VG Frankfurt/Oder

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Zitieren als:
VG Frankfurt/Oder, Urteil vom 25.11.2020 - 8 K 1588/16.A - asyl.net: M29510
https://www.asyl.net/rsdb/M29510
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für alleinerziehende afghanische Frau wegen "Verwestlichung":

Frauen, deren Identität infolge eines längeren Aufenthalts in Europa "westlich" geprägt worden ist, drohen in Afghanistan Menschenrechtsverletzungen sowie Diskriminierung (unter Bezug auf OVG Niedersachsen, Urteil vom 21.9.2015 - 9 LB 20/14 (Asylmagazin 11/2015, S. 274 ff.) - asyl.net: <link rsdb m23228>M23228).

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Frauen, alleinerziehend, alleinstehende Frauen, geschlechtsspezifische Verfolgung, westlicher Lebensstil, soziale Gruppe, Flüchtlingsanerkennung,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4, AsylG § 3b Abs. 4b,
Auszüge:

[...]

1) Die Merkmale einer sozialen Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG werden durch die Gruppe der afghanischen Frauen erfüllt, die infolge eines längeren Aufenthalts in Europa in einem solchen Maße in ihrer Identität westlich geprägt worden sind, dass sie nicht mehr in der Lage wären, bei einer Rückkehr nach Afghanistan ihren Lebensstil den dort erwarteten Verhaltensweisen und Traditionen anzupassen.

Denn die Mitglieder dieser Gruppe haben einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann. Dieser ist in dem Aufenthalt im (europäischen) Ausland zu erblicken, der dazu geführt hat, dass die Mitglieder dieser Gruppe entweder sich das nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln zu Afghanistan dort vorherrschende traditionelle Frauenbild gar nicht erst zu eigen machen konnten, weil es ihnen nicht vorgelebt worden ist, oder das bereits erlernte Rollenbild nachhaltig abgelegt haben.

Nach Überzeugung der Kammer hat die Gruppe dieser Frauen in der Islamischen Republik Afghanistan zudem eine deutlich abgegrenzte Identität, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig wahrgenommen wird, § 3b Abs. 4 Buchst. b AsylG. Die gesellschaftliche Position der Frauen und Mädchen in Afghanistan beruht auf einer Vielzahl von Sitten, Normen und Werten, die auf traditionellen Überlieferungen aus Familien, Religion, Stämmen und Gebräuchen beruhen. In der afghanischen Gesellschaft ist die Diskriminierung von Frauen und Mädchen aufgrund des Geschlechts stark verwurzelt. Die Männer sind Autoritätspersonen, die für Schutz, Sicherheit und allgemeine Bedürfnisse der Familie zuständig sind, was stark mit deren Ehrgefühl verbunden ist, während Frauen für das häusliche Leben verantwortlich und dem Mann untergeordnet sind. Frauen benötigen im Allgemeinen eine männliche Begleitperson, einen Kollegen oder Vormund, um sie - jedenfalls außerhalb der Großstädte Kabul, Mazar-e-Sharif und Herat - außerhalb des Hauses zu begleiten. Frauen in Afghanistan halten sich insbesondere in der Öffentlichkeit an strenge gesellschaftliche Beschränkungen in Bezug auf Aussehen, Kleidung und Verhalten (EASO, Country of Origin Information, Report Afghanistan, Individuals targeted under societal and legal norms, Dezember 2017). Demgegenüber werden Frauen, die sich nicht dem dargestellten Rollenbild entsprechend verhalten, von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig wahrgenommen. Dies betrifft Frauen, die nach der öffentlichen Wahrnehmung gegen die sozialen Sitten verstoßen und deren Verhalten als nicht mit den von der Gesellschaft, der Tradition und dem Gesetz auferlegten Geschlechterrollen vereinbar angesehen wird. Hierzu können nicht nur Frauen zählen, die - wie z.B. Parlamentarierinnen, Beamtinnen, Journalistinnen, Anwältinnen, Frauen- und Menschenrechtsaktivistinnen oder Lehrerinnen - Aktivitäten im öffentlichen Leben entfalten und damit dem traditionellen Rollenbild widersprechen und von konservativen Elementen in der Gesellschaft systematisch eingeschüchtert, bedroht, attackiert und gezielt getötet werden (vgl. UK Home Office, Country Policy and Information Note, Afghanistan: Women fearing gender-based violence, Version 3.0, März 2020, S, 28). Vielmehr verstoßen nach der öffentlichen Wahrnehmung in der afghanischen Gesellschaft auch solche Frauen gegen die sozialen Sitten, deren Identität derart westlich geprägt ist, dass ihr Verhalten deutlich vom Rollenbild der Frau in der afghanischen Gesellschaft abweicht (SFH, Afghanistan; Gefährdungsprofile, Update der SFH-Länderanaiyse, 12. September 2019, S. 13). Nach Ansicht des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (vgl. EGMR, Urteil vom 20. Juli 2010 - 23505/09, N. v. Sweden -, HUDOC, Rn. 54 f., m.w.N.) werden afghanische Frauen, die einen weniger konservativen Lebensstil angenommen haben - z.B. solche, die aus dem Exil im Iran oder in Europa zurückgekehrt sind - in der Islamischen Republik Afghanistan nach wie vor als soziale und religiöse Normen überschreitend wahrgenommen und können deshalb Opfer von Gewalt oder anderer Formen der Bestrafung werden, die von der Isolation und Stigmatisierung bis hin zu Ehrenmorden auf Grund der über die Familie, die Gemeinschaft oder den Stamm gebrachte "Schande" reichen können (so auch: Österreichisches Bundesverwaltungsgericht, Erkenntnis vom 31. Juli 2015 - W175 2100068-1 -; Niedersächsisches OVG, Urteil vom 21. September 2015 - 9 LB 20/14 -, juris, Rn. 38).

Allerdings ist die Ablehnung des in Afghanistan gelebten Rollenverständnisses von Frauen nach § 3b Abs. 1 Nr. 4a Halbsatz 1 AsylG nur beachtlich, wenn sie die betreffende Frau in ihrer Identität maßgeblich prägt, d.h. auf einer ernsthaften und nachhaltigen inneren Überzeugung beruht und eine Aufgabe dieser Lebenseinstellung nicht (mehr) möglich oder zumutbar ist. Ob eine in ihrer Identität westlich geprägte afghanische Frau im Fall ihrer Rückkehr in die Islamische Republik Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG ausgesetzt ist, bedarf einer umfassenden Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalls. Dabei ist die individuelle Situation der Frau nach Ihrem regionalen und sozialen, insbesondere dem familiären Hintergrund zu beurteilen. Denn die Faktoren Kultur, Wirtschaft, Geographie, Ethnie und Religion bestimmen die soziale Position der Frauen wesentlich (DK Home Office, Country Policy and Information Note Afghanistan: Women fearing gender-based violence, März 2020, S. 14 unter Berufung auf eine Information des Niederländischen Außenministeriums). Insbesondere ist zu berücksichtigen, ob und inwieweit die betreffende afghanische Frau voraussichtlich durch einen Familien- oder Stammesverbund vor Verfolgungsmaßnahmen geschützt werden kann. Eine Verfolgungsgefahr besteht vor allem für alleinstehende Frauen und Frauen ohne männlichen Schutz (Niedersächsisches OVG, Urteil vom 21, September 2015 - 9 LB 20/14 -, juris, Rn. 38 ff. m.w.N.).

2.) Die Klägerin gehört der so beschriebenen sozialen Gruppe an. [...]