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OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Urteil vom 18.02.2021 - 13 LB 269/19 - asyl.net: M29424
https://www.asyl.net/rsdb/M29424
Leitsatz:

Nachträgliche Verkürzung der Geltungsdauer eines aufenthaltsrechtlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots:

"1. § 11 Abs. 4 AufenthG ist eine spezielle Rechtsgrundlage für die nachträgliche Verlängerung oder Verkürzung der Frist und auch für die Aufhebung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots, die einen Rückgriff auf die allgemeinen Regelungen des Verwaltungsverfahrensgesetzes ausschließt.

2. Die für die (erstmalige) Befristung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 3 und 5 ff. AufenthG entwickelten Maßstäbe sind auch bei der Entscheidung über die Aufhebung oder Verkürzung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 4 Satz 1 AufenthG anzuwenden.

3. § 11 Abs. 4 Satz 1 Alt. 2 AufenthG erfordert unter Berücksichtigung aller aktuellen tatsächlichen Erkenntnisse, die nicht notwendig "neu" sein müssen, eine Beurteilung, ob die Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots geboten ist, weil der mit der konkret verfügten Ausweisung verfolgte Zweck bereits erreicht oder entfallen ist. Bejahendenfalls ist das bestehende und zu überprüfende Einreise- und Aufenthalts­verbot aufzuheben. Das Ermessen der Ausländerbehörde ist insoweit reduziert. Verneinendenfalls ist zu beurteilen, ob der mit der konkret verfügten Ausweisung verfolgte Zweck voraussichtlich vor Ablauf der Dauer des bestehenden und zu überprüfenden Einreise- und Aufenthaltsverbots erreicht sein wird. Ist dies der Fall, steht es im Ermessen der Ausländerbehörde, die Dauer des bestehenden Einreise- und Aufenthaltsverbots entsprechend zu verkürzen."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Straftat, Ausweisung, Einreise- und Aufenthaltsverbot, Abschiebung, nachträgliche Befristung, nachträgliche Verkürzung,
Normen: AufenthG § 11 Abs. 4, AufenthG § 11 Abs. 3, AufenthG § 11 Abs. 5,
Auszüge:

[...]

36 2. Nach § 11 Abs. 4 des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz - AufenthG) in der danach maßgeblichen, zuletzt durch Gesetz vom 9. Dezember 2020 (BGBl. I S. 2855) geänderten Fassung kann das Einreise- und Aufenthaltsverbot zur Wahrung schutzwürdiger Belange des Ausländers oder, soweit es der Zweck des Einreise- und Aufenthaltsverbots nicht mehr erfordert, aufgehoben oder die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots verkürzt werden (Satz 1). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot soll aufgehoben werden, wenn die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach Kapitel 2 Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes vorliegen (Satz 2). Bei der Entscheidung über die Verkürzung der Frist oder die Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots, das zusammen mit einer Ausweisung erlassen wurde, ist zu berücksichtigen, ob der Ausländer seiner Ausreisepflicht innerhalb der ihm gesetzten Ausreisefrist nachgekommen ist, es sei denn, der Ausländer war unverschuldet an der Ausreise gehindert oder die Überschreitung der Ausreisefrist war nicht erheblich (Satz 3). Über die Verkürzung wird nach Ermessen entschieden (Satz 5 in Verbindung mit Abs. 3 Satz 1).

37 Mit diesen Bestimmungen hat der Gesetzgeber eine spezielle Rechtsgrundlage für die nachträgliche Verlängerung oder Verkürzung der Frist und auch für die Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots geschaffen, die einen Rückgriff auf die allgemeinen Regelungen des Verwaltungsverfahrensgesetzes ausschließt (vgl. Senatsbeschl. v. 14.6.2018 - 13 ME 208/18 -, juris Rn. 6; Funke-Kaiser, in: GK-AufenthG, § 11 Rn. 161 (Stand: März 2020)).

39 (1) Nach § 11 Abs. 4 Satz 1 AufenthG kann das Einreise- und Aufenthaltsverbot zur Wahrung schutzwürdiger Belange des Ausländers (b) oder, soweit es der Zweck des Einreise- und Aufenthaltsverbots nicht mehr erfordert, (a) aufgehoben oder die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots verkürzt werden.

40 (a) Nach dieser Bestimmung ist eine Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots (anstelle einer Verkürzung der Geltungsdauer auf den Jetztzeitpunkt bzw. auf "Null", vgl. BVerwG, Urt. v. 22.2.2017 - BVerwG 1 C 27.16 -, BVerwGE 157, 356, 359 f. - juris Rn. 15; Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 30.6.2016 - 11 LA 261/15 -, juris Rn. 14; Dollinger, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, AufenthG, § 11 Rn. 82; Funke-Kaiser, in: GK-AufenthG, § 11 Rn. 175 (Stand: März 2020)) dann angezeigt, wenn die mit der Ausweisung verfolgten spezial- oder generalpräventiven Gründe es nicht mehr erfordern, mithin der mit der konkret verfügten Ausweisung verfolgte Zweck erreicht oder entfallen ist (vgl. Senatsbeschl. v. 14.6.2018 - 13 ME 208/18 -, juris Rn. 6; OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 12.7.2017 - 11 B 9.16 -, juris Rn. 16; Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung, BT-Drs. 18/4097, S. 36 f.).

41 Dieser Tatbestand des § 11 Abs. 4 Satz 1 AufenthG nimmt Bezug auf den bei der erstmaligen Fristbemessung nach § 11 Abs. 2 Satz 3, Abs. 3 und Abs. 5 ff. AufenthG vorzunehmenden 1. Prüfungsschritt (vgl. zur Systematik der Fristbemessung: BVerwG, Urt. v. 22.2.2017 - BVerwG 1 C 27.16 -, BVerwGE 157, 356, 363 f. - juris Rn. 23; VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 9.12.2015 - 11 S 1857/15 -, juris Rn. 33; Niedersächsisches OVG, Urt. v. 14.2.2013 - 8 LC 129/12 -, juris Rn. 50 ff.), in dem zu prognostizieren ist, wie lange die mit der konkret verfügten Ausweisung verfolgten Zwecke (vgl. Bayerischer VGH, Urt. v. 26.3.2009 - 19 ZB 09.498 -, juris Rn. 2; VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 26.3.2003 - 11 S 59/03 -, juris Rn. 32 m.w.N.) eine Fernhaltung des Ausländers vom Bundesgebiet erfordern ("Zweckerreichung als Fristobergrenze"). Ist die Ausweisung zu spezialpräventiven Zwecken erfolgt, stellt sich die Frage, für welche Dauer von dem Ausländer die Gefahr einer Wiederholung bzw. Fortdauer der Ausweisungsgründe ausgeht. Ist die Ausweisung zu generalpräventiven Zwecken erfolgt, stellt sich die Frage, wann die Abschreckungswirkung erreicht bzw. verbraucht ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 6.3.2014 - BVerwG 1 C 2.13 -, juris Rn. 12; Urt. v. 10.7.2012 - BVerwG 1 C 19.11 -, juris Rn. 32 f. und 42). Bei der Beantwortung sind - ungeachtet der tatsächlichen Schwierigkeiten, die mit der geforderten Bestimmung eines solchen Endzeitpunktes regelmäßig verbunden sein werden - insbesondere das Gewicht des Ausweisungsgrundes, das Verhalten des Ausländers nach der Ausweisung, das Ausmaß der von dem Ausländer konkret ausgehenden Gefahr und die Vorhersehbarkeit der zukünftigen Entwicklung dieser Gefahr zu berücksichtigen (vgl. BVerwG, Urt. v. 10.7.2012 - BVerwG 1 C 19.11 -, juris Rn. 32 f. und 42; Niedersächsisches OVG, Urt. v. 14.2.2013 - 8 LC 129/12 -, juris Rn. 50). Ergänzend ist der durch § 11 Abs. 3 Satz 2 und Abs. 5 ff. AufenthG gezogene Rahmen zu beachten. Danach darf die Dauer des Einreise- und Aufenthaltsverbots grundsätzlich fünf Jahre nicht überschreiten (§ 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG). Die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots soll zehn Jahre nicht überschreiten, wenn der Ausländer auf Grund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht (§ 11 Abs. 5 Satz 1 AufenthG). Die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots soll zwanzig Jahre betragen, wenn der Ausländer wegen eines Verbrechens gegen den Frieden, eines Kriegsverbrechens oder eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit oder zur Abwehr einer Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder einer terroristischen Gefahr ausgewiesen wurde (§ 11 Abs. 5a Satz 1 AufenthG).

42 Diese Maßstäbe sind auch bei der Entscheidung über die Aufhebung oder Verkürzung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 4 Satz 1 AufenthG anzuwenden. Unter Berücksichtigung aller aktuellen tatsächlichen Erkenntnisse, die nicht notwendig "neu" sein müssen (vgl. Senatsbeschl. v. 20.11.2020 - 13 ME 374/20 -, juris Rn. 10), ist zu beurteilen, ob eine Aufhebung des bestehenden und zu überprüfenden Einreise- und Aufenthaltsverbots geboten ist, weil der mit der konkret verfügten Ausweisung verfolgte Zweck bereits erreicht oder entfallen ist. Bejahendenfalls ist das Einreise- und Aufenthaltsverbot aufzuheben. Das Ermessen der Ausländerbehörde ist insoweit reduziert (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 21.11.2016 - 11 S 1656/16 -, juris Rn. 30; Dollinger, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, AufenthG, § 11 Rn. 84; Funke-Kaiser, in: GK-AufenthG, § 11 Rn. 177 (Stand: März 2020)). Verneinendenfalls ist zu beurteilen, ob der mit der konkret verfügten Ausweisung verfolgte Zweck voraussichtlich vor Ablauf der Dauer des bestehenden und zu überprüfenden Einreise- und Aufenthaltsverbots erreicht sein wird. Ist dies der Fall, steht es im Ermessen der Ausländerbehörde, die Dauer des bestehenden Einreise- und Aufenthaltsverbots entsprechend zu verkürzen. [...]