Abschiebungsverbot für Tochter einer alleinerziehenden Mutter mit kleinen Kindern und ohne familiären Anschluss in Pakistan.
(Amtlicher Leitsatz)
[...]
28 Auf sich alleine gestellt, würde es Frau ... bei den derzeitigen gesellschaftlichen, sozialen und wirtschaftlichen Gegebenheiten in Pakistan nicht gelingen, auch nur die elementarsten Bedürfnisse der von ihr vollkommen abhängigen vierjährigen Klägerin zu sichern und sie von extremer materieller Not fernzuhalten. Alleinstehende Frauen haben in Pakistan erhebliche Schwierigkeiten, Arbeit zu finden, mit der sie ihren Lebensunterhalt und gegebenenfalls auch den ihrer Kinder sichern können. Zwar beträgt der Anteil der Frauen an der arbeitenden Bevölkerung Pakistans 30% (vgl. Australian Government Departement of Foreign Affairs and Trade, Country Information Report Pakistan vom 20.02.2019 (im Folgenden: DFOT, Country Information Report Pakistan), Ziffer 2.41 (S. 14): vgl. auch UN Women, Rural Women in Pakistan – Status Report 2018 (im Folgenden: UN Women, Rural Women Report), Abschnitt 1 (S. 1)). Die Möglichkeiten von Frauen, einer Arbeitstätigkeit außerhalb des eigenen Hauses und unabhängig von der eigenen Familie nachzugehen, werden allerdings durch die in vielen Bereichen eingehaltene Trennung von Frauen und nicht verwandten Männern ("purdah") stark eingeschränkt (vgl. UK Home Office, Gender-based violence, Ziffer 2.4.3. (S. 8); DFOT, Country Information Report Pakistan, Ziffer 3.199 (S. 50); vgl. zu Einzelheiten der Organisation im ländlichen Raum UN Women, Rural Women Report, Abschnitt 1 (S. 3 ff.)). Frauen sind auf dem Arbeitsmarkt wie auch im Rechtssystem Diskriminierungen ausgesetzt (vgl. US Department of State, Pakistan 2019 Human Rights Report vom 11.03.2020 (im Folgenden: US DOS, Pakistan Human Rights Report), Kapitel 6 (S. 39)). Die meisten Frauen, die einer Tätigkeit außerhalb des Haus nachgehen, arbeiten unter kaum bis gar nicht abgesicherten Bedingungen im informellen Sektor, hauptsächlich in der Landwirtschaft im ländlichen Raum oder als Haushaltshilfen in städtischen Gebieten (vgl. UK Home Office, Gender-based violence, Ziffer, 4.3.1. f. (S. 20 f.); FOT, Country Information Report Pakistan, Ziffer 3.211 f. (S. 52); UN Women, Rural Women Report, Kapitel 3 (S. 55 ff.). Dementsprechend sind die wirtschaftlichen Hürden für Frauen, die eigene Familie zu verlassen, sehr hoch. Solche Frauen sind, auch wegen des mit dem Verlassen der Familie verbundenen Risikos für die persönliche Sicherheit und sozialen Stigmas, häufig auf (staatliche) Unterstützung für Lebensunterhalt und Unterkunft und/oder Hilfe durch persönliche Netzwerke angewiesen (vgl. DFOT, Country Information Report Pakistan, Ziffer 3.211 f. (S. 52)). Staatliche Sozialhilfeprogramme sind in Pakistan zwar vorhanden, aber hinsichtlich des begünstigten Personenkreises und der ausgeschütteten finanziellen Mittel begrenzt. Bedingungslose finanzielle Zuschüsse an bedürftige Familien werden hauptsächlich unter den Programmen "Benazir Income Support Program" (BISP), "Pakistan Bait-ul-Mal" (PBM) sowie "Zakat" und "Ushr" gewährt (vgl. UN Women, Rural Women Report, Kapitel 7 (S. 115 f.); US Social Security Administration, Social Security Programs Pakistan vom 01.01.2016 (im Folgenden: US SSA, Social Security Programs Pakistan, S. 190), wobei letztere intransparent geführt werden und letztlich nur für Personen mit Zugang zu lokalen (Sozial-) Behörden erreichbar sein sollen (vgl. UN Women, Rural Women Report, Kapitel 7 (S. 116)). Das BISP ist zwar effektiver strukturiert und richtet sich auch gerade an Frauen. Die gewährten bedingungslosen finanziellen Zuschüsse bewegen sich allerdings lediglich im Bereich zwischen 1.000 Rupien pro Monat (vgl. UN Women, Rural Women Report, Kapitel 7 (S. 117, 119); ≈ 7 EUR im Berichtszeitpunkt, ≈ 5 EUR zum jetzigen Zeitpunkt) und 4.700 Rupien im Quartal (vgl. US SSA, Social Security Programs Pakistan, S. 190; ≈ 41 EUR im Berichtszeitpunkt, ≈ 23,50 EUR im jetzigen Zeitpunkt), wohingegen teilweise ein Einkommen von 20.000 bis 30.000 Rupien pro Monat als notwendig erachtet wird, um die wichtigsten Bedürfnisse einer Familie mit zwei Kindern, die keine Miete bezahlen muss, zu sichern (vgl. VG München, Urteil vom 03.02.2017 - M 23 K 16.30049 -, juris Rn. 28 m.w.N.). Staatliche Frauenhäuser existieren in Pakistan für bedrohte Frauen, decken aber den Bedarf nicht und weisen häufig Missstände einschließlich der Gefahr, im Frauenhaus misshandelt und/oder zu der gewalttätigen Familie zurückgeschickt zu werden, auf (vgl. UK Home Office, Gender-based violence, Ziffer 2.5.8 ff. (S. 13); US DOS, Pakistan Human Rights Report, Kapitel 6 (S. 37); BFA, Länderinformationsblatt Pakistan, Ziffer 18.1 (S. 85 f.).; DFOT, Country Information Report Pakistan, Ziffer 3.211 (S. 52)). Es erscheint auch als fraglich, ob Frauen, die (nur) aufgrund einer Liebesheirat ihre Familie verlassen haben, die Aufnahmekriterien erfüllen (vgl. BFA, Länderinformationsblatt Pakistan, Ziffer 18.2 (S. 89 f.)). Private Unterkünfte sind in Pakistan für alleinstehende Frauen schwer erhältlich. Während es in ländlichen Gegenden grundsätzlich nicht sozial akzeptiert ist, dass (insbesondere jüngere) Frauen allein leben, behindern auch in städtischen Gebieten soziale Normen und Sicherheitsprobleme alleinstehende Frauen darin, eine Unterkunft zu finden. Vermieter sind häufig nicht bereit, an alleinstehende Frauen zu vermieten, fordern überhöhte Mieten oder belästigen die Frauen. Einfacher ist die Situation nur für wenige gut ausgebildete Frauen, die über ein hohes Einkommen, Vermögen und/oder familiäre Verbindungen verfügen. Im Allgemeinen sind die gesellschaftlichen Ressentiments gegen alleinstehende Frauen jedoch so weit verbreitet, dass es teilweise als "fast unmöglich" angesehen wird, als Frau in Pakistan alleine zu leben und ökonomisch unabhängig zu sein (vgl. UK Home Office, Gender-based violence, Ziffer, 4.10.2. ff. (S. 28 f.); Immigration and Refugee Board of Canada, Pakistan: Circumstances under which a woman has the legal right to get a divorce through the courts (judicial divorce) through her own initiative; circumstances under which single women can live alone, vom 17.11.2010; Immigration and Refugee Board of Canada, Pakistan: Circumstances under which single women could live alone, vom 04.12.2017).
29 Diese Situation für alleinstehende Frauen hat sich insbesondere in wirtschaftlicher Hinsicht durch die globale Covid-19-Pandemie und ihre Auswirkungen in Pakistan weiter verschärft. Zwar wurden die Schließungen ganzer Wirtschaftszweige mittlerweile weitgehend wieder aufgehoben. Davon wird das Wiederkehren großflächiger Arbeitsmöglichkeiten für die Millionen an Tagelöhnern erhofft. Es gibt allerdings weiterhin eine Vielzahl von kleinräumigen "Lockdowns" – Anfang Juni an 631 Örtlichkeiten – und die pakistanische Planungskommission geht von derzeit 12 bis 18 Millionen zusätzlichen Arbeitslosen infolge der Schließungen und Einschränkungen aus (vgl. Wirtschaftskammer Österreich, Coronavirus: Situation in Pakistan, vom 15.06.2020, www.wko.at/service/aussenwirtschaft/coronavirus-infos-pakistan.html (im Folgenden: WKO, Coronavirus), S. 1 f.). Diese Situation wirkt sich insbesondere auch auf Frauen aus, da sie als Hausangestellte besonders betroffen sind und ihre Verhandlungsposition aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit weiter eingeschränkt ist (vgl. UN Office for the Coordination of Humanitarian Efforts, Pakistan: COVID-19 Situation Report vom 30.07.2020, www.humanitarianresponse.info/sites/www.humanitarianresponse.info/files/documents/files/pakistan_situation_report.-_20200730.pdf (im Folgenden: UN OCHA, Pakistan: COVID-19 Situation Report), Ziffer 1.2.c) (S. 9); UN OCHA, Pakistan Humanitarian Response Plan for COVID-19 Pandemic 2020, www.humanitarianresponse.info/sites/www.humanitarianresponse.info/files/documents/files/globalhumanitresponseplancovid19-200510.v1.pdf, S. 5). Die pakistanische Regierung hat umfängliche Nothilfen beschlossen (vgl. UN OCHA, Pakistan: COVID-19 Situation Report, Ziffer 2.2. (S. 12)), die allerdings teilweise – wie das Konjunkturpaket für das Baugewerbe (vgl. WKO, Coronavirus, S. 3) – auf Industrien mit (nahezu) ausschließlich männlichen Beschäftigten abzielen und teilweise – wie das Nothilfeprogramm EHSAAS – bereits ausgeschüttet wurden (vgl. WKO, a.a.O.).
30 Bei dieser Sachlage erscheint es als ausgeschlossen, dass Frau ... sich und ihre drei Töchter einschließlich der Klägerin in Pakistan in einer auch nur die elementarsten Lebensbedürfnisse befriedigenden Weise würde versorgen können. Bei Frau ... treten zu der allgemein sehr schwierigen Situation für alleinstehende Frauen und alleinerziehende Mütter in Pakistan als erschwerende Faktoren ihre geringe Schulbildung, ihre nicht vorhandene Berufsausbildung oder -erfahrung und der Umstand hinzu, dass insbesondere die Klägerin als vierjähriges Kind noch einer umfangreichen Betreuung bedarf. In Kombination mit der aktuell äußerst angespannten wirtschaftlichen Situation erscheint es als ausgeschlossen, dass Frau ..., wenn sie überhaupt Arbeit finden würde, damit ein für sich und ihre Töchter ausreichendes Einkommen erzielen könnte. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass sie, falls sie überhaupt eine angemessene Unterkunft finden würde, dafür mit hoher Wahrscheinlichkeit – gleichsam als Ausgleich dafür, in ihrer weitgehend nicht akzeptierten Familiensituation überhaupt aufgenommen zu werden – einen überhöhten Mietpreis würde bezahlen müssen. Vor diesem Hintergrund würden auch die allenfalls in sehr geringer Höhe erreichbaren Sozialleistungen und/oder Geldtransfers von ihrer Familie nicht ausreichen, um die Familie einschließlich der Klägerin von extremer materieller Not fernzuhalten. [...]