Keine niedrigere Bedarfsstufe bei alleinstehenden Leistungsberechtigten in einer Gemeinschaftsunterkunft:
"1. Es bestehen erhebliche Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit der in § 3a Abs. 1 Nr. 2 Buchst b und § 3a Abs. 2 Nr. 2 Buchst b AsylbLG geregelten Bedarfsstufen für erwachsene Leistungsberechtigte ohne Partner, die in Aufnahmeeinrichtungen, Gemeinschaftseinkünften oder vergleichbaren Unterkünften untergebracht sind.
2. Eine verfassungskonforme Auslegung der Norm gebietet, dass als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal die tatsächliche und nachweisbare gemeinschaftliche Haushaltsführung des Leistungsberechtigten mit anderen in der Sammelunterkunft Untergebrachten vorausgesetzt wird, wofür die objektive Beweislast (und im Eilverfahren die Darlegungslast) beim Leistungsträger liegt [...]."
(Amtliche Leitsätze; sich anschließend an LSG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 11.05.2020 - L 9 AY 22/19 B ER - asyl.net: M28511)
[...]
21 Die Beschwerde hat Erfolg, weil das SG Stralsund den Eilantrag des Antragstellers zu Unrecht abgewiesen hat. Der Senat hält an seiner Rechtsprechung fest, dass erhebliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit einer undifferenzierten Anwendung der in § 3a Asylbewerberleistungsgesetz geregelten neuen Bedarfsstufe für erwachsene Leistungsberechtigte bestehen, die in Aufnahmeeinrichtungen, Gemeinschaftsunterkünften und vergleichbaren Unterkünften untergebracht sind. Eine verfassungskonforme Auslegung dieser Norm gebietet es daher, dass als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal die tatsächliche und nachweisbare gemeinschaftliche Haushaltsführung des Leistungsberechtigten mit anderen in der Sammelunterkunft Untergebrachten vorauszusetzen ist, wofür die objektive Beweislast (im Eilverfahren die Darlegungslast) beim Leistungsträger (hier: dem Antragsgegner) liegt (vergl. Beschlüsse des Senats vom 11. Mai 2020 – L 9 AY 22/19 B ER – und vom 23. Juli 2020 – L 9 AY 3/20 B ER –).
22 Für ein gemeinsames Wirtschaften des Antragstellers mit anderen in der Gemeinschaftsunterkunft untergebrachten Personen hat der Antragsgegner nichts vorgetragen und ist auch nach Aktenlage nichts ersichtlich.
23 Der Hinweis des Sozialgerichts auf den Beschluss des LSG Niedersachsen-Bremen vom 9. Juli 2020 – L 8 AY 52/20 B ER – veranlasst den Senat nicht, von seiner bisherigen Rechtsprechung – jedenfalls in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes – abzuweichen, zumal auch das LSG Niedersachsen-Bremen in seinem Beschluss Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der streitgegenständlichen Normen deutlich macht. So heißt es unter Rn. 31 (zitiert nach juris): "Ob der Gesetzgeber bei der Bemessung der lebensunterhaltssichernden Geldleistungen nach § 3a Abs. 1 Nr. 2b, Abs. 2 Nr. 2b Asylbewerberleistungsgesetz die soziale Wirklichkeit zeit- und realitätsgerecht im Hinblick auf die Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG) richtig erfasst und auch im Übrigen die Vorgaben der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts an ein inhaltlich transparentes und sachgerechtes Verfahren folgerichtig ausgerichtet nach dem tatsächlichen und jeweils aktuellen Bedarf, also realitätsgerecht, beachtet hat, ist [...] in besonderer Weise zweifelhaft."
24 Der Senat hält im Hinblick auf die Rechtsfolge der von ihm geteilten Zweifel an seiner Auffassung fest, dass die Bedarfsstufe 2 als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal die tatsächliche und nachweisbare gemeinschaftliche Haushaltsführung des Leistungsberechtigten mit anderen in der Sammelunterkunft Untergebrachten voraussetzt. Die Auslegung der einschlägigen Vorschriften durch den Senat überschreitet auch nicht die Grenzen zulässiger Gesetzesauslegung. Zu den anerkannten Auslegungsmethoden gehört neben der Auslegung von Wortlaut, Entstehungsgeschichte, Gesamtzusammenhang und Sinn und Zweck der Gesetzesregelung auch eine sogenannte verfassungskonforme Auslegung. Zwar findet diese in der Tat ihre Grenze dort, wo sie mit Wortlaut und klar erkennbarem Willen des Gesetzes in Widerspruch treten würde. Wenn allerdings von mehreren möglichen Deutungen eine zu einem verfassungsgemäßen Ergebnis führt, so ist diese geboten. Dabei gehört auch eine sog. teleologische Reduktion von Vorschriften entgegen ihrem Wortlaut zu den anerkannten, verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden Auslegungsgrundsätzen (vergl. Bundesverfassungsgericht, BVerfGE 35, 263, 279 f.; 88, 14, 166 f.). Der Senat hat in seinen Entscheidungen dargelegt, dass er die Vorschrift im Sinne einer teleologischen Reduktion für auslegungsfähig hält und damit die Vorschrift verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist. Da damit ein verfassungswidriges Ergebnis vermeidbar ist, ist diese Auslegung geboten und führt auch dazu, dass eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht vermieden werden kann (vergl. BVerfGE 86, 71, 77). Die Prüfung möglicher verfassungskonformer Auslegung und Vermeidung von Vorlagen des Bundesverfassungsgerichts ist gerade primäre Aufgabe der Instanzgerichte. Dieser Verantwortung gilt es auch in einem Eilverfahren gerecht zu werden und nicht erst in einem Hauptsacheverfahren, da ansonsten kein effektiver vorläufiger Rechtsschutz garantiert ist. Der verfassungsrechtliche Justizgewährungsanspruch fordert vom Richter, den Rechtsstreit so zu behandeln, dass eine Verzögerung durch Anrufen des Bundesverfassungsgerichts nach Möglichkeit vermieden wird (vergl. BVerfGE 78,165, 178).
25 Der Senat ist auch weiterhin der Auffassung, dass auch vorliegend ein Anordnungsgrund besteht. Die Bejahung des Anordnungsgrundes beruht auf der Erwägung, dass die Anforderungen an den Anordnungsgrund bei dieser existenzsichernden Leistung auf allerniedrigstem Niveau der denkbaren Sozialleistungen in der Bundesrepublik Deutschland nicht übertrieben hoch angesetzt werden dürfen. Die Anforderungen an den Anordnungsgrund sind hier gering zu bemessen, da der Senat den Anordnungsanspruch mit überwiegender Wahrscheinlichkeit als gegeben ansieht. Der Senat teilt nicht die vom SG und dem Antragsgegner vertretene Rechtsauffassung, der Unterhalt sei durch die niedrigeren laufenden Leistungen gesichert und einem Hauptsacheverfahren dürfe nicht vorgegriffen werden. Dies würde angesichts der üblichen sozialgerichtlichen Verfahrenslaufzeiten eine Verweigerung effektiven vorläufigen Rechtsschutzes bedeuten. Die hier streitige monatliche Differenz von 35,- €, die mehr als 10 % des derzeit bewilligten Regelbedarfs ausmacht, genügt jedenfalls, um eine Eilbedürftigkeit zu begründen. [...]