Pflichtverteidigung bei Bagatelldelikt wegen drohenden Aufenthaltsverlusts:
1. Bei der Entscheidung, ob einer Person aufgrund der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolgen nach § 140 Abs. 2 StPO eine Pflichtverteidigung beizuordnen ist, sind auch die Konsequenzen für den Fortbestand des Aufenthaltsrechts zu berücksichtigen.
2. Droht einer Person wegen eines Bagatelldelikts (hier: Erschleichen von Leistungen) eine Geldstrafe, so ist ihr wegen der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolgen eine Pflichtverteidigung beizuordnen, wenn die Verurteilung Konsequenzen für den Fortbestand des Aufenthaltsrechts hätte.
3. Bei Besitz einer Ausbildungsduldung droht bei einer Verurteilung zu einer Geldstrafe von über 50 Tagessätzen nach § 60c Abs. 2 Nr. 4, Abs. 4 i.V.m. § 19d Abs. 1 Nr. 7 unmittelbar das Erlöschen der Ausbildungsduldung kraft Gesetzes. Dies stellt einen verurteilungsbedingten Nachteil im obigen Sinne dar. Dem steht nicht entgegen, dass der Fortbestand des Bleiberechts noch ungewiss ist. Denn auch bei Abbruch der Ausbildung besteht ein Anspruch auf Neuerteilung für sechs Monate zur Suche nach einem neuen Ausbildungsplatz nach § 60c Abs. 6 S. 1 AufenthG.
(Leitsätze der Redaktion)
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Dem Beschuldigten ist gem. § 140 Abs. 2 StPO wegen der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge ein Pflichtverteidiger beizuordnen.
Es ist allgemein anerkannt, dass bei der Bestimmung der Schwere der Rechtsfolgen auch sonstige schwerwiegende Nachteile, die der Beschuldigte infolge einer Verurteilung zu gegenwärtigen hätte, in die Beurteilung einfließen (vgl. nur Meyer-Großner/Schmitt, StPO, 63. Aufl. 2020, § 140 Rn. 23c). Als solche sind insbesondere auch ausländerrechtliche Konsequenzen für den Fortbestand des Aufenthaltsrechts von Ausländern anerkannt (KG, Beschl. v. 26.01.2000, Az. 4 Ws 18/00 Rn. 5; vgl. auch OLG Stuttgart, Beschl. v. 20.05.2010, Az. 2 Ws 76/10 Rn. 6; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 12.04.2002, Az. 3 Ss 23/02 Rn. 13 – jew. zit. nach juris). Vorliegend droht dem Beschuldigten im Fall der Festsetzung der beantragten Geldstrafe gem. § 60c Abs. 2 Nr. 4, Abs. 4 AufenthG i.V.m. § 19d Abs. 1 Nr. 7 AufenthG unmittelbar kraft Gesetzes das Erlöschen seiner Ausbildungsduldung, die in ihrer ausländerrechtlichen Wirkungen einem echten Aufenthaltstitel angenähert ist, da er dann insgesamt zu einer Geldstrafe von über 50 Tagessätzen verurteilt wäre.
Der Schwere eines verurteilungsbedingt drohenden Nachteils steht vorliegend auch nicht entgegen, dass die Duldung ohnehin nur noch für einen geringen Zeitraum bis zum 28.01.2021 erteilt ist und der Fortbestand des Bleiberechts (entweder durch nochmalige Verlängerung oder Überführung in eine Aufenthaltserlaubnis nach § 19d Abs. 1 lit. a) AufenthG) derzeit noch ungewiss ist. Denn auch wenn das Ausbildungsverhältnis, welches sich gem. § 21 Abs. 3 BBiG bis zum Nachprüfungstermin verlängert hat, nunmehr durch Nichtbestehen der Nachprüfung nun erst abgebrochen wird, hat der Beschuldigten gem. § 60d Abs. 6 S. 1 AufenthG einen rechtlich gebundenen Anspruch auf die Erteilung einer Duldung für sechs Monate zum Zweck der Suche nach einem weiteren Ausbildungsplatz, welcher ihm bei rechtskräftiger Festsetzung der im Strafbefehls beantragten Rechtsfolge genommen würde. [...]