LSG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 19.11.2020 - L 19 AS 212/20 - asyl.net: M29400
https://www.asyl.net/rsdb/M29400
Leitsatz:

Kein Leistungsausschluss für drittstaatsangehörige Halbgeschwister von minderjährigen Deutschen:

1. Nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II sind drittstaatsangehörige Personen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts in der Bundesrepublik vom Leistungsbezug nach SGB II ausgeschlossen, wenn sie weder Arbeitnehmer*innen oder Selbstständige noch freizügigkeitsberechtigt sind.

2. Der Leistungsausschluss greift jedoch nicht ein, wenn die betroffenen Personen Familienangehörige von deutschen Staatsangehörigen sind und einen Aufenthaltstitel zum Zwecke des Familiennachzugs besitzen.

3. Als Familienangehörige in diesem Sinn sind auch Familienangehörige in der Seitenlinie zu verstehen (hier Halbgeschwister eines deutschen Staatsangehörigen), die ihr Aufenthaltsrecht nicht unmittelbar von deutschen Staatsangehörigen ableiten.

(Leitsätze der Redaktion)

Siehe auch:

Schlagwörter: Sozialrecht, Familienangehörige, Familienzusammenführung, Leistungsausschluss, Halbgeschwister, Familiennachzug, SGB II, Familienangehörige Deutscher, Familienangehörige deutscher Staatsangehöriger,
Normen: GG Art. 6, SGB II § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1, AufenthG § 28 Abs. 4, BGB § 1589 S. 2,
Auszüge:

[...]

Die Kläger haben für den Zeitraum 01.09.2015 bis 05.10.2016 einen Anspruch auf Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II.

Entgegen der Auffassung des Beklagten waren die beiden Kläger - unabhängig davon, ob der Leistungsauschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II zu ihren Ungunsten eingreift - im streitbefangenen Zeitraum Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft, bestehend aus Herrn ..., Frau ... und deren drei Kindern nach § 7 Abs. 3 Nrn. 1, 3c und 4. SGB II. Herr .... und Frau ... bildeten eine Verantwortungs- und Einstandsgemeinschaft i.S.v. § 7 Abs. 3 Nr. 1, 3c und Abs. 3a Nr. 2 SGB II. Die drei Kinder von Frau ... gehörten dem Haushalt von Herrn ... und Frau ... an und verfügten über kein Einkommen oder Vermögen, das ihren Lebensunterhalt vollständig deckte. Insoweit nahm Herr S. gegenüber den beiden Klägern die Funktion eines faktischen Stiefvaters wahr (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 13.11.2008 - B 14 AS 2/08 R). [...]

Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II (i.d.F. des Gesetzes vom 20.12.2011, BGBl I 2854 mit Wirkung zum 01.04.2012) greift zu Ungunsten der Kläger im streitigen Zeitraum 01.09.2015 bis 05.10.2015 nicht ein. Danach sind vom Leistungsbezug nach dem SGB II ausgenommen Ausländerinnen und Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer oder Selbstständige noch aufgrund des § 2 Abs. 3 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts.

Zwar hielten sich die Kläger (als Ausländer im Sinne der o.g. Vorschrift) im streitbefangenen Zeitraum erst weniger als drei Monate im Bundesgebiet auf. Die Vorschrift des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II a.F. ist aber dahingehend einschränkend auszulegen, dass der Familienangehörige eines Deutschen, der einen Aufenthaltstitel nach den Bestimmungen des Sechsten Abschnitts des Zweiten Kapitels des AufenthG - Aufenthalt aus familiären Gründen - besitzt oder zum Zweck des Familiennachzuges von einer deutschen Botschaft ein nationales Visum (D-Visum) nach § 6 Abs. 3 AufenthG in Verbindung mit §§ 27 ff. AufenthG ausgestellt worden ist, von dieser Regelung nicht erfasst wird. Eine einschränkende Auslegung im Wege einer teleologischen Reduktion ist vorzunehmen, wenn die auszulegende Vorschrift auf einen Teil der vom Wortlaut erfassten Fälle nicht angewandt werden soll, weil Sinn und Zweck der Norm, ihre Entstehungsgeschichte und der Gesamtzusammenhang der einschlägigen Regelungen gegen eine uneingeschränkte Anwendung sprechen (BSG, Urteil vom 11.07.2019 - B 14 AS 44/18 R m.w.N.). Der Senat schließt sich nach eigener Prüfung der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Urteil vom 30.01.2013 - B 4 AS 37/12 R) an, wonach aus dem der Entstehungsgeschichte herzuleitenden Zweck und systematischen Erwägungen die Rechtsposition von Drittstaatsangehörigen - wie die Kläger -, die im Rahmen eines Familiennachzugs zu einem deutschen Staatsangehörigen in die Bundesrepublik ziehen, durch die Einführung des Leistungsausschlusses des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II nicht beeinträchtigt werden sollte. [...]

Der Senat folgt nicht der Auffassung des Beklagten, wonach nur Familienangehörige eines Deutschen i.S.v. § 3 Abs. 2 FreizügG/EU (i.d.F. des Gesetzes vom 02.12.2014, BGB I 1922 mit Wirkung zum 09.12.2014) vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II nicht erfasst sind, jedoch Familienangehörige eines Deutschen in der Seitenlinie, also sonstige Familienangehörige i.S.v. § 28 Abs. 4 AufenthG, auch wenn ihnen ein Aufenthaltstitel nach den Bestimmungen des Sechsten Abschnitts des Zweiten Kapitels des AufenthG zum Zwecke des Familiennachzugs erteilt worden ist - vom Leistungsauschluss erfasst werden.

Das Aufenthaltsgesetz behandelt im Sechsten Abschnitt des Zweiten Kapitels den Aufenthalt von Ausländern in Deutschland aus familiären Gründen. Dabei regeln die §§ 28-30, 32,33 und 36 Abs. 1 AufenthG die Voraussetzung für eine Familienzusammenführung zwischen Ehegatten, Eltern und Kindern und unterscheiden zusätzlich danach, ob das in Deutschland lebende Familienmitglied die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt oder nicht. Insoweit werden bei Erteilung solcher Aufenthaltserlaubnisse die fiskalischen Interessen der Bundesrepublik mit den durch Art. 6 Abs. 1 und 2 GG, Art. 8 EMRK gewährleisteten Schutz der Familiengemeinschaft miteinander abgewogen (BVerwG, Urteil vom 30.07.2013 - 1 C 15/12). Der Gesetzgeber wollte das fiskalische Interesse der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen der Erteilung eines Aufenthaltstitels berücksichtigen, jedoch nicht durch die erfolgte Umsetzung der EU-Richtlinien zur Änderung des § 7 Abs. 1 S 2 SGB II in die Rechtsposition von Drittstaatsangehörigen, die im Rahmen des Familiennachzugs nach Deutschland einreisen, ändern. Eine abweichende Regelungsabsicht hätte der Gesetzgeber in den Gesetzesmaterialien zu erkennen gegeben. Es ist nicht ersichtlich ist, dass der Gesetzgeber einen Familiennachzug eines Drittstaatsangehörigen zu einem Deutschen aufenthaltsrechtlich gestatten wollte, anderseits ein solcher Nachzug vom SGB II leistungsrechtlich sanktioniert werden sollte (BSG, Urteil vom 30.01. 2013 - B 4 AS 37/12 R; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 24.01.2017 - L 9 AS 3548/16). [...]