlen und die in erster Linie dem von ihnen als Menschenrecht propagierten Recht auf Kriegsdienstverweigerung (speziell bzw. auch) in der Türkei Geltung verschaffen wollen. So wird etwa aus der - dem Gericht vorliegenden, im vorliegenden Verfahren in der mündlichen Verhandlung angesprochenen -, Kriegsdienstverweigerungserklärung vom(..), die von Aktionsteilnehmern vor dem türkischen Generalkonsulat in (...) unterzeichnet und an das Konsulat gesandt worden ist, deutlich, dass die hinter dieser Erklärung stehenden zuvor genannten Organisationen damit die in der Türkei seit vielen Jahren andauernden bewaffneten Auseinandersetzungen, von denen die kurdische Bevölkerung betroffen ist und die bereits zahlreiche Todesopfer gefordert haben, nicht nur zum Anlass genommen haben, die türkische Regierung aufzufordern, diesen Krieg zu beenden, stattdessen nach einer politischen Lösung zu suchen und auch in der Türkei ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung zu gewährleisten, sondern dass damit vor allem der Aufruf an die Menschen erfolgt, Vorbild für andere zu sein, den Kriegsdienst selbst nicht anzutreten und Kriegsdienstverweigerer zu unterstützen. Dies unterstreicht deutlich, dass die beschriebenen Zielsetzungen der beiden Kriegsdienstverweigererorganisationen in keiner Weise mit denen der PKK im Einklang stehen.

Auch wenn die Teilnehmer an den Aktionen dieser Kriegsdienstverweigerervereinigungen bewusst ihre Identität preisgegeben haben, so ist aus den dargestellten, bei diesen Aktionen eindeutig im Vordergrund stehenden Zielen nicht zu befürchten, dass sich für die türkischen Behörden bei der Einreisekontrolle in Bezug auf die immer größer werdende Zahl der Teilnehmer an solchen Aktionen konkrete Anhaltspunkte für deren separatistische Einstellung ergeben.

Andererseits ist zu berücksichtigen, dass diese immer wieder in ähnlicher Weise ablaufenden Aktionen mit öffentlichen Aufrufen gegen den Kriegsdienst verbunden sind, in denen auch das türkische Militär scharf kritisiert wird.

Da die türkische Verfassung ein Recht auf Verweigerung des Wehrdienstes nicht kennt (s. Rumpf an VG Darmstadt vom 22.03.1995; AA an VG Hamburg vom 27. Oktober 1997) und von einem Vorrang der nationalen Sicherheit vor dem Gewissen und der Religion ausgeht, ist Kriegsdienstverweigerung nach türkischem Recht strafbar, ebenso wie bereits der Aufruf zur Kriegsdienstverweigerung. In Betracht kommen nach Rumpf insbesondere die Straftatbestände Art. 153 TStGB <Aufforderung zum Ungehorsam> und Art. 155 TStGB <Entfremdung des Volkes vom Militär> (s. Rumpf an VG Darmstadt vom 22.03.1995); des Weiteren ist auch eine Bestrafung nach Art. 159 TStGB <Beleidigung der Streit- und Sicherheitskräfte> möglich (s. Rumpf an VG Darmstadt vom 14.01.1998 sowie Kaya an VG Kassel vom 09.02.1998).

In einer vom VG Kassel eingeholten Stellungnahme des Max-Planck-Institutes für Ausländisches und Internationales Strafrecht vom 20. Dezember 1999 sieht die Gutachterin Dr. Silvia Tellenbach den Tatbestand des Art. 155 TStGB sowie des auf letztgenannte Vorschrift inhaltlich verweisenden Art. 58 MStGB dadurch als erfüllt an, dass vor dem türkischen Generalkonsulat in der Öffentlichkeit ein Protestschreiben verlesen wird, in dem eine Aufforderung an eine unbestimmte Anzahl von Menschen geht, den Militärdienst zu verweigern. Der in Art. 155 TStGB genannte Strafrahmen (2 Monate bis 2 Jahre Gefängnis und Geldstrafe) liege um 50 % höher, wenn die Tat gemäß Art. 4, 5 ATG als terroristische Tat eingestuft werde; nicht jede Abwerbung vom Militärdienst könne aber eo ipso als terroristische Tat (= Hilfsaktion für die PKK) angesehen werden. Straftaten nach Art. 58 MStGB könnten auch als Auslandstat verfolgt werden. In Betracht zu ziehen sei weiterhin der Straftatbestand des Art. 159 TStGB; dessen Strafmaß liege bei 1 - 6 Jahren Zuchthaus. Art. 4 TStGB sehe eine Verfolgung dieser Tat als Auslandstat von Amts wegen vor; vorab bedürfe es dazu eines Verfolgungsersuchens des zuständigen (Verteidigungs-) Ministeriums. Die Verurteilung einer Auslandstat gemäß Art. 159 TStGB sei in der Rechtsprechung bisher nicht feststellbar gewesen, wenn auch nicht ausgeschlossen werden könne, dass es solche Verurteilungen geben könnte.

In einem am ergangenen Urteil des Strafgerichts Midyat, an dessen Echtheit der erkennende Senat nicht zweifelt (s. AA, 29. Oktober 2001 an das Verwaltungsgericht des Saarlandes), ist es - soweit ersichtlich erstmals - zu einem strafgerichtlichen Verfahren nach Art. 159 TStGB im Zusammenhang mit Kriegsdienstverweigerungsaktionen von Kurden in Deutschland gekommen. Das genannte türkische Gericht gelangte in diesem Verfahren zu der eindeutigen Feststellung, dass die Einreichung der von den (acht) Angeklagten selbst unterschriebenen Erklärungen, deren Inhalt im Strafgerichtsurteil näher dargestellt wird, an das türkische Generalkonsulat in Deutschland den Straftatbestand des Art. 159 TStGB erfüllt.

Aufgrund des (Amnestie-) Gesetzes Nr. 4616 vom 21.12.2000 stellte das Gericht die öffentliche Klage gegen die Angeklagten zurück und wies darauf hin, dass das Verfahren wieder aufgenommen werde, wenn innerhalb von fünf Jahren eine Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe erfolgt, die gleichartig oder schwerer sei als die zur Rede stehende.

Nach Taylan, der sich auf die Angaben von in politischen Verfahren tätigen türkischen Rechtsanwälten stützt, ist die Zahl solcher und ähnlicher Verfahren als sehr gering einzuschätzen. Wegen der umfassenden persönlichen Angaben auf dem unterschriebenen Protestschreiben sei der türkischen Staatsanwaltschaft anscheinend nichts anderes übrig geblieben, als Anklage zu erheben. Ein weiteres Verfahren wegen Unterstützung der PKK hielten seine Informanten nur dann für vorstellbar, wenn zusätzliche Verbindungen zur PKK nachgewiesen werden konnten (Taylan, 23.06.2001 an VG Saarlouis). In einem vom Prozessbevollmächtigten des Klägers zu 1) im Berufungsverfahren vorgelegten Gutachten von Oberdiek vom 22.11.2001 teilt letzterer mit, dass es sich bei dem zuvor dargestellten Strafverfahren von Midyat um das erste ihm bekannte Verfahren handele, in dem nach Art 159 TStGB wegen der geäußerten Absicht, den Kriegsdienst zu verweigern, angeklagt und geurteilt worden sei. Die meisten in der Türkei nach der besagten Vorschrift durchgeführten Verfahren ließen sich als "Gesinnungsjustiz" bezeichnen, die die Person in ihrer (oppositionellen) politischen Überzeugung treffen soll. Das Verfahren in Midyat sei nicht wegen der erklärten Verweigerung des Militärdienstes eröffnet worden, sondern weil Worte wie "schmutziger Krieg", "Mordmaschine" und "Massaker" verwendet worden seien. Das Wort "Kurdistan" hätte ebenfalls zu einer Anklage nach Art. 8 ATG führen können; auch dieser Artikel werde im Rahmen der "Gesinnungsjustiz" eingesetzt.

Bei den acht Angeklagten aus dem Verfahren vor dem Strafgericht Midyat handele es sich allesamt um Personen aus dem Kreis Idil (Provinz Sirnak). Sirnak sei in den 80 er Jahren nur aus militärischen Gesichtspunkten heraus zu einer Provinzhauptstadt geworden. Die gesamte Provinz sei stark umkämpft gewesen und es könne behauptet werden, dass die PKK Teile dieser Provinz beherrscht habe. Jugendliche aus dieser Region, die sich nicht als Dorfschützer bewaffnen ließen und sich noch dazu ins Ausland abgesetzt hätten, seien mit hoher Wahrscheinlichkeit dem Verdacht der aktiven Unterstützung der PKK ausgesetzt; dies gelte umso mehr, wenn sie erklärt hätten, dass sie nicht gegen Angehörige der PKK kämpfen wollten. Dies werde seine Konsequenzen bei einer Rückkehr der genannten Angeklagten in die Türkei haben. Mit dem Verfahren von Midyat seien sie "aktenkundig" geworden und würden bei einer Einreise nach einer Überprüfung der Identität vermutlich nicht sofort wieder auf freien Fuß kommen. Neben den Kreiswehrersatzämtern dürfte auch die politische Polizei ein Interesse an ihnen haben. Schon die Polizei am Flughafen könnte "grob" werden, da es sich in deren Augen um "Vaterlandsverräter" handele; Folter und Misshandlung würden nicht nur als Verhörmethode eingesetzt, um an Geständnisse zu gelangen, sondern eben auch als eine Art "Vorstrafe" für "Verbrecher", "Verräter" oder "Terroristen". Eine anschließende Überstellung zur politischen Polizei hält Rumpf in diesem Zusammenhang für durchaus wahrscheinlich. Die Ernsthaftigkeit der Verweigerung würde nicht nur mit entsprechenden Fragen überprüft werden, sondern ganz sicher auch Schläge oder feinere Formen der Folter einschließen.

Vor allem die zuletzt wiedergegebenen gutachterlichen Stellungnahmen von Taylan und Oberdiek lassen erkennen, dass es für die Einschätzung der Rückkehrgefährdung nicht maßgeblich auf die in der Türkei zu erwartende Bestrafung wegen einer öffentlich abgegebenen Erklärung zur Kriegsdienstverweigerung ankommt. Entscheidend ist vielmehr zum einen, ob im konkreten Einzelfall davon ausgegangen werden kann, dass der Betroffene in das Blickfeld der türkischen Behörden gerückt und für diese identifizierbar geworden ist, wie etwa durch die in vielen Fällen erfolgte Übersendung der hier in Rede stehenden Erklärungen an ein türkisches Konsulat mit voller Namens- und Adressangabe. Vor allem aber ist von Bedeutung, ob daneben auch konkrete Anhaltspunkte dafür gegeben sind, dass der an Kriegsdienstverweigerungsaktionen der beschriebenen Art Teilnehmende bei seiner Rückkehr in die Türkei von der Polizeibehörde im Rahmen der Einreisekontrolle dem Verdacht der Unterstützung der PKK ausgesetzt sein wird. Die bloße "Abwerbung vom Militärdienst" ist - wie die Gutachterin Dr. Tellenbach des Max-Planck-Institutes für Ausländisches und Internationales Strafrecht in ihrem Gutachten vom 20. Dezember 1999 ausführt, nicht "eo ipso" als terroristische Tat (= Hilfsaktion für die PKK) anzusehen.

Diese Einschätzung der Rückkehrgefährdung von Kurden, die sich im Bundesgebiet

öffentlich als Kriegsdienstverweigerer bekannt haben, findet ihre Bestätigung auch in dem publik gewordenen, im Gutachten von Oberdiek ebenfalls angesprochenen Fall des aus Midyat stammenden Kriegsdienstverweigerers A. D.

Bei seiner Einreise ist er von der Polizei verhaftet, dann deren politischer Abteilung überstellt und von letzterer nach seinen Angaben 24 Stunden lang unter Folter verhört worden; dem Auswärtigen Amt ist es allerdings nicht möglich, die Angaben zu den Misshandlungsvorwürfen eindeutig zu verifizieren (s. AA, 24. 07.2001, Lagebericht, S. 21).

Wegen Desertion und Flucht ins Ausland ist er von einem Militärgericht zu 2 Jahren und 6 Monaten Haft verurteilt worden. Die bereits 1997 erhobene Anklage auf der Grundlage von Art. 8 ATG führte nicht zu einer Verurteilung. Das Staatssicherheitsgericht Diyarbakir sprach D. von dem Vorwurf der "separatistischen Propaganda" im März 1999 frei (s. auch Oberdiek vom 22.11.2001).

Die Überstellung von D. an die politische Abteilung der Polizei erfolgte ersichtlich aufgrund der zum Zeitpunkt der Abschiebung bereits existenten Anklage wegen Art. 8 ATG, mithin also, weil der Betreffende aufgrund der erhobenen Anklage bei der Einreisekontrolle durch die Flughafenpolizei in den Verdacht separatistischer Propaganda und der PKK-Nähe gerückt war. Ähnliche Bewertungskriterien liegen letztlich auch dem Beschluss des Petitionsausschusses vom 07.11.2001 zugrunde, wenn dort darauf abgestellt wird, dass die türkische Zeitung "Hürriyet" die aktiv in Erscheinung getretenen Kriegsdienstverweigerer bei ihrer Aktion am 01.12.2000 in Hannover in einem mit Foto versehenen zweiseitigen Bericht als PKK-Anhänger bezeichnet habe. Mit der Veröffentlichung und der Denunzierung der Kriegsdienstverweigerer als PKK-Anhänger - so der Petitionsausschuss - müsse damit gerechnet werden, dass die türkischen Behörden diese Aktion in einen antitürkischen, prokurdischen, politischen Zusammenhang stellten; es sei daher nicht auszuschließen, dass dem Petenten aufgrund der in dem Hürriyet-Artikel ausgesprochenen Verdächtigungen erhebliche Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit drohten.

Nach den oben beschriebenen Kriterien für eine Rückkehrgefährdung erscheint es nicht beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger zu 1) bei einer Rückkehr in die Türkei im Rahmen der Einreisekontrolle asylerheblichen Maßnahmen ausgesetzt sein wird, weil er an Kriegsdienstverweigerungsaktionen in der beschriebenen Weise teilgenommen hat.