VG Augsburg

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Zitieren als:
VG Augsburg, Beschluss vom 24.09.2002 - Au 3 S 02.30782 - asyl.net: M3179
https://www.asyl.net/rsdb/M3179
Leitsatz:

Keine Gruppenverfolgung aller kaukasisch aussehender Personen; grundsätzlich keine Gefährdung gem. § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG für Tschetschenen durch Schwierigkeiten beim Aufbau einer Existenzgrundlage, soweit sie über die notwendige physische und psychische Stabilität verfügen, sich für ihre Rechte einzusetzen; grundsätzlich keine Gefährdung gem. § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG wegen Betäubungsmittelabhängigkeit.(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Russland, Awaren, Moslems, Kaukasier, Folgeantrag, Wehrdienst, Einberufung, Gruppenverfolgung, Übergriffe, Willkür, Verfolgungsprogramm, Verfolgungsdichte, Situation bei Rückkehr, Abschiebungshindernis, Verfolgungssicherheit, Existenzminimum, Zuzugsbeschränkungen, Freizügigkeit, Krankheit, Drogenabhängigkeit, Medizinische Versorgung, Finanzierbarkeit, Extreme Gefahrenlage, Vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren)
Normen: AuslG § 51 Abs. 1; AuslG § 53 Abs. 6 S. 1; VwVfG § 51 ; VwGO § 80 Abs. 5; AuslG § 50 Abs. 5 S. 1; AsylVfG § 71 Abs. 1
Auszüge:

Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist statthaft. Denn die Antragsgegnerin hat zur ursprünglichen Abschiebungsandrohung, von der nach § 71 Abs. 5 S. 1 AsylVfG im vorliegenden Fall noch Gebrauch gemacht werden könnte, eine zusätzliche Abschiebungsandrohung nach § 50 Abs. 5 S. 1, Abs. 1 AuslG erlassen, da der Antragsteller sich in U-Haft befindet und nach der Konzeption der Antragsgegnerin aus der Haft heraus abgeschoben werden soll.

Der Antrag ist jedoch unbegründet.

Denn die Klage gegen den Bescheid vom 22. August 2002 wird voraussichtlich keinen Erfolg haben.

Bedenken formaler Art (siehe § 51 Abs. 2 und 3 VwVfG) gegen den Folgeantrag sind nicht ersichtlich. Er rechtfertigt jedoch inhaltlich kein Wiederaufgreifen/kein erneutes Verfahren nach § 51 Abs. 1 VwVfG.

Wie schon im Urteil vom 29. September 2000 (Au 3 K 00.30025) ausgeführt, liegen die Voraussetzungen des Art. 16 a Abs. 1 GG wie auch des § 51 Abs. 1 AuslG deshalb nicht vor, da dem Antragsteller bei einer Rückkehr in die Russische Föderation keine Verfolgung durch den russischen Staat droht. Dass ihm aus individuellen Gründen dort eine Verfolgung drohen könnte, ist weder vorgetragen noch ersichtlich. Soweit dem (...)-jährigen Antragsteller eine Einberufung in die russische Armee drohen könnte, erscheint es nicht unzumutbar, zu erwarten, dass er sich wie ein Großteil der russischen Wehrdienstpflichtigen verhält, sich also gewissermaßen an den in seinem Heimatland gegeben Verhältnissen und üblichen Gepflogenheiten ausrichtet. Es ist daher zumutbar, dass der Antragsteller nach Mitteln und Wegen sucht, seine Einberufung - etwa durch Freikauf oder Krankschreibung - zu verhindern, und wenn das nicht gelingen sollte, einer Einberufung keine Folge zu leisten (BayVGH vom 29.6.2001, 11 B 97.34642).

Auch die Voraussetzungen für die Annahme einer Gruppenverfolgung aller kaukasisch aussehenden Personen - denen der Antragsteller zugerechnet werden will - in Russland sind nicht gegeben. Den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismaterialien ist weder ein entsprechendes Verfolgungsprogramm zu entnehmen, noch so häufige und intensive Übergriffe staatlicher Stellen, dass von einer Gruppenverfolgung gesprochen werden kann. Den Stellungnahmen von amnesty international (ai) vom 8. Oktober 2001 zum Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 24. April 2001 und der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) vom 20. Dezember 2000 an das VG Schleswig sind zwar Übergriffe und eine abweisende Haltung der staatlichen Sicherheitsbehörden gegenüber Personen kaukasischen Aussehens zu entnehmen. Entsprechendes ist im Gutachten der Gesellschaft für bedrohte Völker vom Juli 2001 zur Situation tschetschenischer Flüchtlinge in der Russischen Föderation enthalten (in der Erkenntnismittelliste irrtümlich unter IGFM genannt). Andererseits teilt das Auswärtige Amt in seinem Lagebericht vom 28. August 2001 (IV 2) mit, dass den aus Deutschland abgeschobenen Personen nach der Rückkehr in der Regel keine besondere Aufmerksamkeit gewidmet werde. Es häuften sich allerdings Berichte russischer Menschenrechtler über administrative Schikanen gegen tschetschenische Binnenflüchtlinge in einigen Gebieten der Russischen Föderation. Darüber hinaus sei es angesichts der Vorfälle in Tschetschenien jedoch nicht auszuschließen, dass in Einzelfällen ein erhöhtes Risiko einer besonderen Gefährdung jedenfalls für solche abzuschiebenden Personen bestehe, die sich bisher in der Tschetschenien-Frage besonders engagiert hätten. Die Voraussetzungen für die Annahme einer Gruppenverfolgung aller südländisch/kaukasisch aussehenden Personen in der Russischen Föderation kann aus diesen Stellungnahmen nicht abgeleitet werden.

Etwas anderes folgt auch nicht aus dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 7. Mai 2002. Ebenso ist infolge des Anschlags in Kaspijsk/Dagestan vom 9. Mai 2002 keine erhebliche Verschlechterung der Lage dieser Personengruppe in der Russischen Föderation ersichtlich.

Auch die Voraussetzungen für eine gegenüber der Erstentscheidung abweichende, dem Antragsteller günstige Entscheidung hinsichtlich der Voraussetzungen des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG sind nicht ersichtlich.

Das Gericht ist der Auffassung, dass die Lebens- und Aufenthaltsbedingungen von Tschetschenen und allen kaukasisch/südländisch aussehenden Angehörigen der Russischen Föderation in Russland schwierig sind. Übergriffe von Sicherheitsbehörden und die Schwierigkeit, in der Russischen Föderation die Existenz zu sichern, sind den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismaterialien zu entnehmen. In der Stellungnahme von ai vom 8. Oktober 2001 ist aufgeführt, dass nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden könne, dass tschetschenische Volkszugehörige außer in Tschetschenien auch in anderen Teilen der Russischen Föderation Opfer von polizeilicher Willkür, Folter und Misshandlung sowie Erpressung würden. Dieses erhöhte Risiko einer besonderen Gefährdung gelte auch für Personen kaukasischer Abstammung, die sich nicht kämpferisch oder politisch in der Tschetschenien-Frage engagiert hätten oder engagieren. Entsprechend kritisch äußert sich auch die IGFM in ihrer Stellungnahme vom 20. Dezember 2000 an das VG Schleswig und die Gesellschaft für bedrohte Völker in der Stellungnahme zur Situation tschetschenischer Flüchtlinge in der Russischen Föderation vom Juli 2001. In diese Richtung weisen auch die Ausführungen im Lagebericht vom 28. August 2001 (IV 2), dass sich Berichte russischer MenschenrechtIer über administrative Schikanen (keine Registrierung, keine Ausstellung offizieller Papiere und Bescheinigungen, kein Zugang zu Schulen und medizinischer Versorgung) gegen tschetschenische Binnenflüchtlinge in einigen Gebieten der Russischen Föderation häuften. Andererseits hat der Antragsteller als Staatsbürger der Russischen Föderation nach der Rechtslage grundsätzlich die Möglichkeit, sich in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens legal aufzuhalten, da die russische Verfassung die freie Wohnsitzwahl garantiert (Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 16.11.2001 an VG Augsburg). Tatsächlich lässt sich den vorliegenden Erkenntnismaterialien jedoch entnehmen, dass die russischen Behörden diese Rechtsansprüche gerade von Tschetschenen nicht garantieren.

Man wird grundsätzlich russischen Staatsangehörigen bei einer Rückkehr nach Russland zumuten können, sich aktiv für ihre Rechte einzusetzen und rechtswidrige Beschränkungen zu verhindern. Dass das angesichts der unzureichend durchgesetzten rechtsstaatlichen Grundsätze mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden ist, bedarf keiner näheren Darlegung. Einen derartigen Einsatz kann man deshalb nur von Personen erwarten, die über die notwendige physische und psychische Stabilität verfügen, um sich für ihre Rechte einzusetzen. Beim Antragsteller handelt es sich um einen (...)-jährigen jungen Mann, von dem erwartet werden kann, dass er sich für all seine Rechte einsetzt und sich gegenüber rechtswidrigen Beeinträchtigungen zur Wehr setzt. Zwar ist er drogensüchtig und sitzt derzeit in Untersuchungshaft wegen verschiedenster Delikte der Beschaffungskriminalität ein. Dennoch kann ein entsprechender Einsatz, auch hinsichtlich seiner Existenzsicherung, erwartet werden. Jedenfalls ist nicht ersichtlich, dass ihm bei einer Rückkehr nach Russland eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit droht.

Dies gilt auch für seine Drogensucht. Denn es ist im Rahmen des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG erforderlich, dass eine erhebliche Gefahr vorliegt. Dies wäre dann der Fall, wenn sich der Gesundheitszustand des Antragstellers wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtern würde, wenn er nach Russland zurückkehrte.

Diese wäre konkret, wenn der Antragsteller alsbald nach Rückkehr in diese Lage geriete, weil er auf die dortigen Möglichkeiten der Behandlung angewiesen wäre, diese unzureichend wären und auch anderswo wirksame Hilfe nicht in Anspruch nehmen könnte (BVerwG vom 25.11.1997, BVerwGE 105, 3831387). Eine solche erhebliche konkrete Gefahr liegt nicht vor. Sollte der Antragsteller nach Russland zurückkehren und dort weder eine Drogentherapie erhalten noch den Drogenkonsum fortsetzen, so wäre die Zeit des "kalten Entzugs" von begrenzter Dauer.

Die Voraussetzungen der Norm sind aber auch dann nicht gegeben, wenn man annimmt der Antragsteller werde in Russland den Drogenkonsum fortsetzen. Für das Vorliegen der Voraussetzungen der § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG ist es nicht ausreichend, dass der Antragsteller bei nicht optimaler Behandlung irgendwann einmal in Zukunft mit einer erheblichen Verschlechterung seines Gesundheitszustands rechnen muss. Vielmehr ist eine gewisse Unmittelbarkeit der Gefahr zu verlangen. Auch eine für den Antragsteller in Russland möglicherweise nur schwer zu erhaltende Drogentherapie begründet im Übrigen nicht die Voraussetzungen des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG. Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 28. August 2001 ist die medizinische Grundversorgung in Russland theoretisch grundsätzlich ausreichend. AIlerdings ist die medizinische Hilfe heute in Russland oftmals eine Kostenfrage, da die Zeiten der kostenlosen sowjetischen Gesundheitsfürsorge vorbei sei, eine beitragsfinanzierte medizinische Versorgung sei erst in Planung begriffen. Theoretisch aber hat hier der russische Bürger das Anrecht auf eine kostenfreie medizinische Grundversorgung, doch in der Praxis werden zumindest aufwendigere Behandlungen erst nach privater Bezahlung durchgeführt. Es reicht aus, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat grundsätzlich bzw. theoretisch gewährleistet ist; ob eine vorhandene medizinische Grundversorgung für ärmere Bevölkerungsschichten nur schwer oder unzureichend zu erlangen ist, ist für Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG nicht ausschlaggebend (BayVGH vom 27.10.2000, 7 ZB OO.31451).