OVG Rheinland-Pfalz

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Zitieren als:
OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 20.09.2001 - 6 A 11840/00.OVG - asyl.net: M3534
https://www.asyl.net/rsdb/M3534
Leitsatz:

Keine hinreichende Verfolgungssicherheit für ethnische Armenier in Aserbaidschan; jedoch interne Fluchtalternative in Berg-Karabach. (Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Aserbaidschan, Armenier, Christen, Haft, Misshandlungen, Herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Gruppenverfolgung, Mittelbare Verfolgung, Verfolgung durch Dritte, Interne Fluchtalternative, Berg-Karabach, Gebietsgewalt, Verfolgungssicherheit, Existenzminimum, Reisewege, Gemischt-ethnische Abstammung
Normen: AuslG § 51 Abs. 1; AuslG § 53
Auszüge:

Im für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat (§ 77 Abs. 1 Asylverfahrensgesetz AsylVfG-) besteht zu Gunsten der Kläger kein Abschiebungshindernis i.S.d. § 51 Abs. 1 AuslG in Bezug auf die Republik Aserbaidschan.

Die in Aserbaidschan lebenden ethnischen Armenier unterlagen, auch soweit sie einer armenisch-aserischen Mischehe entstammten, im Zeitpunkt der Ausreise der Kläger einer mittelbaren staatlichen Gruppenverfolgung, die objektiv an deren Volkszugehörigkeit anknüpfte. Für die Zeit nach der Ausreise der Kläger aus Aserbaidschan wird über eine Entschärfung der Verfolgungssituation für armenische Volkszugehörige berichtet. Dass eine Gruppenverfolgung ethnischer Armenier bereits im September 1999 nicht mehr bestand, kann daraus indessen nicht gefolgert werden.

Der UNHCR berichtet in seinem "Background paper on refugees und asylum seekers from Azerbaijan" (Oktober 1999) von Beschwerden aus der armenischen Bevölkerung über Diskriminierungen bei der Beschäftigung und Belästigungen in der Schule und am Arbeitsplatz und weist darauf hin, dass amnesty international in seinem Jahresreport 1999 Fälle von Geiselhaft und grundlose Verhaftungen erwähnt. Die Abnahme der gemeldeten Probleme führt der UNHCR auch auf die geringer gewordene Zahl armenischer Volkszugehöriger in Aserbaidschan zurück. In seiner Stellungnahme an das Bundesamt vom 22. Februar 2000 führt der UNHCR aus, in Baku habe sich die Situation für die ethnischen Armenier "ansatzweise stabilisiert", während in sonstigen Landesteilen weiterhin mit Schikanen, Diskriminierungen und Bedrohungen durch die Bevölkerung oder die lokalen Sicherheitskräfte gerechnet werden müsse. Einen mit dem Abnehmen des armenischen Bevölkerungsteils einher gehenden Rückgang der Probleme für armenische Volkszugehörige sieht auch das U.S. Department of State in seinem "Azerbaijan Country Report on Human Rights Practises for 1999" vom 25. Februar 2000, Section 5 "National/Racial/Ethnic Minorities". Danach versuchten die noch in Aserbaidschan lebenden ca. 10.000 bis 20.000 Armenier - meist Frauen mit aserbaidschanischen oder russischen Ehemännern - ihre Nationalität geheim zu halten; einige hätten diese auch in ihrem Pass ändern lassen. Sie beklagten Diskriminierung bei der Arbeitssuche und Belästigungen in Schulen und am Arbeitsplatz sowie die Verweigerung der Auszahlung von Pensionen durch die Behörden. Armenischen Witwen sei die Erlaubnis zum Aufenthalt in Baku widerrufen worden. Abgenommen habe hingegen die Zahl der Fälle, in denen ethnischen Armeniern die Ausstellung eines Passes verweigert worden sei. Auch der Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 16. März 2000 verneint eine Gruppenverfolgung armenischer Volkszugehöriger für den Ausreisezeitpunkt September 1999 nicht, stellt allerdings für den Zeitpunkt der Erstattung des Lageberichts eine wesentliche Veränderung der Verfolgungssituation ethnischer Armenier in Aserbaidschan fest.

Der für Vorverfolgte anzuwendende Wahrscheinlichkeitsmaßstab würde jedoch gleichwohl für die Kläger nicht gelten, wenn sich ihnen im Zeitpunkt ihrer Ausreise eine sogenannte inländische Fluchtalternative, beispielsweise in dem Gebiet Berg-Karabach, geboten hätte. Davon kann indessen nicht gesprochen werden.

Das Gebiet Berg-Karabach gehörte weiterhin zum Territorium der Republik Aserbaidschan. Von der dauerhaften Etablierung einer fremden Staatsmacht oder staatsähnlichen Organisation in diesem Gebiet konnte und kann nicht die Rede sein, obwohl Aserbaidschan im Zeitpunkt der Ausreise der Kläger in Berg-Karabach keine Staatsgewalt ausübte (Lagebericht Aserbaidschan des Auswärtigen Amtes vom 13. April 1999). Völkerrechtlich gehört dieses Gebiet aber nach wie vor zu Aserbaidschan; die armenische Seite fordert nicht einmal mehr die Vereinigung Berg-Karabachs mit der Republik Armenien oder die Anerkennung Berg-Karabachs als unabhängigen Staat (Bundesamt, Aserbaidschan - Information, Stand: Juli 2000). Ist der Verfolgerstaat Aserbaidschan somit nicht dauerhaft aus dem Gebiet Berg-Karabach verdrängt oder ersetzt, kommt es als inländische Ausweichmöglichkeit in Betracht, wenn es tatsächlich erreichbar war (vgl. BVerwG, Urteil vom 13. Mai 1993, NVwZ 1993, 1210 ff.). Ist der Ort der inländischen Fluchtalternative aber für den regional Verfolgten unerreichbar, besteht die Möglichkeit, durch ein Ausweichen in verfolgungsfreie Zonen der regionalen Verfolgung zu entgehen, gerade nicht; der Bedrohte ist - trotz des nur regionalen Charakters der Verfolgung - auf ausländischen Schutz angewiesen (BVerwG, Urteil vom 16. Januar 2001, EZAR 203 Nr. 15). So liegen die Dinge hier.

Denn im Zeitpunkt der Ausreise der Kläger konnte man von Aserbaidschan aus in die Region Berg-Karabach nur durch die streng bewachten Frontlinien der militärischen Auseinandersetzung und damit nicht ohne Gefahr für Leib oder Leben gelangen (Auswärtiges Amt, Lagebericht Aserbaidschan vom 13. April 1999).

Im Falle der Rückkehr der Kläger nach Aserbaidschan bestehen derzeit und für die überschaubare Zukunft mehr als nur ganz entfernt liegende Zweifel an ihrer Sicherheit vor ethnischer Verfolgung.

Zwar gibt es nach dem neuesten Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 11. Mai 2001 in Aserbaidschan keine Politik der staatlichen Repressionen gegen bestimmte Volksgruppen. Insbesondere unterlägen auch Personen armenischer Abstammung in Aserbaidschan keiner systematischen staatlichen Diskriminierung. Eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit für zurückkehrende ethnische Armenier kann dem nicht (mehr) entnommen werden. Dass diese im Falle ihrer Rückkehr vor Verfolgung hinreichend sicher sind, kann daraus aber nicht geschlossen werden. Denn es gibt - wie es in diesem Lagebericht weiter heißt - gelegentlich Repressionen Dritter, die der Staat anrege, unterstütze, billige oder tatenlos hinnehme.

Den Klägern steht Abschiebungsschutz gleichwohl nicht zu, weil sie nunmehr in dem Gebiet Berg-Karabach eine Fluchtalternative haben, wo sie vor Verfolgung durch den aserbaidschanischen Staat hinreichend sicher sind.

Da die Republik Aserbaidschan dort keine Staatsgewalt ausübt, bestehen keine ernst zu nehmenden Zweifel an der Sicherheit der Kläger, wenn sie sich derzeit oder in der überschaubaren Zukunft dorthin begeben (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht Aserbaidschan vom 11. Mai 2001). Hat der Verfolgerstaat - wie hier - seine effektive Gebiets- und Verfolgungsmacht in einer bestimmten inländischen Region vorübergehend verloren, kann dort eine erneute politische Verfolgung durch denselben Verfolger regelmäßig nicht stattfinden, der Betroffene also auf absehbare Zeit verfolgungsfrei leben (vgl. BVerwG, Urteil vom 5. Oktober 1999, EZAR 203 Nr. 13). Bei gruppengerichteten Verfolgungen, die von Dritten ausgehen, bedarf näherer Ermittlung, ob eine bestehende Schutzunwilligkeit des Staates die Gefahr einer Ausweitung der Verfolgung in bisher verfolgungsfreie Räume begründet (BVerfG, Beschluss vom 23.01.1991, a.a.O.). Dies kann für das Gebiet Berg-Karabach nicht angenommen werden. Selbst wenn es im Rahmen einer Friedensregelung zu einer Übernahme der Staatsgewalt durch die Republik Aserbaidschan kommt, werden dadurch allenfalls ganz entfernt liegende Zweifel an der Sicherheit der ethnischen Armenier begründet. Denn in einer Friedensregelung wird sich die derzeit nicht nur militärische Überlegenheit der armenischen Seite niederschlagen und zumindest zu einer weit gehenden Selbstbestimmung für Berg-Karabach führen, zumal den Aserbaidschanern klar zu sein scheint, dass sie Berg-Karabach "verloren haben" (Armenien - Information des Bundesamtes, Stand: Juli 2001). Des Weiteren sind die Kläger dort wegen der ethnischen Homogenität der Bevölkerung hinreichend sicher vor an ihrer Volkszugehörigkeit anknüpfenden Verfolgungen durch eine mögliche künftige aserbaidschanische Staatsmacht. In Berg-Karabach drohen den Klägern auch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit andere Gefahren oder Nachteile, die dieses Gebiet als inländische Fluchtalternative ausschließen.

Für die Prognose einer Verfolgung der Kläger durch die staatlichen bzw. staatsähnlichen Selbstverwaltungsorgane in Berg-Karabach ist auf den Maßstab beachtlicher Wahrscheinlichkeit abzustellen. Denn insoweit sind die Kläger nicht vorverfolgt. Die Maßstabserleichterung ,hinreichender Sicherheit vor erneuter Verfolgung (durch die Republik Aserbaidschan) greift deshalb nicht ein. Als ethnischer Armenier muss der Kläger zu 1) nicht mit Benachteiligungen wegen seiner Volkszugehörigkeit durch die Selbstverwaltungsorgane in Berg-Karabach rechnen. Das gilt im Ergebnis auch für die Befürchtungen der Klägerin zu 2) und ihrer Kinder, wegen ihres aserisch-stämmigen Vaters bzw. Großvaters in dem Gebiet Berg-Karabach von den dortigen Machthabern verfolgt zu werden.

Auch andere existenzbedrohende Gefahren bestehen für die Kläger in Berg-Karabach nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit. Insbesondere kann nicht davon ausgegangen werden, dass sich die Kläger dort das Lebensnotwendige weder erarbeiten noch sonst wie beschaffen können.

Die Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative scheitert auch nicht an der fehlenden Erreichbarkeit Berg-Karabachs. In dieses Gebiet gelangt man - von Deutschland aus - gefahrlos über Armenien (Bundesamt, Armenien - Information, Stand: Juli 2001).