BVerwG

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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 17.12.2002 - BVerwG 1 C 3.02 - asyl.net: M3481
https://www.asyl.net/rsdb/M3481
Leitsatz:

1. Die Aufenthaltsbefugnis nach § 70 Abs. 1 AsylVfG darf einem anerkannten Flüchtling grundsätzlich nicht allein deshalb versagt werden, weil Zweifel an seiner Identität und Staatsangehörigkeit bestehen, sondern regelmäßig nur dann, wenn sich die Möglichkeit seiner Abschiebung in einen Drittstaat konkret abzeichnet.

2. § 8 Abs. 1 AuslG sperrt nicht die Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis nach § 70 Abs. 1 AsylVfG.

Schlagwörter: D (A), Iraker, Konventionsflüchtlinge, Aufenthaltsbefugnis, Staatsangehörigkeit ungeklärt, Identität ungeklärt, Mitwirkungspflichten, Flüchtlingsanerkennung, Bindungswirkung, Vorübergehende Unmöglichkeit der Abschiebung, Aufnahmebereiter Drittstaat
Normen: AuslG § 8 Abs. 1 Nr. 4; AuslG § 12 Abs. 2 S. 2; AuslG § 34 Abs. 1; AuslG § 41; AuslG § 51 Abs. 1; AuslG § 55 Abs. 2; AuslG § 70; AsylVfG § 4; AsylVfG § 70 Abs. 1; VwGO § 121
Auszüge:

 

Das Berufungsgericht hat den Beklagten im Ergebnis zu Recht zur Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis verpflichtet.

Der Kläger hat einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis nach § 70 Abs. 1 AsylVfG. Nach dieser Vorschrift ist dem Ausländer eine Aufenthaltsbefugnis zu erteilen, wenn das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (Bundesamt) oder ein Gericht unanfechtbar das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG festgestellt hat und die Abschiebung des Ausländers aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nicht nur vorübergehend unmöglich ist.

Der Kläger erfüllt die erste nach § 70 Abs. 1 AsylVfG bestehende Voraussetzung für den geltend gemachten Anspruch. Das Bundesamt hat nämlich mit Bescheid vom 22. März 2000 aufgrund der rechtskräftigen Entscheidung des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 21. Januar 2000 festgestellt, dass bei dem Kläger die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG in Bezug auf den Irak vorliegen. An diese - nach wie vor wirksame, insbesondere weder nichtige noch nach § 72 AsylVfG erloschene - Statusfeststellung ist die Ausländerbehörde nach § 4 AsylVfG gebunden.

Der Kläger erfüllt auch die weitere Voraussetzung, dass seine Abschiebung nicht nur vorübergehend unmöglich ist. Die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG begründet stets zugleich die nicht nur vorübergehende Unmöglichkeit der Abschiebung in den Verfolgerstaat. Die in § 70 Abs. 1 AsylVfG vorausgesetzte Unmöglichkeit der Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen kann sich danach nur auf einen Drittstaat beziehen. Für einen aufnahmebereiten Drittstaat, in den der Kläger abgeschoben werden könnte, fehlen hinreichende Anhaltspunkte.

Das Erfordernis der nicht nur vorübergehenden Unmöglichkeit der Abschiebung ist dahin zu verstehen, dass die Erteilung der Aufenthaltsbefugnis nur ausgeschlossen ist, wenn sich die Möglichkeit der Abschiebung konkret abzeichnet (vgl. auch Vormeier, in: GK-AsylVfG § 70 Rn. 15 ff.). Dafür spricht die Absicht des Gesetzgebers, die frühere Praxis der Erteilung einer Duldung als eines subsidiären Aufenthaltstitels für Fälle faktischer Aufenthaltsgewährungen zu beenden und die Duldung auf ihre eigentliche Funktion einer lediglich vorübergehenden Aussetzung der Abschiebung zurückzuführen. Ausländer, denen aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen Aufenthalt gewährt wird, sollten stattdessen einen formell legalen Aufenthaltsstatus in Gestalt einer Aufenthaltsbefugnis erhalten (vgl. Begründung des Regierungsentwurfs, BTD-Drucks. 11/6321 S. 48; Fraenkel, Einführende Hinweise zum neuen Ausländergesetz, S. 94). Dies gilt auch für nach § 51 Abs. 1 AuslG anerkannte Flüchtlinge, deren Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis ursprünglich in § 30 Abs. 5 Satz 1 AuslG a.F., der Vorläuferbestimmung des § 70 Abs. 1 AsylVfG, geregelt war. Ist ihre Abschiebung in einen Drittstaat für einen nicht überschaubaren Zeitraum unmöglich, so können sie nicht auf eine Duldung verwiesen werden.

Die Ausländerbehörde hat also nicht nur zu untersuchen, ob eine solche Abschiebung überhaupt durchgeführt werden kann. Ähnlich wie im Fall der Prüfung der Voraussetzungen einer Duldung nach § 55 Abs. 2 AuslG (vgl. Urteil vom 25. September 1997 - BVerwG 1 C 3.97 - BVerwGE 105, 232, 238) ist vielmehr zu klären, innerhalb welchen Zeitraums eine Abschiebung möglich ist. Eine Aufenthaltsbefugnis ist grundsätzlich auch dann zu erteilen, wenn die Abschiebung nicht ohne Verzögerung durchgeführt werden kann oder wenn der erforderliche Zeitraum ungewiss ist. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der für die Durchführung der Abschiebung erforderliche Zeitraum nur ein vorübergehendes Hindernis für die Abschiebung darstellt. Dies kann indessen nur für den üblicherweise erforderlichen Zeitraum gelten. Ergeben sich Hindernisse, die eine erhebliche Verzögerung der Abschiebung nach sich ziehen, ist diese im Sinne des § 70 Abs. 1 AsylVfG nicht nur vorübergehend unmöglich mit der Folge, dass dem Ausländer bei Vorliegen der übrigen gesetzlichen Voraussetzungen eine Aufenthaltsbefugnis zu erteilen ist.

Entgegen der Auffassung der Revision kommt es auf etwaige Zweifel an der Identität und Staatsangehörigkeit des Ausländers grundsätzlich ebenso wenig an wie auf die Frage einer Mitwirkungspflicht nach § 70 AuslG, § 15 AsylVfG oder sonstigen Vorschriften. Die Ausländerbehörde ist zwar nach § 41 AuslG befugt und verpflichtet, Zweifeln über die Person oder die Staatsangehörigkeit des Ausländers nachzugehen. Diese Vorschrift ermächtigt die Ausländerbehörde aber nicht, die Erteilung der Aufenthaltsbefugnis zu versagen, wenn die Voraussetzungen des § 70 Abs. 1 AsylVfG vorliegen.

Zeichnet sich eine Abschiebung in einen Drittstaat nicht konkret ab, so kommt es auch nicht darauf an, ob die nach § 4 AsylVfG bestehende Bindungswirkung der Anerkennung sich auch auf die Identität und Staatsangehörigkeit des Ausländers erstreckt.

Der Revision kann ferner nicht darin gefolgt werden, dass § 8 Abs. 1 Nr. 4 AuslG hier anzuwenden ist. Nach dieser Vorschrift wird die Aufenthaltsgenehmigung auch bei Vorliegen der Voraussetzungen eines Anspruchs nach dem Ausländergesetz versagt, wenn die Identität oder Staatsangehörigkeit des Ausländers ungeklärt ist und er keine Berechtigung zur Rückkehr in einen anderen Staat besitzt.

Nach der Rechtsprechung des Senats sperrt § 8 Abs. 1 AuslG die Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung nicht für Rechtsansprüche, die auf anderen Rechtsgrundlagen als denen des Ausländergesetzes beruhen (vgl. Urteile vom 3. Juni 1997 - BVerwG 1 C 18.96 - und vom 9. September 1997 - BVerwG 1 C 20.97 - Buchholz 402.24 § 8 AuslG 1990 Nr. 11 und 14). Um einen solchen Rechtsanspruch handelt es sich bei demjenigen auf Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis nach § 70 Abs. 1 AsylVfG, so dass § 8 Abs. 1 Nr. 4 AuslG hier nicht anzuwenden ist (so auch Renner, Ausländerrecht in Deutschland, § 30 Rn. 378).

Sind die Voraussetzungen des § 70 Abs. 1 AsylVfG gegeben, so kann die Ausländerbehörde je nach den Umständen des Einzelfalles die - nach § 34 Abs. 1 AuslG für längstens zwei Jahre zu erteilende - Aufenthaltsbefugnis auch für einen nur kurzen Zeitraum erteilen, wenn mit einem Wegfall der für ihre Erteilung maßgeblichen Gründe zu rechnen ist. Sie kann weiter die Aufenthaltsbefugnis nach § 12 Abs. 2 Satz 2 AuslG nachträglich zeitlich beschränken, wenn eine für ihre Erteilung wesentliche Voraussetzung entfallen ist. Ferner kann ein Widerruf der Aufenthaltsbefugnis nach § 43 AuslG oder deren Rücknahme (vgl. auch Urteil vom 23. Mai 1995 - BVerwG 1 C 3.94 - BVerwGE 98, 298, 304) in Betracht kommen. Darüber hinaus kann sich die Ausländerbehörde bei fortbestehenden Zweifeln an der Identität und Staatsangehörigkeit mit der Anregung an das Bundesamt wenden, die Feststellung nach § 51 Abs. 1 AuslG gemäß § 73 AsylVfG zu widerrufen oder zurückzunehmen (vgl. zu § 73 AsylVfG Urteil vom 19. September 2000 - BVerwG 9 C 12.00 - BVerwGE 112, 80). Die Ausländerbehörde ist aber nicht ermächtigt, die Aufenthaltsbefugnis abzulehnen und den anerkannten Flüchtling auf eine Duldung zu verweisen.