BVerwG

Merkliste
Zitieren als:
BVerwG, Beschluss vom 18.09.2002 - 1 B 103.02 - asyl.net: M3072
https://www.asyl.net/rsdb/M3072
Leitsatz:

Die nicht näher konkretisierte Aufforderung an den Kläger, seine Klage unter Auseinandersetzung mit einer ablehnenden Entscheidung des Gerichts im Eilverfahren (hier: nach § 80 Abs. 5 VwGO, § 36 AsylVfG) ergänzend zu begründen, vermag die Rücknahmefiktion nach § 81 AsylVfG nicht auszulösen.

Schlagwörter: D (A), Verfahrensrecht, Revisionsverfahren, Revisionsgründe, Grundsätzliche Bedeutung, Divergenzrüge, Verfahrensmangel, Betreibensaufforderung, Fiktionswirkung, Klagerücknahme, Rechtliches Gehör, Rechtsschutzbedürfnis, offensichtlich unbegründet, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Ablehnung, Formularschreiben, Revisionsverfahren, Nichtzulassungsbeschwerde, Revisionsgründe, Grundsätzliche Bedeutung
Normen: AsylVfG § 81; VwGO § 132 Abs. 2 Nr. 3
Auszüge:

Die nicht näher konkretisierte Aufforderung an den Kläger, seine Klage unter Auseinandersetzung mit einer ablehnenden Entscheidung des Gerichts im Eilverfahren (hier: nach § 80 Abs. 5 VwGO, § 36 AsylVfG) ergänzend zu begründen, vermag die Rücknahmefiktion nach § 81 AsylVfG nicht auszulösen.

(Amtlicher Leitsatz)

 

Die Beschwerde hat mit einer Verfahrensrüge (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Oberverwaltungsgericht (§ 132 Abs. 2 Nr. 3, § 133 Abs. 6 VwGO).

Allerdings wurde keine das Revisionsverfahren eröffnende grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr.1 VwGO) und keine nach § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO beachtliche Divergenz dargelegt.

Die vom Kläger erhobene Verfahrensrüge ist begründet, weil das Oberverwaltungsgericht unter Verstoß gegen § 81 Satz 1 AsylVfG die Klage als zurückgenommen behandelt und sich deshalb

verfahrensfehlerhaft zur Sache nicht mehr eingelassen hat. Darin liegt zugleich eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör ( § 108 Abs. 2 VwGO; Art. 103 Abs. 1 GG) .

Das Berufungsgericht ist zu Unrecht von der Rechtmäßigkeit der Betreibensaufforderung und damit unzutreffend von der gesetzlichen Fiktion der Verfahrensbeendigung ausgegangen.

§ 81 AsylVfG dient der Beschleunigung von Asylverfahren, an deren Fortführung der Kläger erkennbar kein Interesse mehr hat (vgl. die Gesetzesbegründung zu § 79 des Gesetzentwurfes in BTDrucks 12/2062, S. 42). Ein erkennbar fehlendes Interesse an der Fortführung seiner Klage liegt vor, wenn er durch sein Verhalten berechtigte Zweifel an seinem Rechtsschutzbedürfnis erweckt und diese Zweifel trotz Auffordorung nicht fristgerecht ausräumt.

Dem Kläger muss zur Wahrung seines verfassungsrechtlichen Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) und rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) aber Gelegenheit gegeben werden, die gegen ihn sprechende widerlegliche Vermutung auszuräumen. Dem dient die Betreibensaufforderung nach § 81 Satz 1 AsylVfG, die erst ergehen darf, wenn der Kläger

durch Verstreichenlassen einer gerichtlichen Frist zur Begründung oder zur individuell konkretisierten Ergänzung seines Vorbringens - begründete Anhaltspunkte für Zweifel an seinem Rechtsschutzinteresse gegeben hat (vgl. Urteil vom 23. April 1985, a.a.O. S. 218; Beschluss vom 5. Juli 2000 a.a.O.) .

Wegen des Ausnahmecharakters der in § 81 AsylVfG normierten Klagerücknahmefiktion dürfen die Anforderungen an das Verhalten des Rechtsschutzsuchenden, mit dem dieser sein fortbehendes Interesse an einer gerichtlichen Sachentscheidung zum Ausdruck bringen muss, nicht überspannt werden (BVerfG, Kammerbeschluss vom 27. Oktober 1998- 2 BvR 2662/95 - DVBl 1999, 166).

Im vorliegenden Fall bestanden zum Zeitpunkt der Betreibensaufforderung - am 8. Mai 2000 - keine hinreichend konkreten Zweifel daran, dass das Rechtsschutzinteresse des Klägers entfallen war. Der Kläger hatte seine Klage - wenn auch nur mit wenigen Sätzen - begründet. Sein Prozessbevollmächtigter hatte in der Anfangsphase des Verfahrens auch durch mehrere Schriftsätze deutlich gemacht, dass dem Kläger am Fortgang des Verfahrens gelegen war, um dem Gericht in einer mündlichen Verhandlung seine Verfolgungssituation schildern zu können.

Vor diesem konkreten Hintergrund begründete die im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nach § 80 Abs. 5 VwGO ergangene gerichtliche Entscheidung vom 12. November 1999 zwar einen Umstand, der das Gericht zu Nachfragen im Rahmen des Hauptsacheverfahrens und dazu berechtigte, den Kläger zur Ergänzung seines Vortrags aufzufordern. Das Gericht durfte damit auch zum Ausdruck bringen, dass es die Prozessaussichten des Klägers in der Hauptsache als gering einschätze, wenn er seinen Vortrag nicht ergänze.

Zweifel am Fortbestehen des Rechtsschutzinteresses des Klägers im Sinne des § 81 AsylVfG, ergeben sich daraus aber nicht. Sie wären in dieser Situation und im Hinblick auf die einschneidenden Folgen nur begründet gewesen, wenn der Kläger eine unter Bezugnahme auf die Entscheidung vom 12. November 1999 individuell gefasste Anfrage des Gerichts zur Ergänzung seines Vortrags in bestimmten konkret bezeichneten Punkten innerhalb der gesetzten Frist unbeantwortet gelassen hätte, die für den Fortgang des Verfahrens aus der Sicht des Gerichts erheblich waren.

Dies war jedoch nicht der Fall. Der Kläger hat lediglich auf ein Formularschreiben des Gerichts nicht reagiert, das von diesem offenbar im Anschluss an negative Eilentscheidungen nach § 36 AsylVfG versandt wird. Darin wird darauf hingewiesen, dass eine Auseinandersetzung mit den Gründen des Beschlusses zur weiteren Rechtsverfolgung im Klageverfahren erforderlich erscheint. Ohne Individualisierung und Konkretisierung wird dem Kläger aber nicht deutlich gemacht, dass und warum die Beantwortung der Anfrage von zentraler Bedeutung für das weitere Schicksal seines Rechtsschutzbegehrens sein soll. Wegen der weitgehenden Konsequenzen der in § 81 AsylVfG getroffenen Regelung sind ihrer Auslegung und Anwendung verfassungsrechtliche Grenzen gesetzt, die den Ausnahmecharakter der Vorschrift zu berücksichtigen haben. Dabei dürfen die Anforderungen an die prozessuale Mitwirkung des Klägers im Verfahren nicht überspannt werden (BVerfG, Beschluss vom 19. Mai 1993, a.a.O.; Beschluss vom 27. Oktober 1998, a.a.O.). Eine solche Überspannung stellt es dar, wenn vom Kläger pauschal eine ergänzende Klagebegründung verlangt wird, weil das Gericht im summarischen Eilverfahren die Ablehnung des Asylbegehrens als offensichtlich unbegründet inzident bestätigt hat.