VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Urteil vom 29.10.2002 - 24 B 00.3274 - asyl.net: M3356
https://www.asyl.net/rsdb/M3356
Leitsatz:

Zu Ausweisung gemäß § 47 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 AuslG wegen Verurteilung von unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht-geringer Menge in Tatmehrheit mit einem Vergehen der Bedrohung.

(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: D (A), Türken, Ausweisung, Straftäter, Drogendelikte, Freiheitsstrafe, Ist-Ausweisung, Regelausweisung, Besonderer Ausweisungsschutz, Atypischer Ausnahmefall, Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei, Stillhalteklausel, Arbeitnehmerfreizügigkeit, Arbeitsmarkt, Arbeitslosigkeit, Niederlassungsfreiheit, Dienstleistungsfreiheit
Normen: AuslG § 47 Abs. 1 Nr. 1; AuslG § 47 Abs. 1 Nr. 2; AuslG § 48 Abs. 1 Nr. 1
Auszüge:

Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen, da der Bescheid der Beklagten vom 4. Oktober 1999 rechtmäßig ist.

Da der Kläger mit Urteil des (...) vom (...) wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tatmehrheit mit einem Vergehen der Bedrohung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von(...) verurteilt worden ist, erfüllt er die Ausweisungstatbestände nach § 47 Abs. 1 Nr. 1 und.Nr. 2 AuslG und damit zweifach den Tatbestand einer sog. Ist-Ausweisung, die der Gesetzgeber für Fälle besonderer Gefährlichkeit vorgesehen hat.

Der Kläger genießt besonderen Ausweisungsschutz nach § 48 Abs. 1 Nr. 1 AuslG, da er eine Aufenthaltsberechtigung besaß. Der besondere Ausweisungsschutz wirkt sich gemäß § 47 Abs. 3 Satz 1 AuslG dahin aus, dass die Ist-Ausweisung nach § 47 Abs. 1 Nr. 2 AuslG zur sog. Regelausweisung herabgestuft wird, d.h. der Ausländer wird in diesen Fällen in der Regel ausgewiesen. Ein Ausländer, der nach § 48 Abs. 1 Satz 1 AuslG erhöhten Ausweisungsschutz genießt, kann nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen werden. Schwerwiegende Gründe im Sinne von § 48 Abs. 1 Satz 2 AuslG liegen in der Regel in den Fällen des § 47 Abs. 1 AuslG vor.

Der Gesetzgeber geht für den typischen Fall davon aus, dass die Ausweisung geboten und verhältnismäßig ist, um schwerwiegenden Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung entgegenzuwirken (BVerwG vom 26.2.2002 DÖV 2002, 825). Das Verwaltungsgericht hat zutreffend dargelegt, dass im Falle des Klägers kein Ausnahmefall vorliegt, der ein Absehen von der Ausweisung rechtfertigen kann. Es hat die vom Kläger begangenen Straftaten und - entgegen dem Vorbringen des Klägers - seine persönlichen Verhältnisse ausreichend gewürdigt und zu Recht keinen atypischen Ausnahmefall gesehen.

Ergänzend und zum Berufungsvorbringen ist noch Folgendes zu bemerken:

Der Kläger kann sich nicht darauf berufen, dass wegen der Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 seine Ausweisung nur nach § 45 AuslG 1992 und §§ 10, 11 AuslG 1965 als Ermessensausweisung zulässig gewesen wäre. Nach dieser Bestimmung dürfen die Mitgliedsstaaten der Gemeinschaft für Arbeitnehmer und ihre Angehörigen, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß sind, keine neuen Beschränkungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen. Seinem Wortlaut nach knüpft Art. 13 ARB 1/80 an die ordnungsgemäße unselbständige Erwerbstätigkeit an.

Der Kläger hat die wegen seiner früheren mehrjährigen Arbeitnehmertätigkeiten erworbene Rechtsstellung nach Art. 6 Abs. 1 3. Spiegelstrich ARB, d.h. das Recht auf freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis, und die davon abgeleiteten aufenthaltsrechtlichen Ansprüche (vgl. zu diesem Rechtsstatus EuGH vom 23.1.1997 InfAuslR 1997,146 - Tetik; BVerwGE 101, 247) nach der Beendigung seiner Tätigkeit bei der Firma XXX im September 1994 und die sich daran anschließende mehrjährige Arbeitslosigkeit verloren, weil er den Arbeitsmarkt nach fehlgeschlagener Arbeitssuche in Deutschland endgültig verlassen hat.

Die Auffassung des Klägers, wonach ein türkischer Arbeitnehmer ein nach Art. 6 Abs. 1 3. Spiegelstrich ARB 1/80 erworbenes Aufenthaltsrecht auch bei dauernder unfreiwilliger Erwerbslosigkeit nicht verlieren kann, teilt der Senat nicht. Sie widerspricht dem Sinn und Zweck des Assoziationsratsbeschlusses. Das assoziationsrechtliche Aufenthaltsrecht ist lediglich die Folge des Rechts auf Zugang zum Arbeitsmarkt und dient dazu, eine Erwerbstätigkeit mit legalem Aufenthaltsstatus ausüben bzw., bei kurzfristiger Arbeitslosigkeit, in einem angemessenen Zeitraum eine Arbeit suchen zu können. Ein Aufenthaltsrecht, das nicht dem Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt dient, kann aus Art. 6 ARB 1/80 nicht abgeleitet werden. Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 dient nicht einwanderungspolitischen Zwecken.

Für die vom Kläger verlangte Vorlage an den Europäischen Gerichtshof sieht der Senat keine Veranlassung. Der Europäische Gerichtshof hat zwar die Frage, ob ein türkischer Arbeitnehmer, der unfreiwillig arbeitslos geworden ist, ein aus Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 abgeleitetes Aufenthaltsrecht auch dann noch hat, wenn er in angemessener Zeit keine Arbeit gefunden hat, - soweit ersichtlich - noch nicht entschieden, doch lässt sich die Frage aus den folgenden Überlegungen zweifelsfrei verneinen. (wird ausgeführt)

 

Entgegen der Ansicht des Klägers schließt in seinem Fall auch Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls zum Abkommen vom 12. September 1963 zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei für die Übergangsphase der Assoziation vom 19. Mai 1972 (BGBI II 1972, S. 385; im folgenden: Zusatzprotokoll - ZP -) die Anwendbarkeit der §§ 47, 48 AuslG auf ihn nicht aus. In Art. 41 Abs. 1 ZP haben sich die Vertragsparteien verpflichtet, untereinander keine neuen Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs einzuführen. Die Anwendbarkeit des Art. 41 ZP setzt sonach voraus, dass der Kläger sich überhaupt auf die Niederlassungsfreiheit oder Dienstleistungsfreiheit im Sinne dieser Bestimmung berufen kann. Dies ist nicht der Fall. Art. 13 des Assoziationsabkommens vom 12. September 1963 verweist hinsichtlich der Niederlassungsfreiheit auf Art. 52 bis 56 und 58 EG-Vertrag. Die Niederlassungsfreiheit betrifft die Freizügigkeit von Angehörigen selbstständiger Berufe.

Nach den Angaben des Bevollmächtigten des Klägers in der mündlichen Verhandlung am 21. Oktober 2002 war er zu keiner Zeit im Bundesgebiet selbstständig tätig.

Nichts anderes gilt für die Dienstleistungsfreiheit. In Art. 14 des Assoziationsabkommens vom 12. Februar 1963 wird hinsichtlich des freien Dienstleistungsverkehrs auf Art. 55, 56 und Art. 58 bis 65 des EG-Vertrags verwiesen. Der freie Dienstleistungsverkehr betrifft das Erbringen gewerblicher, kaufmännischer, handwerklicher und freiberuflicher Tätigkeiten in einem anderen Mitgliedsstaat, ohne dass diese selbstständige Erwerbstätigkeit mit einer Niederlassung verbunden ist (zur Abgrenzung Niederlassungsfreiheit und Dienstleistungsfreiheit vgl. Troberg, a.a.O., Art. 52 RdNr. 3 ff.). Somit ist auch für die Dienstleistungsfreiheit die selbstständige Erwerbstätigkeit typisch, die, wie dargelegt, beim Kläger nicht vorliegt.

Darauf, ob die §§ 47, 48 AuslG gegen das Stillhaltegebot des Art. 41 ZP (verneinend: BVerwG vom 26.2.2002 a.a.O.) oder des Art. 13 ARB 1/80 verstoßen, kommt es nach alledem nicht entscheidungserheblich an. Der Senat folgt im Übrigen der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, wonach es sich bei den Regelungen in den §§ 47, 48 AuslG nicht um "Beschränkungen" im Sinne des Art. 41 ZP und des Art. 13 ARB 1/80 handelt, weil in diesen Bestimmungen lediglich die frühere Rechtslage und Verwaltungspraxis nach dem Ausländergesetz 1965 typisierend festgeschrieben worden ist (BVerwG vom 26.2.2002 a.a.O.; BayVGH vom 27.5.2002 - 24 B 01.2613 und vom 26.6.2002 - 24 B 00.3491).

Der Ausweisung des Klägers steht auch Art. 3 Abs. 3 des Europäischen Niederlassungsabkommens vom 13. Dezember 1955 (BGBI 11 1955 S. 997) - ENA - nicht entgegen.

Der Kläger erfüllt zwar den zehnjährigen ordnungsgemäßen Aufenthalt im Bundesgebiet, jedoch hat er durch die von ihm begangenen Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz einen besonders schwerwiegenden Ausweisungsgrund erfüllt. Zwischen einem besonders schwerwiegenden Ausweisungsgrund im Sinne von Art. 48 Abs. 1 AuslG und einem besonders schwerwiegenden Ausweisungsgrund im Sinne von Art. 3 Abs. 3 ENA besteht kein qualitativer Unterschied (BVerwGE 101 , 247).