FG München

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Zitieren als:
FG München, Urteil vom 16.10.2002 - 9 K 1526/98 - asyl.net: M3598
https://www.asyl.net/rsdb/M3598
Leitsatz:

Auch für die Zeit eines Schulbesuches in der Türkei liegt im vorliegenden Fall ein inländischer Wohnsitz vor, sodass für sie ein Kindergeldanspruch gem. §§ 62, 63 Abs. 1 EStG. (Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: D (A), Ausländer, Türken, Kindergeld, Auslandsaufenthalt, Schulbesuch, Gewöhnlicher Aufenthalt
Normen: EStG § 62 Abs. 1 Nr. 1; EStG § 63 Abs. 1 S. 1 Nr. 1; EStG § 63 Abs. 1 S. 3; AO § 8
Auszüge:

Die Klage ist begründet. Die Kinder des Klägers hatten auch während ihres Schulbesuchs in der Türkei einen inländischen Wohnsitz, so dass die angefochtenen Bescheide rechtswidrig sind.

Nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 i. V.m. § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Abs. 1 Satz 3 EStG hat derjenige, der im Inland über einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt verfügt, einen Kindergeldanspruch nur für diejenigen Kinder, die ebenfalls im Inland, in einem Mitgliedsstaat der Europäischen Union oder in einem Staat, auf den das Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum Anwendung findet, einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt innehaben. Die Türkei zählt nicht zu den in § 63 Abs. 1 Satz 3 EStG genannten Staaten.

Der Wohnsitzbegriff i.S. von § 8 AO setzt neben zum dauerhaften Wohnen geeigneten Räumlichkeiten das Innehaben der Wohnung in dem Sinne voraus, dass der Betreffende tatsächlich über sie verfügen kann und sie als Bleibe entweder ständig benutzt oder sie doch mit einer gewissen Regelmäßigkeit - wenn auch in größeren Zeitabständen - aufsucht. Ein nur gelegentliches Verweilen während unregelmäßig aufeinander folgender kurzer Zeiträume zu Erholungszwecken reicht nicht aus (Bundesfinanzhof -BFH- Urteil vom 23. November 2000 - VI R 107/99, Bundessteuerblatt - BStBI -11 2001, 294 mit weiteren Nachweisen). Kinder, die sich lediglich zum Zwecke einer zeitlich begrenzten Schul- oder Berufsausbildung im Ausland aufhalten, behalten zwar in der Regel ihren Wohnsitz im Inland bei. Begibt sich jedoch ein Kind eines ausländischen Staatsangehörigen zur Durchführung einer Schul- oder Berufsausbildung in sein Heimatland und hält es sich dort länger auf, so reicht die Absicht, nach dem Abschluss der Maßnahme wieder an den bisherigen Wohnort oder gar in die elterliche Wohnung zurückzukehren, allein nicht dafür aus, um vom Fortbestand des bisherigen Wohnsitzes während des Auslandsaufenthalts auszugehen. Die Feststellung der Rückkehrabsicht besagt grundsätzlich nichts darüber, ob der Inlandswohnsitz während des vorübergehenden Auslandsaufenthaltes beibehalten oder aber aufgegeben und nach der Rückkehr neu begründet wird.

Der Inlandswohnsitz wird in solchen Fällen nur dann beibehalten, wenn der Betroffene entweder seinen Lebensmittelpunkt weiterhin am bisherigen Wohnort hat (keine Wohnsitzbegründung am Ort des Auslandsaufenthalts) oder er zwar keinen einheitlichen Lebensmittelpunkt mehr hat, er aber nunmehr über zwei Schwerpunkte der Lebensverhältnisse (zwei Wohnsitze) verfügt, von denen einer am bisherigen Wohnort liegt (BFH-Urteil in BStBll1 2001, 294).

Bei von vornherein auf mehr als ein Jahr angelegten Auslandsaufenthalten reichen kurzzeitige Besuche und sonstige kurzfristige Aufenthalte zu Urlaubs-, Berufs- oder familiären Zwecken, die nicht einem Aufenthalt mit Wohncharakter gleichkommen und daher nicht "zwischenzeitliches Wohnen" in der bisherigen Wohnung bedeuten, nicht dazu aus, um die Aufrechterhaltung des Inlandswohnsitzes anzunehmen. Zum einen müssen die objektiven Wohnverhältnisse so geartet sein, dass sie die Möglichkeit eines längeren Wohnens des Kindes in der Wohnung der Eltern bieten. Zum anderen darf die Anwesenheit des Kindes in der elterlichen Wohnung nicht nur Besuchscharakter haben, wie das bei Aufenthalten von jeweils zwei bis drei Wochen pro Jahr der Fall ist (BFH-Urteil in BStBll1 2001, 294).

Die Kinder des Klägers haben bei ihrer Zeugeneinvernahme übereinstimmend angegeben, während der gesamten Dauer ihres Schulbesuches in der Türkei in den rund zweiwöchigen Winterferien im Januar/Februar und in den Sommerferien von Juni bis September ausnahmslos nach Deutschland zu den Eltern gefahren zu sein und dort in der elterlichen Wohnung gewohnt zu haben. Dort ist für die Kinder auch Wohnraum zur Verfügung gestanden. ln der Türkei lebten die Kinder dagegen lediglich in Internatszimmern mit rund 10 anderen Schülern zusammen. Eine Wohnung bei Verwandten in der Türkei hatten die Kinder dagegen nicht.

Unter diesen Umständen haben die Kinder einen Wohnsitz in der Wohnung der Eltern aufrecht erhalten. Aufgrund der Zeugenaussagen ist der Senat der Überzeugung, dass sie in der Türkei über die schulischen Interessen hinaus keine Interessen verfolgt haben, die eine Integration und eine mögliche dauernde Bleibe in der Türkei zum Ziel haben. Vielmehr zeigt der Umstand, dass sie in den Ferien stets auf schnellstem Weg nach Deutschland gefahren sind, dass sie ihren Lebensmittelpunkt bei den Eltern hatten und nicht in der Türkei. Ein regelmäßiger Aufenthalt von rund drei Monaten Dauer in der Wohnung der Eltern hat nicht nur Besuchscharakter, sondern zeigt, dass die Kinder hier eine Wohnung im Sinne von § 8 AO tatsächlich inne haben.

Da für den Kläger somit ein Kindergeldanspruch nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG bestand, ist der angefochtene Aufhebungsbescheid vom 29. November 2000 rechtswidrig und nach § 100 Abs. 1 Satz 1 FGO aufzuheben. Der angefochtene Bescheid vom 24. März 1997, mit dem Kindergeld für die Söhne B und C ab Oktober 1996 nur noch in Höhe der Sätze nach dem deutsch-türkischen Abkommen festgesetzt wurde, ist nach § 100 Abs. 2 Satz 1 FGO dahingehend zu ändern, dass Kindergeld in Höhe der Sätze des § 66 EStG festgesetzt wird.