BVerfG

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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 05.02.2003 - 2 BvR 153/02 - asyl.net: M3410
https://www.asyl.net/rsdb/M3410
Leitsatz:

Gehörsverstoß bei extrem kurzer richterlichen Frist.(Leitsatz der Redaktion)

 

Schlagwörter: D (A), Asylverfahren, Rechtliches Gehör, Fristen, Stellungnahmefrist, Vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Fristverlängerung, Ablehnung, Prozessbevollmächtigte, Arbeitsbelastung, Büroorganisation, Beschleunigungsgebot, Verlängerungsantrag, Schriftform, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, Abänderungsantrag, Verfassungsbeschwerde, Rechtswegerschöpfung
Normen: AsylVfG § 36 Abs. 3; GG Art. 103
Auszüge:

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) durch ausreichende Bemessung richterlich gesetzter Äußerungsfristen im asylrechtlichen Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes.

Die Verfassungsbeschwerde ist in dem Umfang, in dem sie zur Entscheidung angenommen worden ist auch im Hinblick auf den allgemeinen Grundsatz ihrer Subsidiarität zulässig.

Die Beschwerdeführer haben die gerügte Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG mit einem Abänderungsantrag gemäß § 80 Abs. 7 VwGO beim Verwaltungsgericht geltend gemacht, was unter dem Gesichtspunkt der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde zur Beseitigung des behaupteten Verfassungsverstoßes geboten war (vgl. BVerfGE 70, 180 187 f.>; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Dezember 2001 - 2 BvR 1875/01 -, a.a.O.). Das Abänderungsverfahren blieb aufgrund des Beschlusses des Verwaltungsgerichts vom 16. Januar 2002 erfolglos, der gerügte Gehörsverstoß wurde durch ihn nicht ausgeräumt.

Die angegriffenen Beschlüsse des Verwaltungsgerichts Gießen vom 28. September 2001 und vom 16. Januar 2002 verletzen die Beschwerdeführer in ihrem Anspruch auf rechtliches Gehör.

Der Anspruch aus Art. 103 Abs. 1 GG ist eine Folgerung aus dem Rechtsstaatsgedanken für das Gebiet des gerichtlichen Verfahrens. Der Einzelne soll nicht bloßes Objekt des gerichtlichen Verfahrens sein, sondern er soll vor einer Entscheidung, die seine Rechte betrifft, zu Wort kommen können, um Einfluss auf das Verfahren und sein Ergebnis nehmen zu können (BVerfGE 84, 188 190>). Art. 103 Abs. 1 GG garantiert den Beteiligten an einem gerichtlichen Verfahren daher, dass sie hinreichende Gelegenheit erhalten, sich zu dem einer gerichtlichen Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt vor Erlass der Entscheidung zu äußern und dadurch die Willensbildung des Gerichts zu beeinflussen (BVerfGE 22, 114, 119>; 49, 212 215>; 94, 166 207>). Für das Gericht erwächst aus Art. 103 Abs. 1 GG die Pflicht, vor Erlass einer Entscheidung zu prüfen, ob den Verfahrensbeteiligten das rechtliche Gehör gewährt wurde (BVerfGE 36, 85 88>). Der Anspruch auf rechtliches Gehör wird insbesondere dann verletzt, wenn die vor Erlass einer Entscheidung vom Gericht gesetzte Frist zur Äußerung objektiv nicht ausreicht (vgl. BVerfGE 49, 212 216>; 65, 227 234 f.>; Jarass/Pieroth, GG, 6. Auflage, Art. 103 Rn. 37), um innerhalb der Frist eine sachlich fundierte Äußerung zum entscheidungserheblichen Sachverhalt und zur Rechtslage zu erbringen. Richterlich gesetzte Fristen müssen so bemessen sein, dass das rechtliche Gehör nicht in unzumutbarer Weise erschwert wird (vgl. BVerfGE 64, 203 206>).

Ob die Dauer einer richterlich gesetzten Frist objektiv ausreichend ist, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. So ist bei eilbedürftigen Verfahren oder einfach gelagerten Sachverhalten eine kürzere Frist ausreichend. Bei erkennbar weniger eilbedürftigen Sachen oder schwierigen Sachverhalten bedarf es in der Regel einer längeren Frist (vgl. BGH, Dienstgericht des Bundes, Urteil vom 27. Januar 1995 - RiZ <R> 6/94 -, veröffentlicht in JURIS). Im Gegensatz zu gesetzlichen Fristbestimmungen, die typisieren dürfen, müssen richterliche Fristen den genannten Maßstäben in stärkerem Maße individualisierend gerecht werden (vgl. Schmidt-Assmann, in: Maunz-Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 103 Rn. 124).

Zwar ist in dem Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nach §§ 71 Abs. 4, 36 Abs. 3 und 4 AsylVfG i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO (zur Anwendbarkeit dieser Regelungen beim vorläufigen Rechtsschutz im Asylfolgeverfahren vgl. Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 16. März 1999 - 2 BvR 2131/95 -, DVBl 1999, S. 1204; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 7. März.2002 - 2 BvR 191/02 -, DVBl 2002, S. 834 f.) eine besondere Beschleunigung angebracht. Wirksamer Rechtsschutz bedeutet vor allem im Eilverfahren Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit. Dass gerichtliche Entscheidungen in dieser asylgerichtlichen Verfahrensart beschleunigt ergehen sollen, hat der Gesetzgeber durch die Entscheidungsfristen nach § 36 Abs. 3 Satz 5 bis 7 AsylVfG zum Ausdruck gebracht. Danach soll die Entscheidung innerhalb einer Woche nach Ablauf der Frist des § 36 Abs. 1 AsylVfG ergehen. Eine Verlängerung der Entscheidungsfrist nach der Sollvorschrift des § 36 Abs. 3 Satz 5 AsylVfG ist gemäß den Regelungen des § 36 Abs. 3 Satz 6 und 7 AsylVfG möglich.

Es spricht viel dafür, dass eine derart knappe Bemessung der Frist zur Äußerung, wie sie durch die gerichtliche Verfügung vom 26. September 2001 erfolgt ist, auch unter Berücksichtigung des gesetzlichen Beschleunigungsanliegens nach den Umständen des Einzelfalls nicht geboten war. Zwar verfügte der Bevollmächtigte schon mehrere Tage vor der Fristsetzung über eine Kopie der Akten, doch hatten unter Berücksichtigung des Umstandes, dass dem Bevollmächtigten der Beschwerdeführer die richterliche Fristsetzung per Telefax am. 26. September 2001 um 15.05 Uhr übersandt wurde, die Beschwerdeführer bis zum Ablauf der Frist am 27. September 2001, 24.00 Uhr, weniger als 33 Stunden Zeit, sich zu äußern.

Generell muss das Verwaltungsgericht bei der Handhabung der richterlichen Fristsetzung berücksichtigen, dass auch bei einem gewissenhaften und seine Rechte und Pflichten sachgemäß wahrnehmenden Verfahrensbevollmächtigten häufig eine gewisse Zeit vergeht, bis dieser von der Fristsetzung tatsächlich Kenntnis erlangt. Hinzu kommt, dass aufgrund der typischerweise bestehenden Arbeitsbelastung eines Bevollmächtigten durch andere Verfahren, Beratungen und sonstige berufliche Tätigkeiten nicht davon ausgegangen werden kann, dass die Zeit bis zum Ablauf der Frist allein zur Bearbeitung und Klärung der Tatsachen- und Rechtsfragen des konkreten Verfahrens aufgewandt werden kann.

Auch bei einer zweckgemäßen Büroorganisation bedarf darüber hinaus auch die technische Umsetzung und Übermittlung einer schriftlichen Äußerung einer gewissen Zeit. Zudem ist eine schnelle (telefonische) Erreichbarkeit des Asylantragstellers, der im Asylverfahren zentrales Verfahrenssubjekt ist und dessen Angaben in aller Regel ausschlaggebende Bedeutung für den Ausgang des Verfahrens zukommt, für Besprechungen und Rückfragen aufgrund seiner Unterbringung in Aufnahmeeinrichtungen oder Gemeinschaftsunterkünften regelmäßig nicht

ohne weiteres gegeben.

Ob in der Einräumung einer Frist von nur 33 Stunden vorliegend bereits eine Rechtsverletzung liegt, kann jedoch im Ergebnis offen bleiben. Denn jedenfalls hätte der Einzelrichter nicht über den in der Akte dokumentierten und ihm bei der Entscheidung bekannten Antrag des Prozessbevollmächtigten auf Verlängerung der Frist für die Begründung des Antrags hinweggehen dürfen. Damit hat das Gericht das Recht der Beschwerdeführer auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt (vgl. BVerfGE 18, 399 406>). Zwar lag zu dem Zeitpunkt, als der unterschriebene Beschluss zur Post gegeben wurde, infolge eines Büroversehens der Antrag auf Verlängerung der Begründungsfrist noch nicht schriftlich vor. Die Schriftform ist nach einer verbreiteten Ansicht Voraussetzung für die Wirksamkeit eines Antrags auf Verlängerung einer richterlichen Frist (vgl. Zöller, ZPO, 22. Auflage, § 225 Rn. 1; Feiber, in Lüke/Wax, Münchener Kommentar zur ZPO, 2. Auflage, § 225 Rn. 2; BGHZ 93, 300 zur Berufungsbegründungsfrist; a. A. Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 59. Auflage, § 225 Rn. 3; Thomas/Putzo, ZPO, 23. Auflage, § 224 Rn. 4). Dies mag im Regelfall so gelten; hier lagen jedoch wegen der extremen Kürze der gesetzten Frist besondere Umstände vor. Wenn ein Gericht eine derart kurze Frist zur Begründung eines Antrags setzt, darf es in Bezug auf einen eventuellen Verlängerungsantrag keine strengen Formerfordernisse stellen. Ein telefonischer Antrag kann ausreichen, wenn er eindeutig in der Gerichtsakte dokumentiert und dem Richter bei seiner Entscheidung nachweislich bekannt ist.

Unabhängig davon, ob eine Pflicht zur Verlängerung einer richterlichen Frist besteht, wird der Grundsatz des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt, wenn das Gericht, bei dem ein Antrag auf Verlängerung einer Frist zur Stellungnahme gestellt ist, zur Hauptsache entscheidet, ohne zuvor den Antrag auf Fristverlängerung beschieden zu haben (vgl. BVerwG, Urteil vom 3. November 1987 - 9 C 235/86 - NJW 1988, S. 1280 f. und Beschluss vom 2. Juli 1998 - 9 B 535/98 -, NVwZ-RR 1998, S. 783 f.). Dieses Erfordernis soll dem Antragsteller gegebenenfalls eine Reaktion auf die Ablehnung des Antrags - z. B. durch wenigstens kurze Stellungnahme - ermöglichen (vgl. BVerwG, ebenda).

Selbst wenn man aber davon ausginge, dass ein Antrag auf Verlängerung einer richterlichen Frist in jedem Fall der Schriftform bedarf, so wäre doch den Beschwerdeführern hinsichtlich der Versäumung der Frist für die Begründung des Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren gewesen. Die Begründung des Beschlusses vom 26. Oktober 2001, durch den der Wiedereinsetzungsantrag abgelehnt wurde und auf die der Beschluss vom 16. Januar 2002 Bezug nimmt, hält einer verfassungsrechtlichen Überprüfung nicht stand.

Der Wiedereinsetzungsantrag war nicht - wie das Verwaltungsgericht anscheinend meint - deshalb unzulässig, weil die Entscheidung im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO schon rechtskräftig war. Denn das Verfahren nach § 80 Abs. 7 VwGO bietet die Möglichkeit einer nachträglichen Korrektur, wenn ein im ursprünglichen Verfahren unberücksichtigt gebliebener Umstand ohne Verschulden des Asylbewerbers nicht vorgetragen wurde.

Zudem verkennt die Auffassung, wonach § 36 AsylVfG keine in der Sphäre der Asylantragsteller bzw. ihrer Prozessbevollmächtigten liegenden Gründe für eine Verlängerung der Wochenfrist kenne, die oben erläuterten Anforderungen des Art. 103 Abs. 1 GG. Die Gründe, die der Prozessbevollmächtigte der Beschwerdeführer dafür angeführt hat, dass es ihm nicht möglich war, die am 26. September. 2001 gesetzte Frist zu erfüllen, hat das Verwaltungsgericht nicht ausreichend gewürdigt. Es überspannt die Anforderungen an die Gewährung einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in einer Weise, die mit verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht zu vereinbaren ist.

Auch das Ansinnen, bei Verhinderung des sachbearbeitenden Anwalts in einer prozessbevollmächtigten Rechtsanwaltssozietät möge sich ein anderes Mitglied der Sozietät innerhalb kürzester Zeit in den Fall einarbeiten und den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz begründen, ist mit den Anforderungen an die Gewährung rechtlichen Gehörs nicht vereinbar (vgl. BVerwG, Urteil vom 9. Dezember 1983 - 4 C 44/83 -, NJW 1984, S. 882).