BVerwG

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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 29.10.2002 - 1 C 1.02 - asyl.net: M3149
https://www.asyl.net/rsdb/M3149
Leitsatz:

Eine krankheitsbedingte zielstaatsbezogene Gefahr im Sinne des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG kann sich im Einzelfall auch daraus ergeben, dass der erkrankte Ausländer eine an sich im Zielstaat verfügbare medizinische Behandlung tatsächlich nicht erlangen kann (hier: wegen fehlender Einsichtsfähigkeit in die Notwendigkeit der Behandlung und fehlender Betreuung durch Bezugspersonen oder Betreuungseinrichtungen bei hebephrener Psychose).(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Sri Lanka, Tamilen, Psychische Erkrankung, Hebephrene Psychose, Situation bei Rückkehr, Abschiebungshindernis, Zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse, Auslegung, Medizinische Versorgung, Betreuung, Soziale Bindungen
Normen: AuslG § 53 Abs. 6 S. 1
Auszüge:

Ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis kann sich darüber hinaus trotz an sich verfügbarer medikamentöser und ärztlicher Behandlung aber auch aus sonstigen Umständen im Zielstaat ergeben, die dazu führen, dass der betroffene Ausländer diese medizinische Versorgung tatsächlich nicht erlangen kann. Denn eine zielstaatsbezogene Gefahr für Leib und Leben besteht auch dann, wenn die notwendige Behandlung oder Medikation zwar allgemein zur Verfügung steht, dem betroffenen Ausländer individuell jedoch aus finanziellen oder sonstigen Gründen nicht zugänglich ist (vgl. auch Beschluss vom 29. April 2002 - BVerwG 1 B 59.02 - zur Veröffentlichung im Buchholz unter 402.240 § 53 AuslG vorgesehen). Nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts fehlt dem Kläger die Einsicht in die Behandlungsbedürftigkeit seiner Erkrankung, weshalb die erforderliche Medikamenteneinnahme durch eine Bezugsperson überwacht werden müsse. Ausgehend davon hätte geprüft werden müssen, ob für den Kläger in Sri Lanka unter diesen Umständen die erforderliche medizinische Behandlung tatsächlich erlangbar ist.

Das Berufungsgericht hat hierzu - von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig - keine abschließenden tatsächlichen Feststellungen getroffen. Vielmehr hat es die Auffassung vertreten, dass die Erforderlichkeit der Betreuung durch Bezugspersonen im Rahmen des § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG von vornherein keine Rolle spiele, weil sich daraus allenfalls ein inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis ergebe. Diese Auffassung ist so mit der vom Bundesverwaltungsgericht vorgenommenen Abgrenzung zwischen zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernissen und inlandsbezogenen Vollstreckungshindernissen nicht vereinbar. Sie lässt sich auch nicht aus dem vom Berufungsgericht hierfür angeführten Urteil vom 21. September 1999 - BVerwG 9 C 8.99 -Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 211 = NVwZ 2000, 206 (ebenso das entsprechende Urteil vom 15. Oktober 1999 - BVerwG 9C 7.99 - Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 24) herleiten. Dieser Entscheidung ist zu entnehmen, dass in den Fällen, in denen sich die Verschlimmerung der Krankheit durch die Beendigung einer im Bundesgebiet bestehenden lebenswichtigen persönlichen Betreuung ergibt, ein inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis vorliegt.

Die Verschlimmerung der Krankheit ist in diesen Fällen allein eine Folge der Abschiebung - in welchen Staat auch immer - und nicht durch die die spezifischen Verhältnisse im Zielstaat bedingt. Dies bedeutet indes nicht, dass das Erfordernis einer Betreuung als solches generell für die Feststellung eines zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 AuslG unerheblich - weil stets inlandsbezogen - ist. Folgt nämlich die Gefahr der Verschlimmerung der Krankheit nicht aus dem Wegfall der Betreuung durch eine bestimmte Bezugsperson im Bundesgebiet und damit aus der Abschiebung als solcher, sondern ergibt sie sich aus

den Feststellungen des Verwaltungsgerichts zur Überwachung einer notwendigen medikamentösen Behandlung durch eine - austauschbare - Betreuungsperson oder Betreuungseinrichtung im Herkunftsstaat, so gehört dieser Umstand zu den Verhältnissen im Zielstaat, die vom Bundesamt zu prüfen sind. Ist eine ständige Betreuung Voraussetzung für den tatsächlichen Zugang des Ausländers zu der notwendigen medizinischen Behandlung, kann das Fehlen der Betreuung durchaus zu einer zielstaatsbezogenen Gefahr und damit zu einem Abschiebungshindernis im Sinne des § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG führen.