VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Beschluss vom 09.10.2001 - 10 B 02.104 - asyl.net: M3166
https://www.asyl.net/rsdb/M3166
Leitsatz:

Zur Unzulässigkeit einer nachträglich zeitlich beschränkten Aufenthaltserlaubnis gem. § 12 Abs. 2 Satz 2 AuslG, wenn dem Ausländer aus einem anderen Rechtsgrund ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erwachsen ist - so wie hier aus dem "Europa-Mittelmeer-Abkommen".

(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: D (A), Marokkaner, Deutschverheiratung, Getrenntleben, Aufenthaltserlaubnis, nachträgliche Befristung, Europa-Mittelmeer-Abkommen, Diskriminierungsverbot, Unbefristete Arbeitserlaubnis, Aufenthaltszweck, Familienzusammenführung, Einwanderungspolitik
Normen: AuslG § 12 Abs. 2 S. 2
Auszüge:

Zu Unrecht hat die Beklagte die der Klägerin erteilte Aufenthaltserlaubnis nachträglich zeitlich beschränkt.

Gemäß § 12 Abs. 2 Satz 2 AuslG kann eine befristete Aufenthaltserlaubnis nachträglich zeitlich beschränkt werden, wenn eine für die Erteilung wesentliche Voraussetzung entfallen ist. Das Verwaltungsgericht hat zwar zu Recht angenommen, dass die Voraussetzungen der der Klägerin zum Zwecke der Herstellung und Wahrung der ehelichen Lebensgemeinschaft gemäß § 23 Abs. 1 Nr.1 i.V.m. § 17 Abs. 1 AuslG erteilten Aufenthaltserlaubnis entfallen sind, da die eheliche Lebensgemeinschaft zwischen der Klägerin und ihrem deutschen Ehemann aufgehoben worden ist. Das Verwaltungsgericht ist weiter zu Recht davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen des § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr.2 i.V.m. § 19 Abs. 1 Satz 2 AuslG nicht vorliegen.

§ 12 Abs. 2 Satz 2 AuslG kann allerdings nicht zur Anwendung kommen, wenn dem Ausländer aus einem anderen Rechtsgrund ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erwachsen ist. So liegen die Dinge hier: Der Klägerin steht ein Rechtsanspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis auf der Grundlage des Art. 64 Abs. 1 des "Europa-Mittelmeer-Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und dem König- reich Marokko andererseits" (Europa-Mittelmeer-Abkommen) zu .

Art. 64 Abs. 1 des Europa-Mittelmeer-Abkommens analog Art. 40 Abs. 1 des Kooperationsabkommens enthält ein Diskriminierungsverbot marokkanischer Staatsangehöriger. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH findet eine Bestimmung in einem von der Gemeinschaft mit Drittländern geschlossenen Abkommen dann unmittelbar Anwendung, wenn sie unter Berücksichtigung ihres Wortlauts und nach Gegenstand und Art des Abkommens eine klare und eindeutige Verpflichtung enthält, deren Erfüllung und deren Wirkungen nicht vom Erlass eines weiteren Aktes abhängen (Urteil v. 2.3.1999, a.a.O., RdNr. 25 m.w.N.). Wie der EuGH des weiteren ausführt, sind diese Kriterien beim Kooperationsabkommen erfüllt (Urteil v. 2.3.1999, a.a.O., RdNrn. 26 bis 31), mit der Folge, dass insbesondere Art. 40 des Kooperationsabkommens unmittelbare Wirkung der Art entfaltet, dass sich der betroffene "Rechtsbürger" vor nationalen Gerichten hierauf berufen kann (Urteil v. 2.3.1999, a.a.O., RdNr. 32). In analoger Anwendung gelten diese Ausführungen somit auch für Art. 64 des Europa-Mittelmeer-Abkommens (vgl. Urteil des Senats v. 23.5.2002 Az. 10 B 02.178).

Die Klägerin, die zu dem begünstigten Personenkreis dieses Abkommens gehört, kann sich unmittelbar auf die vorgenannte Regelung berufen. Im Leitsatz Nr. 1 zum Urteil vom 2. März 1999 (a.a.O.) stellt der EuGH auf diejenigen marokkanischen Staatsangehörigen ab, denen zum einen die Einreise und zum anderen die Aufnahme einer Beschäftigung erlaubt worden ist. Beides ist bei der Klägerin der Fall.

Zwar wurde die Aufenthaltserlaubnis in Form des Visums nicht zur Arbeitsaufnahme, sondern zur Herstellung und Wahrung der ehelichen Lebensgemeinschaft erteilt; dies bedeutet jedoch nicht zwingend, dass marokkanische Staatsangehörige, die zu einem anderen Aufenthaltszweck als dem zur Arbeitsaufnahme in das Bundesgebiet eingereist sind, von den Vergünstigungen des Abkommens ausgenommen werden. Dies wird in der Entscheidung des EuGH vom 2. März 1999 (a.a.O.) deutlich.

Die in diesem Zusammenhang vom Verwaltungsgericht und vom Beklagten vertretene Auffassung, die der Klägerin erteilte Arbeitserlaubnis sei vom Sinn und Zweck her ausschließlich akzessorischer Natur und Nebenfolge des der Klägerin eingeräumten Aufenthaltsrechtes als damaliger Ehefrau eines deutschen Staatsangehörigen, so dass der vorliegende Fall mit der vom EuGH entschiedenen Fallkonstellation nicht vergleichbar sei, wird vom Senat nicht geteilt.

Die vom Arbeitsamt München am 11. September 2000 erteilte unbefristete Arbeitsgenehmigung nach § 284 Sozialgesetzbuch (SGB) 3. Buch (SGB 111), aus der die Klägerin einen Vertrauensschutz bezüglich der einmal den nationalgesetzlichen Bestimmungen entsprechend erlangten Position auf dem deutschen Arbeitsmarkt genießt, wurde zwar nach Auflösung der ehelichen Lebensgemeinschaft (30.6.2000) erteilt. Der vom Beklagten in diesem Zusammenhang vorgebrachte Einwand, die Erteilung der unbefristeten Arbeitsgenehmigung sei lediglich zur Vermeidung von Verwaltungsaufwand erfolgt, mag als Motiv für die gegenüber dem Arbeitsförderungsgesetz weitergehende Regelung des § 2 Abs. 1 AEVO zutreffend sein, ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass die Klägerin im Besitz einer unbefristeten Arbeitsgenehmigung ist und hierauf vertrauen darf. Auch der Einwand des Beklagten, dass, falls die Arbeitsverwaltung von der nachträglichen zeitlichen Beschränkung der Aufenthaltserlaubnis auf den 1. Oktober 2000 Kenntnis gehabt und in Ansehung dessen die Arbeitsgenehmigung nicht mehr bzw. nur bis zum 1. Oktober 2000 erteilt hätte, vermag nichts daran zu ändern, dass die Klägerin sich bis heute im Besitz der Arbeitsgenehmigung befindet. Die unbefristete Arbeitsgenehmigung ist nämlich auch nicht erloschen. Sie war weder mit einer auflösenden Bedingung versehen - ob eine solche überhaupt zulässig ist (vgl. hierzu die Anmerkung von Rittstieg zum Urteil d. EuGH v. 2.3.1999, InfAuslR 1999, 221), braucht an dieser Stelle nicht entschieden zu werden -, noch ist sie

deshalb erloschen, weil die der Klägerin erteilte Aufenthaltserlaubnis nachträglich zeitlich beschränkt worden ist. Für einen solchen Automatismus gibt es keine Rechtsgrundlage.

Es liegen auch keine Gründe des Schutzes eines berechtigten Interesses des Staates, namentlich Gründe der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit i.S. von RdNrn. 65 und 67 des o.g. Urteils des EuGH vom 2. März 1999 vor, die es rechtfertigen könnten, vor Ablauf der Arbeitserlaubnis die erteilte Aufenthaltserlaubnis nachträglich zeitlich zu beschränken. Der EuGH stellt mit seiner Formulierung "Gründe der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit" auf die Einschränkungsmöglichkeit der Freizügigkeit von Arbeitnehmern entsprechend Art. 48 Abs. 3 EWG Vertrag ab. Maßgeblich ist insoweit die Rechtsprechung zu Art. 48 Abs. 3 EWG Vertrag bzw. zur Richtlinie Nr. 64/221/EWG, die diesen unbestimmten Rechtsbegriff näher konkretisiert. Der EuGH hat in ständiger Rechtsprechung dargelegt, dass der Vorbehalt der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit als eine Ausnahmebestimmung restriktiv auszulegen ist und beim Verstoß gegen die öffentliche Ordnung eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegen muss, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (z.B. EuGH v. 27.11.1977 NJW 1978,479). Da nach Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie Nr. 64/221/EWG bei Maßnahmen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit ausschließlich auf das persönliche Verhalten der in Betracht kommenden Einzelperson abzustellen ist, kann allein mit einwanderungspolitischen Zielen des nationalen Ausländergesetzes die Versagung der Aufenthaltserlaubnis bzw. die nachträgliche zeitliche Beschränkung einer erteilten Aufenthaltserlaubnis nicht begründet werden (so auch VG Frankfurt a.Main v. 28.6.2001 NVwZ Beil. 2001, 31).