Kindeswohl bei Erlass einer Rückkehrentscheidung gegen Elternteil zu beachten:
1. Nach Art. 5 Buchst. der Rückführungsrichtlinie RL 2008/115 EG ist bei der Umsetzung der Richtlinie das Kindeswohl zu berücksichtigen.
2. Hierbei handelt es sich um einen allgemeinen Grundsatz in der Anwendung der Richtlinie. Das Kinderwohl ist also nicht nur dann zu berücksichtigen, wenn eine Rückkehrentscheidung gegenüber einer minderjährigen Person ergeht. Vielmehr ist es auch dann zu beachten, wenn die Rückkehrentscheidung sich gegen die Eltern einer minderjährigen Person richtet.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
19 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 5 in Verbindung mit Art. 13 der Richtlinie 2008/115 und mit den Art. 24 und 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass die Mitgliedstaaten vor Erlass einer mit einem Einreiseverbot verbundenen Rückkehrentscheidung das Wohl des Kindes gebührend zu berücksichtigen haben, selbst wenn es sich beim Adressaten der Entscheidung nicht um einen Minderjährigen, sondern um dessen Vater handelt. [...]
30 Fällt ein Drittstaatsangehöriger in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2008/115, ist er grundsätzlich den darin vorgesehenen gemeinsamen Normen und Verfahren im Hinblick auf seine Abschiebung zu unterwerfen, sofern sein Aufenthalt nicht gegebenenfalls legalisiert wurde (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 7. Juni 2016, Affum, C-47/15, EU:C:2016:408, Rn. 61, sowie vom 19. März 2019, Arib u. a., C-444/17, EU:C:2019:220, Rn. 39).
31 Bei deren Umsetzung haben die Mitgliedstaaten gemäß Art. 5 Buchst. a der Richtlinie 2008/115 das Wohl des Kindes gebührend zu berücksichtigen.
32 Nach dem Wortlaut dieser Vorschrift handelt es sich dabei um eine allgemeine Regel, die die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Richtlinie unmittelbar zu beachten haben, also etwa dann, wenn wie im vorliegenden Fall die zuständige nationale Behörde gegen einen Drittstaatsangehörigen, der sich illegal auf dem Gebiet des betreffenden Mitgliedstaats aufhält und außerdem Vater eines minderjährigen Kindes ist, das sich legal dort aufhält, eine mit einem Einreiseverbot verbundene Rückkehrentscheidung erlässt.
33 Wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, lässt sich daher aus dieser Vorschrift nicht ableiten, dass das Kindeswohl nur dann zu berücksichtigen ist, wenn die Rückkehrentscheidung gegen einen Minderjährigen ergeht und nicht auch dann, wenn sie gegen seine Eltern ergeht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Mai 2018, K.A. u. a. [Familienzusammenführung in Belgien], C-82/16, EU:C:2018:308, Rn. 107).
34 Diese Auslegung steht im Einklang mit dem von Art. 5 der Richtlinie 2008/115 verfolgten Zweck und mit deren Systematik.
35 Was als Erstes den Zweck von Art. 5 der Richtlinie 2008/115 betrifft, so soll damit zum einen – wie in den Erwägungsgründen 22 und 24 der Richtlinie bestätigt wird – im Rahmen des mit der Richtlinie eingeführten Rückkehrverfahrens die Einhaltung mehrerer Grundrechte gewährleistet werden, u. a. die in Art. 24 der Charta verankerten Grundrechte des Kindes. Angesichts dieses Zwecks kann Art. 5 nicht eng ausgelegt werden (vgl. entsprechend Urteile vom 14. Februar 2019, Buivids, C-345/17, EU:C:2019:122, Rn. 51, und vom 26. März 2019, SM [Unter algerische Kafala gestelltes Kind], C-129/18, EU:C:2019:248, Rn. 53).
36 Zum anderen sieht Art. 24 Abs. 2 der Charta vor, dass bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher Stellen oder privater Einrichtungen das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein muss. Diese Vorschrift ist also an sich schon weit gefasst und auf Entscheidungen anwendbar, die – wie etwa eine gegen einen Drittstaatsangehörigen, der Vater eines Minderjährigen ist, erlassene Rückkehrentscheidung – nicht an den Minderjährigen gerichtet sind, aber weitreichende Folgen für ihn haben. [...]
43 Nach alledem ist Art. 5 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit Art. 24 der Charta dahin auszulegen, dass die Mitgliedstaaten vor Erlass einer mit einem Einreiseverbot verbundenen Rückkehrentscheidung das Wohl des Kindes gebührend zu berücksichtigen haben, selbst wenn es sich beim Adressaten der Entscheidung nicht um einen Minderjährigen, sondern um dessen Vater handelt. [...]